Читать книгу Die Sternschnuppenkinder - Band 5 - Rebecca Netzel - Страница 7
ОглавлениеVerdiente Ferien!
Renis Eltern haben ihr eine »Abschluss-Reise« nach dem Abitur geschenkt – sie darf sich sogar aussuchen, wohin sie möchte! Zur Auswahl stehen eine Kurzreise nach Teneriffa und die Teilnahme an einer Exkursion des Reitervereins, dem sie einmal angehört hat. Die Flensburger Reiter haben gute Kontakte zu einem Reiterhof in der Provence und wollen in der Camargue auf den legendären weißen Camargue-Pferden ausreiten! Da fällt Renate die Wahl nicht schwer: Natürlich entscheidet sie sich für die Exkursion in Südfrankreich, anstatt nur am »Teutonengrill« in der Sonne zu braten! Die Naturschönheit der Kanaren kann sie sich ja auch später noch angucken – die Gelegenheit zu Reitausflügen wie diesem aber kommt so nie mehr!
Sie war noch nie in Südfrankreich gewesen, doch hat sie schon von den Flamingo-Kolonien dort gehört. Die will sie unbedingt sehen. Onkel Herbert hatte ihr mal ganz begeistert von Flamingos vorgeschwärmt, die er in Südspanien, im Nationalpark von Coto Doñana, beobachtet hatte: »Die fliegen über dir, mit ihren feuerroten Flügeln am knallblauen Himmel – einfach großartig!« Flamingos in freier Wildbahn – das wollte sie auch einmal selbst erleben! Und papageienbunte Vögel, die blaugelben Bienenfresser, sollte es da auch geben, wie in Afrika!
Na, und sich mit alten Freunden vom norddeutschen Reiterverein zu treffen, ist doch auch super! Gabi aus Flensburg hatte ihr in einem Anruf diese Möglichkeit mitgeteilt, und die Aussicht auf gemeinsame Reiterferien hatte Renate sofort zusagen lassen! Nun würden die Eltern auch noch den Reiterausflug sponsern! Toll!
Gabi teilt ihr daraufhin noch telefonisch mit, wann und wo genau sich die Reitfans treffen wollen. Renate macht mit ihrer Freundin aus, sich schon in Avignon zu treffen. Beide reisen per Zug an, wie auch die meisten anderen. Von dort aus wollen sie gemeinsam zu dem Reiterhof hinfahren. Der liegt im Herzen der Camargue, am Étang de Vaccarès. Dort gibt es urtümliche Sumpflandschaften mit noch schier endloser Weite, nicht verbaut und voller wilder Tiere: weißer Pferde, schwarzer Stiere, rosa Flamingos und einer Unzahl weiterer, seltener Wasservögel. Renate freut sich schon unbändig.
In Avignon traf Renate dann tatsächlich bereits auf ein munteres Grüppchen norddeutscher Reitfans. Gabi winkte ihr schon auf dem Bahnsteig heftig zu. Zwar hatte der Zug Verspätung gehabt, doch was machte das schon! Es gab ein lautes Hallo voller Wiedersehensfreude. Gemeinsam ging es weiter mit Bus und Bahn. Gabi und Renate hatten sich natürlich besonders viel zu erzählen. Auch Herr Nissen, Renis damaliger Reitlehrer, und Herr Jensen, der Junior-Chef des Vereins, waren mit von der Partie. »Leider hab’ ich in Göttingen keine Gelegenheit mehr gehabt, meine Übung im Reiten weiter auszubauen!«, gestand Reni.
»Na, da wird es ja höchste Zeit, dass du mal wieder in den Sattel kommst!«, rief Herr Nissen.
»Du wirst aber ganz schön blaue Flecken am Po kriegen!«, kicherte Gabi.
»Selbst ein wund gescheuertes Hinterteil kann mir meine Freude nicht trüben!«, sagte Renate überzeugt. »Ich hab’ mich doch schon viel zu sehr auf unsere Exkursion gefreut!«
Der Reiterhof war ein rustikaler Gebäude-Komplex: ein ehemaliger Bauernhof, der sich nun auf den Reit-Tourismus eingestellt hatte. Er lag abseits für sich in der sumpfigen Ebene, umrahmt von zarten Tamarisken-Sträuchern, die vom Mistral zerzaust waren. Das Gehöft war aus cremefarbenen Steinen gemauert und hatte buntscheckige Dachziegeln, weil immer wieder alte Ziegel gegen neue ausgetauscht worden waren, so dass neue rote und verblichene orangegelbe ein lustiges Muster bildeten. Neben dem alten Bauernhof wuchsen eine turmhohe, schlanke Zypresse und ein üppiger Feigenbaum. Leider waren die Feigen noch nicht reif, denn es war ja erst Mai. Dafür blühte schon der kleine Bauerngarten hinterm Haus in allen Farben. Es duftete würzig nach Kräutern.
»Toll ist’s hier!«, rief Gabi und Reni reckte wohlig seufzend ihre Arme.
»Und wo sind die Pferde?«, fragte Arne, der Flensburger Stallmeister, unternehmungslustig.
Der alte Jean, der immer einen Zigarettenstummel in seinem Mundwinkel trug, führte sie zum Corral. Dort stand eine kleine Herde der berühmten Camargue-Pferde, die eigentlich große, weiße Ponys sind. Sie sind derb und robust und an das halb amphibische Leben in der Rhône-Mündung bestens angepasst. Sie traben, ohne zu zögern, durch hohes Wasser und finden trittsicher auch in rutschigem Gelände ihren Weg. Seit vielen Generationen sind sie schon darauf gezüchtet, einen besonders feinen Instinkt für die herbschöne, aber harte Landschaft der Camargue zu entwickeln. Voller Begeisterung gingen die Reitgäste auf die gutmütigen Tiere zu, um Bekanntschaft mit ihnen zu schließen und ihnen die struppigen Mähnen zu kraulen. Die Pferde spitzten bereits neugierig die Ohren und sahen den Neuankömmlingen entgegen. Sie waren es gewohnt, stets fremde Reiter zu tragen, genau wie die Pferde des Reitsport-Vereins.
Jeder durfte sich ein Pferd aussuchen, sofern es keinen Streit darum gab. Renate und Arne hatten es auf dieselbe Stute abgesehen, und da musste das Los entscheiden. Jean warf eine Münze, und Arne bekam die Stute. Doch dann freundete sich Renate mit einem vierschrötigen Wallach an, der einen rosa Streifen auf der grauen Nase hatte. Sie wusste: Wäre er kein Schimmel gewesen, dann hätte an jenem rosa Streifen die Blesse begonnen. Aber weiß auf weiß sieht man den Unterschied ja nicht. An diesem rosa Streifen war ihr Pferd gut zu erkennen, so konnte sie es sich gleich gut merken.
Alle fütterten ihre Pferde nun mit Apfelstückchen, um sie an sich zu gewöhnen. Denn Liebe geht ja nun mal bekanntlich durch den Magen! Dann halfen sie Jean und seinem Sohn, die Tiere zu versorgen, und begaben sich zum Abendessen. Denn schon war der Ankunftstag fast vorbei!
Zum Abendessen beköstigte Jeans Frau Magali die ganze Mannschaft mit selbst gekochter Ratatouille. Dazu gab’s krosse Baguette und kleine Camembert-Stückchen, und leichten Landwein. »Einfach köstlich!«, meinte Herr Nissen, als alle zufrieden schmausten. Noch lange saßen sie in geselliger Runde beisammen, bis sich die ersten verstohlen die Augen rieben.
Sie schliefen im umgebauten Heuschober des Bauernhofes. Der neue Heuschober war ein Stück weiter errichtet und nicht so schön rustikal. Der alte war jetzt ein großer Schlafsaal, und es herrschte eine Stimmung wie in einer Jugendherberge. Man war ja unkompliziert. Wenn nur manche nicht so schnarchen würden!
Reni und Gabi hatten sich von der Bauersfrau kleine selbst genähte Säckchen mit Lavendel geben lassen, die legten sie sich nun unter die Kopfkissen in der Hoffnung, mit dem angenehmen Duft des Lavendels besser zu schlafen. Denn die Nachtlager waren sehr einfach und die braunen Wolldecken doch nicht so weich wie die Daunendecken daheim! Aber das gehörte eben dazu.
Am anderen Morgen blinzelte Reni verständnislos um sich. Ach ja! Sie war ja in der Provence! Mit einem Ruck fuhr sie hoch. Mussten sie sich nun alle an der Hofpumpe waschen? Doch während sie noch überlegte, erwachte auch Gabi, und beide begannen, zu wispern. »Nee, Quatsch!«, sagte Gabi leise. »Hier gibt’s doch ’nen Waschraum – haste den gestern Abend gar nicht mehr gesehen?«
»Nee, ich dachte, das sei ein weiterer WC-Raum«, flüsterte Reni. »So genau hab’ ich mir gestern Abend hier alles gar nicht mehr angeguckt! Ich war ja zum Umfallen müde!«
Bald saßen alle frisch und vergnügt am Frühstückstisch. Auf dem groben, aber blank polierten Tisch aus Pinienholz lag eine saubere Leinendecke, darauf standen Körbe mit geschnittener Baguette, Keramiktiegel mit selbst gemachter Pfirsich-Marmelade und Tellerchen mit Butter. Alle langten herzhaft zu. »Schmiert euch gleich noch jede Menge Brote für unterwegs, denn wir wollen den ganzen Tag unterwegs sein!«, rief Herr Nissen.
Dann ging’s los! Auf der heutigen, ersten Tour wollten sie erst mal die Umgebung erkunden. Es sollte eine Rundtour entlang der großen Lagune sein, an der sie die Flamingos sehen sollten. Besonders die Tierfreundin Reni war schon ganz aufgeregt. Flamingos! Und das hier in Frankreich! So was gab’s sonst fast nur noch an der Südküste Spaniens, hatte sie gelesen. Und natürlich in Afrika!
Jeans Sohn führte die Reiterschar an. Sein Vater, der mit seiner Baskenmütze, den weißen Bartstoppeln und dem verkniffenen, zerknitterten Mund selbst aussah wie ein Stück Urgestein, nickte den Davonreitenden nach. Sohn Luc kannte die Gegend, ebenso wie sein Vater, wie aus der Westentasche. Die Pferde anscheinend auch, denn sie liefen gleichmäßig, in raumgreifendem Trab, ohne Zuruf und zielstrebig.
Renate genoss die Landschaft: ein Himmelblau, das aus tausend Wasserlöchern in der grasgrünen Landschaft reflektiert wurde. Dazwischen ein paar Schilfstauden entlang der Wasserlöcher und windzerzauste Tamarisken an sandigen Stellen. Die Landschaft lag flach hingebreitet vor ihnen, so als sei sie ein Ölgemälde, darüber ergoss sich die weiße, südliche Sonne. Sie kamen an Reisfeldern und einzelnen Pfirsich-Plantagen vorbei und ritten auf die Sumpf-Fläche zu.
»Das Herzstück der Camargue ist Gott sei Dank Naturschutz-Gebiet!«, erklärte Reni ihrer Freundin Gabi. Natürlich ritten sie nebeneinander!
Alle Augenblicke flatterte ein weißer oder grauer Reiher vor ihnen auf, bunte Enten ruderten kopfnickend über die Wasserflächen, und einmal schwirrte sogar ein prächtig blauschillernder Eisvogel vor ihnen davon. »Toll!«, rief Reni begeistert. Hier gab es noch Natur pur, so richtig zum Auftanken!
Gegen Mittag machten sie Rast auf einer sandigen Rasenfläche. Alle packten munter schwatzend ihren Proviant aus. »Bäh! Meine Marmelade ist ja in der Hitze ganz klebrig geworden!«, sagte Gabi und betrachtete mit gekrauster Nase ihr durchweichtes Brot.
»Na gut – wenn du’s nicht magst, dann gib her!«, schmatzte Renate unbekümmert. Da beschloss Gabi, ihr Marmeladenbrot doch lieber selbst zu essen! Wer weiß, ob und wann sie heute irgendwo einkehren würden!
Dann schwangen sie sich wieder in den Sattel und weiter ging’s! Am hitzeflimmernden Horizont konnte man kaum noch unterscheiden, wo die Wasserfläche aufhörte und der Himmel anfing. Renate entdeckte im Vorbeireiten viele fremdartige Tiere und Pflanzen. Da gab es feuerrote Libellen, merkwürdige Disteln, die aussahen wie Gewächse von einem anderen Stern, und zahlreiche Wasservögel, die sie sonst nur aus Bestimmungsbüchern kannte. Hier aber spürte sie, wie sehr doch die vielfältige, bunte Natur aus unserem Alltagsleben verdrängt worden war! Als ihr das klar wurde, beschloss sie, mehr für den Umweltschutz zu tun. Sie sagte das auch ihrer Freundin Gabi. Die nickte nachdenklich. »Ja, stimmt! Viele von den komischen Viechern hier hab’ ich sonst auch noch nie gesehen!«
»Das sind keine ›komischen Viecher‹«!, protestierte Reni. »Und die gab’s früher in ganz Europa, bevor alle Sümpfe einfach trockengelegt wurden!«
»Na, aber man brauchte doch die Flächen für die Landwirtschaft!«
»Und? Haben wir heutzutage nicht schon eine Überproduktion?«
»Ja, aber ich hab’ mal gelesen, in solchen Sümpfen gab’s früher auch Malaria und so ...«
»O.K, aber dagegen gibt’s ja heute Medikamente! Und wer wohnt denn hier schon?«
Doch bald vergaßen sie wieder ihre Grübeleien und gaben sich einfach der Schönheit der Natur hin. Dass man die Natur retten musste, so viel war beiden klar.
Nun erreichten sie die große Seefläche der Lagune. Und dort waren sie! Renis Herz schlug höher. Wie an einem afrikanischen See stelzten dort rosa Flamingos herum, wenn auch nicht so unzählig viele wie im Tierfilm, und wenn auch ziemlich weit entfernt. Aber es waren echte, frei lebende Flamingos und keine zahmen im Zoo, die man mal so eben schnell ohne Entbehrungen bequem sehen konnte. Hier hingegen rann der Schweiß in Strömen, alle plagten Hitze und Stechfliegen, aber alle waren glücklich. Als auch noch drei Flamingos mit majestätischem Flügelschlag direkt über ihnen flogen und ihre prächtig rotschwarzen Schwingen weithin leuchteten, kannte die Begeisterung aller keine Grenzen mehr. Wer hatte denn schon mal fliegende Flamingos gesehen? In den Zoos bekommen die ja alle die Flügel gestutzt!
In der Ferne sahen sie auch noch eine kleine Herde schwarzer Rinder durchs Wasser waten. Der kleine Trupp Kampfstiere schritt bis zur Brust im Wasser, fast schienen die Tiere zu schwimmen. Während Renate sich näher an die friedvoll-schönen Flamingos heranwünschte, war sie ganz froh, dass sie den wilden Stieren mit ihren langen Hörnern nicht näher kamen. Aber schön sahen sie aus, wie sie da so frei und ungebunden leben durften, als ihr eigener Herr! Reni kannte nur Kühe aus dem Stall oder auf engen Koppeln.
Abends legte sich der rotgoldene Schein der untergehenden Sonne auf die weiten, spiegelnden Wasserflächen. Das Konzert der Frösche lieferte eine urtümliche Untermalung, und ein einsamer großer Reiher stand, schwarz wie ein Scherenschnitt, vor den rotspiegelnden Wellen. Ein herrliches Bild! Renate erlebte da auf ihrem Pferderücken eine ganz neue Harmonie zwischen Mensch und Natur, eine fast vergessen geglaubte Einheit. Dass so etwas noch möglich war! Das galt es unbedingt für künftige Generationen zu erhalten, fand sie. Und insgeheim rechnete sie auch ihre eigenen Kinder dazu, die sie einmal haben wollte.
Abgekämpft, aber überglücklich fanden sie sich wieder bei dem Bauernhof ein. Müde stiegen sie ab, versorgten aber trotz allem noch pflichtbewusst ihre Pferde. Das gehörte schließlich auch dazu! Dann machten sich alle frisch und gingen in die große Stube.
Zum Abendbrot gab es frisches Bauernbrot mit Butter und Ziegenkäse, Crème fraîche mit Kräutern der Provence und in Scheiben geschnittenen kalten Lammbraten mit Rosmarin und Thymian. Alle langten herzhaft zu, denn sie waren wie ausgehungert nach der langen Tour.
Renate hatte mit ihrem Handy haufenweise Bilder und kurze Videos gemacht, besonders auf den Rastplätzen inmitten der schönen Landschaft, und sie hoffte, dass die tolle Stimmung, die sie umfing, später auch nur halbwegs auf den Fotos zur Geltung kommen würde.
An den folgenden Tagen kam ihr die noch fast unberührte, weite Urlandschaft schon richtig vertraut vor, und auch ihr Pferd war ihr schon ein richtig guter Kamerad. Gab es etwas Herrlicheres als einen solchen Erlebnis-Urlaub?