Читать книгу Die Sternschnuppenkinder - Band 5 - Rebecca Netzel - Страница 4
ОглавлениеEndspurt zum Abi!
Renate Liedke ist es nicht nach Faschingskrapfen und Luftschlangen zumute. Die schriftlichen Prüfungen im Abi stehen an, und Renate kann schon lange nicht mehr ruhig schlafen. Ihr ist es ewig schlecht, und sie ist so nervös geworden, dass ihre Mutter sagt: »Ich sehe das nicht mehr länger mit an, Reni! Du bist so hibbelig, als würdest du unter Strom stehen, ewig klagst du über Bauchschmerzen, und eine Erdbeer-Allergie hast du früher auch nicht gehabt! Jetzt nimmst du mal für eine Weile Baldrian!«
Die Baldrian-Tropfen stinken so merkwürdig, dass ihre Katze Prinzesschen, wenn sie mit nach Göttingen umgezogen wäre, verzückt anfangen würde zu singen, denn Katzen lieben Baldrian. Reni aber schluckt die Tropfen in einem Glas Wasser nur mit einem »Brrrr!« Die schmecken so widerwärtig – da muss man sich ja schütteln! Und Mama hat ihr gleich dreißig Tropfen ins Wasserglas hineingeträufelt. Aber besser Baldrian als schwere Beruhigungsmittel. Eine Schulkameradin hat Renate erzählt, sie würde sogar heimlich »schwere Geschütze« nehmen, und das ist natürlich schlimm. – »Mama, nächstens kaufst du aber bitte Baldrian-Dragees, die schmecken nicht so komisch …!«
Reni ist sicher, sie wird durchs Abi fallen. Sie starrt auf die Bücher und weiß nicht mehr, was sie da eigentlich liest, sie wiederholt die Themen und ist fest davon überzeugt, sie hat alles vergessen. All das, was sie je gewusst hat, ist auf einmal fort. Immer wieder schlägt sie Hefte und Bücher auf, stöhnt »Ach ja – natürlich!« und ist mit sich unzufrieden. Ja, was sie sich aber auch alles merken soll! Ganze Berge von Lernstoff!
Bruder Rafi schaut neidlos auf ihre intensiven Abi-Vorbereitungen. Er verzieht sich, sobald Renate sich zum Lernen einigelt. Er hat ja Gott sei Dank noch drei Jahre Zeit, bis es für ihn auch so weit ist! Erleichtert geht er zum Fußball, während seine große Schwester mit rauchendem Kopf dasitzt.
Doch da kommt Mama herein und unterbricht Renis fanatischen Lerneifer. »Du meine Güte! Die Luft hier im Zimmer ist so verbraucht – die kannst du ja glatt in Blöcke schneiden und aus dem Fenster werfen, so dick ist die!«
Trotz ihrer Sorge ums Abitur muss Reni doch über den Vergleich ihrer Mutter lachen. Das Lachen befreit ein wenig, aber nur für einen Augenblick. Schon sitzt Renate wieder total verkrampft über ihren Büchern.
»Jetzt aber marsch nach draußen! Sofort gehst du an die frische Luft!«, kommandiert die Mutter. »Ich werde solange hier die Fenster mal weit aufreißen! Du weißt doch genau, in dem stickigen Mief kann kein Mensch lernen! Da wird man ja dösig! Ein Kopf, der was lernen soll, braucht viel Sauerstoff, das solltest du ja wissen, Frau Biologin!«
Reni lächelt geschmeichelt. Frau Biologin. Ja – das will sie werden! Eigentlich gehört sie zu den besten Schülern der Klasse, wenn auch ihre Leistung vorübergehend mal ein kleines Tief gehabt hat, doch sie hat sich stets wieder gefangen. Aber nun, wo’s ernst wird, hat sie all ihr Selbstvertrauen in Bezug auf ihre schulischen Leistungen verloren. Das Abi steht übermächtig groß und drohend vor ihr. Was nur, wenn ihr vor lauter Aufregung nichts mehr einfällt? Wenn sie vor Schreck alles wieder vergisst, was sie gelernt hat? Wenn sie nicht auf die richtige Antwort kommt und blockiert ist? Diese Fragen bedrohen sie und bereiten ihr schlaflose Nächte. Nun soll also der Baldrian helfen, dass sie wenigstens wieder ein wenig zur Ruhe kommt.
Brav kommt Renate der Aufforderung der Mutter nach und geht in den Garten, frische Luft schnappen. Seit sie wieder in Göttingen sind, hat sie ihren geliebten Heimatgarten wieder, der größer ist als der in Flensburg. Doch damals, in Flensburg, konnte sie mal eben schnell mit dem Bus ans Meer fahren und ein wenig dort spazieren gehen, an der Hafenmole oder am Lachsbach. Dort war es auch schön. Und Reni wusste: Wenn sie das Abi packen würde – und ihre Eltern und Großeltern zweifelten im Gegensatz zu ihr keinen Augenblick daran –, dann würde sie auch von Göttingen wegziehen. Sie wollte nicht an ihrem Heimatort studieren. Doch diesen Entschluss behielt sie noch wohlweislich für sich. Mama Suse und sicher auch Paul würde es gewiss viel besser gefallen, ihre Tochter in der Heimatstadt zu sehen. Denn auch da gab’s ja eine Uni.
Dann war es so weit. Voller Bangen hatten sich die Abiturienten und Abiturientinnen vor der großen Aula versammelt. Nervös trampelten sie von einem Bein aufs andere. Alle hatten ein vages, ängstliches Grinsen um die Lippen. Ihre Turnschuhe klopften dumpf bei ihrem Getrampel auf den Boden.
Da kam Herr Gutenbach, der Bio-Lehrer, und betrachtete mitleidig die wartende Schar. »Sie wissen ja, warum der Körper bei Stress so reagiert, nicht wahr?«, fragte er, um die Wartenden ein wenig abzulenken.
»Ja«, sagte Reni und grinste schief, »weil man früher, in der Steinzeit, noch einfach vor jeder Gefahr wegrennen konnte! Zum Beispiel vor ’nem Säbelzahntiger, da hieß es nix wie weg. Deshalb sind wir heute noch so zappelig, weil wir ja nicht mehr wegrennen dürfen!«
»Doch – «, sagte Herr Gutenbach pfiffig. »Rennen Sie, rennen Sie, was Sie können – um sich durchs Joggen aufzulockern und frische Luft in Ihre Lungen zu kriegen – und dann kommen Sie in einem großen Bogen wieder hierher!«
So riet ihnen Herr Gutenbach. Die Jugendlichen lachten. Ach so! Sie sollten ihre angestaute Nervosität in Bewegung umsetzen, aber eben nicht zum Wegrennen benutzen! Schade! Das wäre doch die entschieden angenehmere Lösung gewesen!
Herr Gutenbach lächelte verständnisvoll und sagte aufmunternd: »Glauben Sie mir, nach der ersten Prüfung kommt bei allen Kandidaten schon so was wie Routine auf! Die nächsten Prüfungen machen Sie dann alle mit links!«
»Wenn man nicht gleich das Gefühl hat, irgendwo durchgefallen zu sein«, sagte Melanie verzagt.
»Hör bloß auf!«, baten alle im Chor.
»Nun machen Sie sich mal nicht verrückt!«, mahnte Herr Gutenbach. »Sagen Sie sich einfach: Ich hab’ die ganzen Jahre hindurch kontinuierlich was gelernt, und davon wird ja wohl irgendwas hängengeblieben sein!«
»Wenn das so einfach wäre!«, seufzte Steffi. »Ich hab’ mich die ganzen letzten Wochen schon hingesetzt und wie wild gebüffelt, doch ich hab’ das Gefühl, ich hätte alles wieder vergessen!«
»Was? Du auch?«, riefen Reni und Sabine gleichzeitig. Denn auch hier gab es eine Sabine.
Dann hatten sie keine Zeit mehr, über ihr mulmiges Gefühl nachzudenken, denn schon wurde die große Aula geöffnet, und alle strömten hinein, mit einem Gefühl, als ginge es zum Schafott.
Die Lehrer erklärten ihnen, wie sie die einzelnen Prüfungsblätter zu kennzeichnen hätten, und auch die sonstigen Vorschriften für den Prüfungsablauf. An Reni rauschte alles vorbei, so als würden die Lehrer Chinesisch reden. Jaja, nur die erlaubten Hilfsmittel und so weiter ... keine Spickzettel, klar ... plötzlich schreckte Reni zusammen. Was hatte der Lehrer gesagt? »... und die Seitenzahlen nummerieren Sie bitte alle mit arabischen Ziffern durch!«
»Was? Arabisch?«, hallte Renis Notschrei durch den Klassenraum. Himmel – nun hatte sie doch was versäumt bei ihren Prüfungsvorbereitungen! Alle konnten Arabisch, nur sie nicht!
Erst als die ganze Klasse in schallendes Gelächter ausbrach, merkte sie, dass sie vor lauter Aufregung ein Blackout gehabt hatte. Jetzt lachte sie mit. Behutsam wiederholte nun auch der Lehrer: »Ja, Frau Liedke – auf Arabisch! Ich bin sicher, dass Sie das beherrschen!« Auch er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Das allgemeine Gelächter wirkte so befreiend, dass keine so beklemmende Stimmung mehr aufkommen konnte wie zuvor. Renate sah sich um und entdeckte, dass außer ihr noch so manch Schüler oder Schülerin ein Maskottchen mitgebracht hatte, und es waren Klassenkameraden dabei, von denen man es am wenigsten gedacht hätte. Da saß Steffi mit einem Plüsch-Äffchen und drüben sogar Andrea mit einer riesigen Maus aus grauem Cord. Sabine hatte einen kleinen Comic-Tiger dabei und Melanie eine gelbe Ente. Steffi winkte Reni schnell mit ihrem Äffchen zu, und Reni hob, nicht faul, ihr grünes Plüsch-Krokodil und ließ es ebenfalls zu dem Äffchen zurückwinken.
»Meine Damen und Herren, ich glaube, ich muss die Prüfungsaufgaben wieder einsammeln! Ich bin hier wohl versehentlich im Kindergarten gelandet!«, bemerkte der Lehrer trocken. Wieder lachten alle. Der Lehrer, es war der Lateiner Herr Dr. Hagen, sah gnädig über die stille Invasion der Maskottchen hinweg. Wenn diese nur dazu beitrugen, dass sich ihre Besitzer genügend ruhig auf ihre Prüfungsaufgaben konzentrieren konnten!
In Bio hatte Renate das Thema »Das Sexualleben der Moose« gewählt, denn das konnte sie aus dem Effeff. Liebevoll malte sie die Behälter für Sporen, die Eizelle und die durchs Regenwasser schwimmenden Spermien auf. Denn diese Pflanzen haben genau solche Samenzellen wie Tiere und Menschen, jawohl! Daran sah man doch gleich, dass alles Leben auf der Erde letztlich verwandt war, sogar ein Elefant oder ein Mensch mit dem unscheinbaren Moos. Das faszinierte Reni an dieser Sache besonders.
Sie bekam als Anschauungs-Objekt ein lebendes Moospflänzchen zugeteilt, das sie mit einer Pinzette untersuchen konnte. Behutsam zupfte sie an dem zarten Pflänzchen, ohne es kaputt zu machen: Ja, sie konnte alle Einzelteile benennen und erklären! Erleichtert stellte sie fest, dass sie gut mit dem Thema klarkam und sich gründlich vorbereitet hatte – so konnte sie die Klausur mit einem guten Gefühl abschließen.
Nach der Klausur fragte sie: »Darf ich die Moospflanze behalten, oder muss die mit der Arbeit abgegeben werden?«
»Ich glaube nicht, dass unser Schulamt die Pflanze als Prüfungsergebnis pressen will!«, scherzte der Lehrer. »Was wollen Sie denn damit?«
»Ich will eine Moos-Kultur anlegen«, sagte Renate sehr sachlich. Dagegen war nichts einzuwenden.
Schon war die erste Prüfung überstanden, und alle gingen nachhause. Der Lehrer schloss den Prüfungsraum ab. Da kam Andrea nochmal angerannt.
»Haaaalt! Noch nicht abschließen! Ich habe meine Maus vergessen!«, rief Andrea aufgeregt und nahm immer gleich zwei Stufen auf einmal.
»Ihre Maus? Ach so!«, lachte der Lehrer und schloss die Aula wieder auf. Rasch holte Andrea ihre große Cord-Maus und klemmte sie sich unter den Arm. »Wegen dir hab’ ich meinen Bus verpasst!«, rief sie ihr scherzhaft zu. Dann sprang sie ebenso eilig die Treppe wieder hinunter.
Renate aber wickelte ihr Moospflänzchen sorgsam in ein feuchtes Taschentuch und trug es nachhause. Dort legte sie in einer flachen Keramikschüssel ihre »Mooskultur« an. Aus Scherz pflanzte sie noch ein kleines Schildchen auf einem Zahnstocher hinein, worauf zu lesen stand: »Abitur-Moos«. Als Rafi vorbeikam und das sah, meinte er: »Du hast einen Tick mit deinen Pflanzen! Mir wäre genug Moos in der Tasche lieber als in einem Blumenpott! Ohne Moos nix los!« Und er schüttelte seinen leeren Geldbeutel.