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Abiball

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Die schwierigste Frage rund ums Abitur war die nach dem Kleid, das ich beim Abiball anziehen sollte. Ich trage nämlich Jeans, ausschließlich Jeans. Mit einem Kleid fühle ich mich nackt. Beim Abiball und auch schon bei der Abiverabschiedung tragen aber alle Mädchen Kleider oder Kostüme oder Röcke mit Blusen. Solche Sachen habe ich überhaupt nicht mehr, seit ich zwölf war, und ich dachte nicht daran, mir Klamotten von meiner Mutter anzuziehen. Die meisten Mädchen haben zwar solche Sachen, kaufen sich aber trotzdem vom Geld der Eltern für die Abiverabschiedung, bei der die Eltern auf den Auslöser der Kamera drücken, wenn ihre Blagen vom Schulleiter das Zeugnis überreicht bekommen, ein Kostümchen oder ein Sommerkleid und für den Abiball dazu für 300 Euro ein Abendkleid mit renaissancehafter Üppigkeit in Samt und Seide, dessen Stoff aber nie für die Schultern reicht, sodass das bauschige Gewebe nur vom Busen und ein paar Klebestreifen oben gehalten wird. Sie sehen dann aus wie die Mädchen auf dem Debütantinnenball in der Wiener Staatsoper. Nix für mich. Andererseits wollte ich mich auch nicht zum Gegenstand des öffentlichen Geredes machen: Kann die ihre Beine nicht zeigen oder sind ihre Eltern so knapp bei Kasse, dass sie ihre Tochter in einer Arbeiterhose zum Abiball schicken müssen? Oder muss sie ich wieder als Rebell öffentlich produzieren? So ein Gerede brauche ich nicht. Ich wollte schön Abi feiern. Das habe ich mir schließlich ordentlich erkämpft, um danach von niemand abhängig zu sein.

Ich bin ja vorher schon mal mit einem Kleid aufgetreten, aber da war ich nicht ich, sondern Johanna, die Hausdame von Instetten in „Effi Briest“, und in dieser Rolle musste ich natürlich ein langes, graues Kleid tragen. Vor hundert Jahren wäre es ja undenkbar gewesen, dass eine Bedienstete in Hosen herumläuft. Das Kleid sah übrigens nicht traurig aus, wie man wegen der grauen Farbe vermuten könnte, weil zu dem Kleid ein gerüschter weißer Kragen und weiße Stulpen gehörten. Natürlich war wegen der zeitgemäßen Kleiderlänge von meinen Beinen nichts zu sehen, aber es war immerhin ein Kleid und es sah so edel aus, dass ich mir vorstellen konnte, dass ich früher auch gerne mit so etwas herumgelaufen wäre. Überhaupt ist das ja so: Je dezenter eine Frau gekleidet ist, desto attraktiver ist sie, und die kurzen Miniröcke, die heute Mode sind, geilen zwar die Männer auf, weil sie viel Fleisch sehen, ein langes Kleid weckt aber mehr Sehnsüchte, weil die Männer sich alles ausdenken müssen und die kleinen Mängel, die jede Frau hat, nicht zu sehen sind. Das graue Kleid, das ich als Johanna getragen habe, hat sogar auf Benedikt, der den Instetten gespielt hat, gewirkt. Der hatte mich bis dahin so gut wie nicht beachtet, und auf einmal fing er an, mir Komplimente zu machen. Das hat mich ganz schön durcheinander gebracht; denn eigentlich konnte ich den Benedikt nicht leiden, weil er ein fürchterlicher Angeber ist; aber schon wie er den Instetten gespielt hat, zurückhaltend, vornehm und voller Selbstzweifel, hatte ich doch das Gefühl, dass eine ganz empfindsame Seele in ihm steckt, und ich habe mich wirklich ein bisschen in ihn verliebt, wie das auch zu meiner Rolle gehörte. Natürlich durfte ich das nicht zeigen, dass ich heimlich in ihn verliebt war, weil das auch zu meiner Rolle gehörte. Und das kam mir sehr zupass, weil ich mich doch nicht wirklich in Benedikt verlieben wollte. Ich musste ja eine sehr konservative Hausdame verkörpern, die gnadenlos die gesellschaftlichen Normen der Zeit vertrat. Eigentlich war das eine Rolle, die mir persönlich geradezu zuwider war. Um so besser! Die Johanna passte ja zu Instetten besser als seine Frau Effi, die eigentlich ein lebenslustiges Mädchen war, ganz natürlich und ohne das vornehme Getue der Johanna. Ich musste auch der Roswitha, der Bediensteten von Effi, klar machen, dass sie von vornehmen Benehmen keine Ahnung hatte und ein naives Landei war. Ich hatte jedenfalls Spaß daran, wider meine eigene Natur zu handeln und der Roswitha zu verklickern, dass die Frau verstoßen werden muss, wenn sie eine Affäre hat, und dass der Liebhaber abgeknallt werden muss. Es war eine tolle Aufführung. Vier ausverkaufte Vorstellungen haben wir gehabt. Teresa hat sich als Landadelige übrigens gut gemacht. Sie musste sich auch genauso wie ich total verändern und bösartig und giftig über die arme Effi herziehen, was ihrem Naturell ja auch nicht entsprach. Vielleicht hat ihr die Tatsache, dass sie wegen ihrer Schwangerschaft einigen Kummer hatte, dazu verholfen, dass sie richtig Wut und Ärger zeigen konnte. Sie hat überhaupt nicht auf schön gemacht. Sie hat es sich sogar gefallen lassen, zu einer alten Zicke mit faltigem Gesicht und idiotisch aufgetürmten Haaren umgestaltet zu werden. Was ich richtig tapfer fand, war, dass sie dann auch noch nach den Vorstellungen in ihrer hässlichen Kostümierumg unter den Zuschauern herumlief.

Jetzt bin ich aber total vom Thema abgekommen. Ich wollte doch vom Abiball erzählen. Aber wenn man blöderweise mit dem Ende anfängt, kommen einem die Sachen, die davor waren, dauernd dazwischen.

Was ich sagen wollte: Am liebsten hätte ich das Kleid angezogen, das ich als Johanna getragen hatte, und ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht einfach in den Fundus gehen sollte, um es mir für den Abiball auszuleihen. Aber das ging natürlich nicht, weil dann alle noch mehr geguckt hätten, wenn ich mit so einem altmodischen Gewand aufgetreten wäre. Außerdem hat so ein Kleid wie alles, was man auf der Bühne trägt, ein Eigenleben. Das macht einen nicht nur in den Augen der anderen, sondern auch vor einem selbst zu einer anderen Person, und in diesem Fall zu einer Bediensteten, die heimlich von ihrem Boss schwärmt, und das wollte ich ja nun gar nicht sein, weil ich mit dem Abi mein eigener Boss bin.

Irgendwann saß ich mal wieder bei Henning, um mit ihm Englisch zu machen, als seine schwarz-weiße Katze hereinspaziert kam, sich ein paar Streicheleinheiten abholte und sich dann auf die Fensterbank setzte, um sich zu putzen. Ihre Kleidung war perfekt, schön und warm, und sie hatte keinen Pfennig dafür bezahlt. Sie musste sie noch nicht einmal zur Reinigung bringen oder in die Waschmaschine stecken. Sie reinigte sie selbst mit der Zunge und es gab auch keine Falten, die man wegbügeln musste. Sie hat alles mit der Zunge glattgestrichen. Vielleicht ist die Medizin ja eines Tages so weit, dass sie eine Pille entwickelt, von der einem auch so ein schöner schwarz-weißer Pelz wächst. Das wäre doch ein Fortschritt. Ich stellte mir gerade Henning mit schwarz-weißem Fell vor und musste lachen. „Worüber lachst du?“, fragte Henning. „Ich lache über die Katze“, sagte ich, „die hat es gut. Die braucht kein Abikleid“. „Ja“, meinte Henning, „die hat es gut. Die braucht auch kein Englisch.“

Damit wären wir dann wieder beim Thema; aber ich hatte immer noch kein Abikleid, weil mir ja immer noch kein Fell gewachsen war.

Wenn ihr die Geschichte über meine Vorabizeit gelesen habt, wisst ihr, wo ich mir Hilfe holen konnte: bei Christopher, meinem schwulen Freund aus Göttingen. Also fuhren wir, als er mal wieder zu Hause war, nach Hamburg. Meine Lieblingsoma hatte mir 200 Euro zugesteckt, damit ich mir was Ordentliches leisten konnte. Außerdem hatte ich trotz der Ausgaben für den Führerschein noch einiges auf dem Konto, weil ich normalerweise wenig Geld ausgebe: ab und zu Kino oder eine CD. Ich gehe nicht in Discos, wo die meisten ihr Geld lassen und Jeans halten lange. Also ich hatte genug Geld dabei. Eigentlich wollte mich meine Mutter für den Abiball einkleiden; aber das hätte nur Streit gegeben. Bei Christopher war ich mir sicher: Der wusste, was er mir zumuten konnte. Wir waren uns auch gleich darüber einig, dass diese festlichen roten und purpurfarbenen Rokokokleider, die einen oben nackt ließen, nicht in Frage kamen. Als Erstes hat mich Christopher zu einem dunkelblauen Sommerkleid überredet. Hochgeschlossen war es nicht gerade, aber es bedeckte die Schultern und ging über die Knie. Was den Fummel zu einem Sommerkleid machte, waren die kleinen Blüten auf dem Stoff und die Applikationen am Kragen und an den Ärmeln. Es hatte schon ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Kleid der Johanna, war aber viel fröhlicher. Es stand mir, glaube ich, ganz gut, trotzdem kam ich mir darin so verändert vor, dass ich mich kaum selbst wiedererkannte. Christopher zeigte sich ganz begeistert, als ich aus der Umkleidekabine kam, was mir ein paar Hemmungen nahm. Was mir aber noch mehr half, war sein Vorschlag, in diesem Kleid die Rolle eines Mädchens zu spielen, das stolz darauf ist, das Abitur mit Bravour geschafft zu haben. Das war nun eine Rolle, die gut zu mir passte. Ich war froh, die Sache erledigt zu haben, und wollte schon die 59,95, die das Kleid kostete, hinblättern, als Christopher meinte, so billig käme ich nicht davon. Ich bräuchte noch ein Kleid für den Abiball. Das Sommerkleid sei nur für die Abientlassung. „Scheiße!“, sagte ich, „muss das wirklich sein?“ „Das muss“, erklärte mir Christopher. „Du kannst nicht mit demselben Kleid bei der Entlassung und beim Ball auftreten. Außerdem brauchst du sowieso etwas Schwarzes, oder willst du demnächst bei einer Beerdigung in Jeans am Grab stehen. Du kaufst dir jetzt ein schlichtes Schwarzes und bei Bedarf ziehst du eine dunkle Jacke drüber und dann können die Leute in Ruhe sterben.“ Mit dem schwarzen Kleid hatte ich weniger Probleme als mit dem blauen. Es hatte zwar oben weniger Stoff als das blaue, dafür ging es fast bis auf die Füße. Es machte mich richtig schlank und mindestens zehn Zentimeter größer. Es kostete 139,95. Omas Geld war nun weg bis auf zehn Cent, die ich mir als Andenken aufbewahren wollte.

Damit bin ich wieder beim Anfang: der Kleiderfrage. Ich bin froh, dass ich diese Sache jetzt ohne Ablenkung hinbekommen habe, und kann zum nächsten Problem übergehen, der Frage nach meinem Begleiter. Das ist nämlich so beim Abiball: Die Mädchen lassen sich von einem Jungen zum ersten Tanz aufs Parkett führen. Da ist es gut, wenn man einen Begleiter hat; sonst sitzt man blöd da. Mit diesem Begleiter sitzt man auch an einem Tisch, zusammen mit dessen und seinen eigenen Verwandten, die sich auch noch gut verstehen sollten. Das Letzte war natürlich ein Problem: Wer würde es schon einen ganzen Abend mit meiner Mutter aushalten? Darauf konnte ich aber keine Rücksicht nehmen. Für mich war eigentlich klar, dass Henning mein Begleiter sein sollte. Wir hatten uns so gut verstanden, als wir uns gegenseitig Nachhilfe gegeben hatten, und seit der Rettung der Kätzchen war er für mich schon so etwas wie ein Held; aber der Blödmann fragte mich nicht. Dabei hatten wir auch schon ein paarmal miteinander geschlafen, und die Sache mit Christopher war auch geklärt. Das war ja auch die Voraussetzung gewesen, dass wir überhaupt miteinander schlafen konnten. Gentlemanlike wie Henning war, hätte er es natürlich nicht getan, wenn ich ihm nicht gesagt hätte, dass Christopher schwul war und wir kein sexuelles Verhältnis hatten.

Mist! Jetzt muss ich doch noch mal vom Thema abkommen. Also das war so: Nach der Rettung der Kätzchen und der Beschriftung von Brinks Garagentor war Henning wie gesagt für mich ein Held, und ich fand, es sollte nun auch auch Schluss sein mit seinen scheuen Blicken auf meinen Busen. Ich sagte also beim Abendessen zu meinen Eltern: „Ich gehe noch zu Henning. Es kann auch sein, dass ich da über Nacht bleibe.“ Meiner Mutter blieb das Essen im Mund stecken, mein Vater hielt die Gabel zwei Zentimeter vor seinem Mund, ohne den Bissen zu sich zu nehmen, und Alex glotzte blöd aus der Wäsche. Das war wie ich Kino, wenn der Filmapparat einen Fehler hat und der Film plötzlich nicht mehr weiter läuft, oder wie bei Dornröschen, als alle plötzlich einschlafen und dem Koch sogar die Hand in der Luft stehen bleibt, als er dem Küchenjungen eine Ohrfeige geben will. In unserer Küche dauerte der Stillstand zwar keine hundert Jahre, aber doch einige Momente. „Was soll das heißen?“, fragte schließlich meine Mutter. „Das soll heißen, dass ich vielleicht bei Henning übernachte“, sagte ich. „Naja“, sagte mein Vater, als er seinen Bissen schließlich doch gekaut hatte, „Yassi ist achtzehn. Daran muss man sich wohl gewöhnen.“ Alex prustete, dass ihm das Essen beinahe aus dem Mund fiel: „Jetzt geht’s los!“ „Du bist ruhig!“, fuhr ihn meine Mutter an, was Alex aber nicht davon abhielt zu fragen, ob Henning vielleicht blind sei. Dafür fing er sich eine Ohrfeige von meinem Papa ein, was ich ganz großartig fand, die Kartoffelschüssel aber nicht, die mein Vater bei seiner Bestrafungsaktion auch getroffen hatte, sodass sie auf den Boden fiel und zu Bruch ging. Ich ging also zu Henning und gab ihm einfach einen Kuss. Der Rest folgte wie erwünscht. Henning war sehr zärtlich und immer noch scheu. Das war schön und weit entfernt von der halben Vergewaltigung durch Freddy. Er hatte übrigens schon einige Erfahrung, er rückte aber nur langsam damit heraus. Ich musste ihn ganz schön löchern. Die eine war ein Mädchen aus der Nachbarschaft, Mareike, eine ziemlich flotte Biene mit viel Schminke und kurzen Röckchen. Ich kannte sie flüchtig. Sie war auf der Hauptschule gewesen, Friseurlehrling und vermutlich mit dem IQ eines Toastbrots ausgestattet. Die Sache hatte nicht lange gehalten, weil Mareike ein typischer Discogänger war. Mit dem Namen der zweiten Bettgenossin wollte Henning nicht rausrücken. Ich war aber hartnäckig. Es war Nina aus der elf. Henning hatte ihr Nachhilfe gegeben und so weiter. Warum die Beziehung vorbei war, sagte Henning nicht. Der Gentleman genießt und schweigt. Ok, sollte mir recht sein.

Und damit zurück zum Thema. Henning hatte also jeden Grund, sich als Begleiter anzubieten, hatte das aber entweder vergessen oder traute sich immer noch nicht. Ich ging aber volles Risiko und lehnte die Anfrage von Malte ab. Schließlich musste ich selbst Henning fragen. „Ja gerne“ sagte er. „Ich dachte nur, du würdest vielleicht lieber mit Christopher...“ Henning musste also noch ein paar Sachen lernen: Mut und Selbstvertrauen. Ich musste noch etwas anderes lernen: Tanzen, ich meine konventionelles Tanzen. Henning hatte zum Glück einen Tanzkurs mitgemacht. Also übten wir fleißig ein paarmal, damit wir uns nicht blamierten.

Und damit bin ich wieder beim Abiball: Ich hatte ein Ballkleid, einen Begleiter mit Familie und konnte tanzen. Meine Familie bestand aus meinen Eltern und meinen vier Großeltern, die ich mir in meinem schwarzen Ballkleid daraufhin ansah, bei wessen Beerdigung ich das Kleid das nächste Mal tragen würde. Meine Wahl fiel auf Opa Kurt, der schon zwei Herzinfarkte hinter sich hatte. Alex war nicht dabei. „Auf den Scheiß habe ich keine Lust“, sagte er, und mir war das nur recht.

Hennings Familie bestand aus seinen Eltern, die trotz der Trennung friedlich miteinander umgingen, seinen beiden Schwestern und seinen Großeltern mütterlicherseits. Die Anfangsschwierigkeiten in der Konversation blieben aus, weil alle sich zum Buffet drängten, um sich mit Essen zu versorgen, und danach über die Sachen reden konnten, die es auszuprobieren galt. Mein Schwarzes erntete allgemeine Bewunderung. So habe man mich ja noch nie gesehen; aber es stehe mir wunderbar. Das tat mir gut, und deshalb bin ich auch stolz an Hennings Hand zum ersten Tanz geschritten. Da war es dann aber so voll, dass es gar nicht aufgefallen wäre, wenn ich nicht vorher mit Henning geübt hätte. Trotzdem war es gut zu wissen, dass ich es könnte, wenn es anders gewesen wäre.

Christopher kam natürlich auch an unseren Tisch und fragte Henning ganz höflich, ob er auch mit mir tanzen dürfe. Henning wusste gar nicht, was er sagen sollte, und nickte nur. Zum Glück war die Tanzfläche nicht mehr so voll, sodass ich auch mal zeigen konnte, was Henning mir beigebracht hatte, und das war gut so, weil Christopher ein toller Tänzer ist. Christopher saß bei seiner Schwester Caro und Teresa, die sich während der Theaterproben mit Caro angefreundet hatte, obwohl diese ihr ja die Hauptrolle weggeschnappt hatte. Es gab aber keine Rivalität mehr, und die beiden waren so dicke miteinander, dass sie sogar darauf verzichtet hatten, sich mit einem Begleiter an einen Tisch zu setzen. Von Teresas Schwangerschaft war übrigens keine Rede mehr. Es galt als Tatsache, dass sie nur ein übles Gerücht war, das Neider der schönen Teresa in die Welt gesetzt hatten. Sie hätte ja inzwischen schon im fünften Monat sein müssen, aber davon sah man nichts. Dass es in Wirklichkeit anders war, hatte ich von Teresa im Abibuchausschuss erfahren. Offenbar hatte Teresa ihre damalige Ankündigung, sie werde sich von dem widerlichen Kameramann kein Kind anhängen lassen, in die Tat umgesetzt und still und heimlich abgetrieben.

Nach dem Tanz mit mir blieb Christopher noch ein wenig an meinem Tisch sitzen und ließ sich von meiner Mutter befragen. Was er denn studiere, ob es ihm Spaß mache und was er später werden wolle, wollte sie wissen, obwohl sie das meiste schon von mir erfahren hatte. Sie lobte ihn auch für seinen guten Geschmack. Er habe mich zu einem ganz anderen Menschen gemacht. Das verneinte Christopher. Ich sei immer noch dieselbe. Ansonsten stimmte er immer zu und antwortete freundlich, wie das seine Art ist. „Was für ein schöner Mann!“, stöhnte meine Mutter laut, als Christopher sich schließlich wieder verabschiedet hatte, obwohl Henning am Tisch saß und das genau hören konnte. Und die wollte mir Anstand beibringen!

Christopher kam übrigens noch zweimal zum Tanzen, einmal hat mich mein Vater aufs Parkett geführt und einmal kam Benedikt, tatsächlich! Da sieht man mal, was eine gemeinsame Theateraufführung bewirken kann. Ansonsten war ich mit Henning auf der Tanzfläche. Ich hatte aber auch noch mehr zu tun. Eine Zeitlang saß ich bei Gesa und Teresa am Tisch, und dann wollte ich auch die letzte Gelegenheit nutzen, mich bei einigen Lehrern zu bedanken, besonders natürlich bei Frau Grefrath, meiner Englisch-Lehrerin und Tutorin. Ich hatte doch endlich 13 Punkte in der Englisch-Arbeit geschafft, und die wurden nun auch nicht durch acht Punkte mündlich auf zehn Punkte runtergezogen, was bei den Semesternoten oft der Fall gewesen war, weil ich nicht so viel gequatscht habe wie die Leute, die ein Jahr in Amerika oder England gewesen waren und auf Englisch quasseln konnten, als wäre es ihre Muttersprache. Überhaupt war mein Abitur gut ausgefallen. Das fand ich nur gerecht. Schließlich hatte ich ja auch was dafür getan. Sogar in Geschichte war ich mit zehn Punkten herausspaziert, obwohl mich die Niemöller mit Fragen zu den Bitterfelder Beschlüssen über die Aufgabe der Kunst auf dem falschen Fuß erwischen wollte. Klappte aber nicht, weil ich auch auf diesem Fuß fest stand. Und die Niemöller hat mir beim Abiball so freundlich gratuliert, dass man es fast für ehrlich halten musste. Auch unser schmieriger Biolehrer Malzahn hat mir die feuchte Hand gedrückt und auch noch einen unanständigen Witz erzählt. Dabei hat er mir dauernd auf den Busen gestarrt, der aber gut verdeckt war. Natürlich konnte er sich auch nicht einige blöde Bemerkungen zu meinem Kleid verkneifen, das untenherum leider zu viel Stoff habe. Wenn der wüsste, was ich für ihn getan habe! Ich habe nämlich fast alle bösen Bemerkungen über ihn aus dem Abibuch gestrichen, und das heißt, so gut wie alles. Er gehörte nämlich zu den paar Lehrern, mit denen wir besondere Probleme beim Abibuch hatten.

Wir wollten dieses Buch natürlich in der Schule verkaufen, und dazu brauchten wir die Genehmigung des Schulleiters. Nach ein paar Katastrophen mit früheren Abibüchern, in denen einige Lehrer übel beleidigt worden waren, hatte sich der Schulleiter ausbedungen, die Bemerkungen über die Lehrer vorher durchzulesen, wenn er den Verkauf in der Schule erlauben sollte. Wir hatten zwar im Abibuchausschuss die übelsten Beleidigungen bereits gestrichen, konnten aber nicht alles streichen, weil sonst bei einigen Lehrern überhaupt nichts übrig geblieben wäre. Das waren aber ausgerechnet die, über die die Schüler am meisten geschrieben hatten. Natürlich war der Schulleiter nicht überrascht, als er aus den übrig gebliebenen Bemerkungen über einige Lehrer erfuhr, was für Luschen es sich in seinem Kollegium bequem machten. Der Mann ist ja nicht blind. Er tat aber pflichtgemäß entsetzt. Da ihm, wie er uns erzählte, im letzten Jahr schon einige Kollegen angedroht hatten, sich wegen Verletzung seiner Fürsorgepflicht bei der Bezirksregierung über ihn zu beschweren, strich er noch einige Beleidigungen raus. Damit aber überhaupt noch etwas stehen blieb, bat er uns, uns ein oder zwei positive Bemerkungen aus den Rippen zu schneiden, was wir denn auch ihm zu Gefallen taten. Das waren Bemerkungen von der Sorte „kommt immer pünktlich zum Unterricht“, „erzählt gute Witze“, „hat immer schöne Schuhe an“ oder „ist mütterlich“, „hat eine kluge Tochter“. Trotzdem sind natürlich einige Lehrer nicht zum Abiball erschienen. Wir haben ihnen aber keine Tränen nachgeweint, sondern waren froh, sie nicht mehr zu sehen.

Zurück zum Abiball. Frau Grefrath kam noch an unseren Tisch, um sich von meinen Eltern zu verabschieden. Sie sagte, sie freue sich, dass ich auch Lehrerin werden möchte, weil ich bestimmt eine gute Lehrerin werden würde, und dass meine Eltern stolz auf mich sein könnten. „Das sind wir“, sagte mein Vater und meine Großeltern stimmten zu. Meine Mutter guckte immerhin so freundlich, dass man hätte meinen können, sie freue sich auch. Mich packte die ganze Szene natürlich so, dass mir die Tränen kamen, als ich Frau Grefrath zum Abschied umarmte. „Melde dich mal, wenn du wieder da bist“, sagte sie nur.

So gegen zwölf verschwanden dann die Lehrer und die Eltern mit den kleineren Geschwistern. Zurück blieben nur die Abiturienten und ihre Freunde, also die ehemaligen und die künftigen Abiturienten und die aktuellen Liebhaber oder Verehrer. Als das Lokal so gegen vier geschlossen wurde, machten die meisten noch einen Spaziergang durch die Heide, obwohl die Tanzschuhe, die wir anhatten, kaum für Wanderungen geeignet waren. Es war trotzdem schön. Obwohl Christopher auch mitging, hielt ich mich an Henning. Schließlich war er mein offizieller Begleiter und den konnte ich doch nicht allein herumlaufen lassen. Aber es war sowieso kein Problem, weil Christopher sich die meiste Zeit uns anschloss. Caro und Teresa wollten noch die Einzelheiten ihrer geplanten Australienreise besprechen. Gegen sechs trafen wir im „Waldfrieden“ ein, wo wir uns für ein Frühstück angemeldet hatten. Um acht sank ich glücklich ins Bett.

Abi und weg

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