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Gesa

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Die einzige Abiarbeit, die etwas enttäuschend endete, war die in Deutsch. Ich bekam acht Punkte. Das war keine Katastrophe, aber ich hatte mehr erwartet, weil mich das Gedicht, das ich zu interpretieren hatte, emotional berührt hatte. Diese Emotion war auch der Grund, weshalb ich das Thema gewählt hatte und weshalb das Ergebnis so dürftig war. Es ging um das Gedicht „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner. Darin wird ein Pärchen beschrieben, das sich seit acht Jahren kennt und das eines Tages feststellt, dass „ihnen die Liebe plötzlich abhanden gekommen ist wie anderen Leuten ein Stock oder Hut“. Sie sitzen wortlos in einem Cafe´, rühren in ihren Tassen und können einfach nicht verstehen, warum sie sich nichts mehr zu sagen haben. Ich fand das Gedicht maßlos traurig, obwohl es keinen lauten Streit gibt, die Frau nur ein bisschen weint und die Sache ganz lakonisch in lockeren Versen erzählt wird. Vielleicht war es das, dieses Lakonische, was mich besonders traurig machte. Dass die Liebe wie ein alltäglicher Gegenstand verloren geht, ist doch fürchterlich.

Vielleicht hat mich das Gedicht gerade deshalb so angesprochen, weil Gesa dieselbe Sache passiert ist. Eines Tages hat sie festgestellt, dass ihr Nico, mit dem sie seit Kindertagen befreundet und seit Jahren liiert war, nichts mehr bedeutete. Die beiden galten als unzertrennliches Pärchen, und abgesehen davon, dass Nico wegen Gesas Fahrten nach Hamburg zu den Modeaufnahmen ein wenig eifersüchtig war, gab es nie Streit zwischen den beiden. Aber eines Tages sagte mir Gesa, sie wisse wirklich nicht mehr, weshalb sie mit Nico zusammen sei. Sie könne sich auch nicht mehr daran erinnern, dass sie ihn einmal geliebt habe. Eigentlich sei es nur eine Gewohnheit wie das morgendliche Frühstück, dass sie ihre Zeit mit Nico verbringe und mit ihm schlafe. Sie hatte aber Hemmungen, Nico das Ende der Beziehung zu erklären. Nico hatte sich eigentlich nichts zuschulden kommen lassen. Deshalb hatte sie Schuldgefühle und wusste nicht, was sie sagen sollte. Ich hätte ihr eigentlich gerne gesagt, dass das Ende ihrer Liebe nun einmal eine Tatsache sei und dass sie daraus die Konsequenzen ziehen solle. Ich wollte mich aber vorläufig nicht in die Angelegenheit zwischen den beiden einmischen. Vielleicht war es ja nur eine Krise, die bald wieder vergessen war, und grundsätzlich bin ich ja auch dafür, dass man um eine Liebe kämpft und nicht einfach aus Lust und Laune die Flinte ins Korn wirft. Ich habe mich aber vor allem deshalb zurückgehalten, weil ich nie verstanden habe, weshalb Gesa überhaupt jemals in Nico verliebt war.

Nico war für mich immer ein mittelmäßiges Nichts: Er war mittelmäßig nett, mittelmäßig intelligent, mittelmäßig fleißig, mittelmäßig blond und mittelmäßig hübsch. Wäre er nicht mit Gesa befreundet gewesen, hätte ich ihn nie bemerkt. Er gehörte zu den Leuten, die man schon vergessen hat, bevor sie die Tür hinter sich zugemacht haben. Ich überließ es also Gesa, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Es dauerte zwei Wochen, in denen sie immer wieder neue Ausreden erfand, um sich nicht mit Nico zu treffen, bis sie ihm erklärte, dass sie nichts mehr für ihn empfinde. Sie flüchtete auch nicht in die heute übliche Beschwichtigungsformel, dass sie weiter Freunde bleiben würden, weil sie noch nicht einmal Freundschaftsgefühle für ihn empfand. Sie empfand einfach nichts.

Nicos Reaktion überraschte mich. Ich hatte erwartet, dass er die Sache hinnehmen würde wie einen verlorenen Stock oder Hut; aber Nico kämpfte und er litt. Er wollte von Gesa eine Erklärung haben, er machte ihr idiotische Vorwürfe und er war völlig neben der Spur. Er konnte nicht schlafen, hing wie ein nasser Sack in der Schule herum, belästigte Gesa mit Anrufen, beklagte sich bei ihrer Mutter und heulte sogar mir was vor. Was Gesa denn bewogen hätte, mit ihm Schluss zu machen, wollte er von mir wissen. Was er denn falsch gemacht habe? Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich so etwas wie Sympathie für ihn. So viel Leidenschaft hätte ich ihm nie zugetraut. Man hört ja, dass Männer häufig gar nicht merken, dass in der Beziehung nichts mehr läuft und dass dann die Frauen eine Aussprache suchen und die Männer ganz erstaunt sind, weil sie kein Problem sehen. Solange sie eine Frau oder Freundin haben, die ihnen die Zeit vertreibt und als Betthäschen dient, finden sie alles in Ordnung.

Jedenfalls habe ich in meiner Stellungnahme zum Gedicht von Kästner geschrieben, dass das Ende der Liebe meist nicht von beiden Personen gleichzeitig empfunden wird, sondern dass meist einer keine Liebe mehr fühlt und der andere dann klammert und leidet. Das ist zwar nach wie vor meine Meinung, das tat meiner Arbeit aber nicht gut. Denn im dritten Teil der Arbeit sollten wir das Gedicht von Kästner mit dem Gedicht „Ach, Liebste, lass uns eilen“ von Opitz vergleichen. In diesem Gedicht fordert der Liebhaber seine Freundin auf, bald loszulegen, weil mit dem Alter die Attraktivität abnimmt und dann nichts mehr läuft. Weil ich mich aber in Gesas Geschichte so hineingesteigert hatte und meine Erkenntnisse über das Ende einer Liebe dargelegt habe, kam ich kaum noch zu Opitz, und deshalb bekam ich für die letzte Aufgabe nur vier Punkte, was dann die Endnote von elf auf acht Punkte heruntergezogen hat.

Aber so bin ich eben. Ich kann Gedichte und Romane nicht sachlich sehen, sondern beziehe sie immer auf mich und meine Erfahrungen. Deshalb werde ich auch nicht Germanistik studieren. Ich bin einfach zu emotional.

Jetzt aber weiter zu Gesa und Nico: Nico war verdammt hartnäckig und Gesa hatte so viele Schuldgefühle, dass sie ihm nicht einfach was vor den Latz knallte, obwohl er nun wahrlich lästig wurde. Für mich war das schon bald nicht länger ein Zeichen von Liebe, sondern von fehlender Einsicht und mangelnder Tapferkeit. So was kommt doch alle Tage vor, dass einer eine Beziehung beendet und der andere leidet. Irgendwann muss man sich damit abfinden und den andern in Ruhe lassen. Vielleicht wusste Nico einfach nichts mit sich anzufangen, als Gesa nicht mehr an seiner Seite war. Geholfen hat seine Hartnäckigkeit natürlich nicht. Sie hat nur dazu geführt, dass Gesa ihn bald hasste. Vor allem hat sie dazu geführt, dass beide sich nicht aufs Abi konzentrieren konnten und erhebliche Probleme bekamen. Nico schaffte das Abitur nur aufgrund der Vornoten, und Gesa schnitt so schlecht ab, dass sie die Hoffnung aufgeben konnte, nach einem Wartejahr einen Studienplatz für Medizin in Deutschland zu bekommen. Sie entschloss sich deshalb, nicht länger zu warten, sondern ihr Glück in Portugal zu versuchen, wo sie hoffen konnte, durch eine Aufnahmeprüfung sofort zu einem Studienplatz zu kommen. Sie konnte ja etwas Portugiesisch, weil sie ihre Ferien oft bei ihren Großeltern in Lissabon verbracht hatte. Sie fuhr also gleich nach dem Abi dorthin, um in der Sprache fit zu werden und sich auf die Aufnahmeprüfung im September vorzubereiten. Wir haben uns unter Tränen verabschiedet, obwohl es eigentlich doch gar nicht so tragisch war, weil Gesa auf jeden Fall über Weihnachten nach Deutschland kommen wollte und wir fest verabredet hatten, dass ich sie im nächsten Sommer in Portugal besuchen würde, falls sie dann immer noch da wäre.

Gesas Abreise war mit ein Grund dafür, dass ich jetzt in England bin; denn Henning machte ein Praktikum in der Firma seines Vaters, aber nicht in Hamburg, sondern in Ludwigshafen, und Teresa und Caro flogen nach Australien. Sie wollten dort für ein Jahr als Work-and -Travel-Studenten durchs Land reisen. Das war ein bisschen Mode an unserer Schule, und deshalb gab es einige Leute, die ihnen Kontaktadressen geben und verraten konnten, wo sie gute Jobs finden würden. So wäre ich so gut wie alleine zurück geblieben und hatte nun jeden Grund, das zu tun, was ich schon immer im Sinn hatte: abzuhauen. Ich habe mir deshalb im Internet ein Hotel in England ausgesucht, wo ich bis zum Beginn des Studiums arbeiten konnte; denn so gut ich in Englisch auch war, ich war es vor allem im Schriftlichen. Gegenüber den Leuten, die ein Jahr in Amerika waren und wie die Weltmeister Englisch parlierten, hatte ich im Mündlichen doch einige Nachteile. Vor allem lernt man im Land selbst das Alltagsenglisch, das man in den Büchern ja nicht so findet.

Meine Wahl fiel auf den Lake District, eine ziemlich abgelegene Gegend kurz vor Schottland. Ich informierte mich im Internet darüber und erfuhr, dass diese Gegend früher mal eine Region armer Bauern war, bis ein Dichter der Romantik die geheimnisvolle Faszination dieser Landschaft entdeckte und damit dazu beitrug, dass sie ein Touristenzentrum wurde, allerdings nicht so wie die Badeorte am Meer, sondern eher still und alternativ. Dazu später mehr.

Ich muss noch vom endgültigen Ende der Liebesbeziehung von Gesa und Nico erzählen: Zu den vielen Aktivitäten, die rund um das Abitur stattfinden, gehört die Abifahrt, eine einwöchige Reise der Abiturienten in ein Ferienlager zwischen der schriftlichen und der mündlichen Prüfung. Die Wahl fiel, wie das meistens in den letzten Jahren war, auf ein Haus in Dänemark. Ich hatte nicht so recht Lust mitzufahren, weil diese Veranstaltung im Wesentlichen ein Saufgelage ist. Da das Haus direkt am Meer liegt, kann man zwar auch schwimmen gehen, obwohl die Nordsee im Juni noch verdammt kalt ist. Aber da das Wetter in Dänemark auch noch unzuverlässig ist, kann es sein, dass man den ganzen Tag nur im Haus herumhängt, und das ist dann ziemlich langweilig, wenn man sich nicht die Birne zudröhnt, was ich nie mache, weil ich es blöd finde, wenn einer nicht mehr er selbst ist. Auch Gesa hatte Bedenken, weil sie nicht so eng bei Nico sein wollte, der sie ohnehin ständig verfolgte. Wir fuhren aber trotzdem mit, weil wir uns nicht von unserem Jahrgang, mit dem wir unsere ganze Jugend verbracht hatten, distanzieren wollten.

Das Wetter war übrigens dann erstaunlich gut. Es war sonnig und knapp über zwanzig Grad, sodass wir fast jeden Tag im Meer schwimmen konnten. Die Rettung von Nico – und noch mehr die von Gesa – kam in Gestalt von Stefanie. In den ersten zwei Tagen war Nico noch immer um uns herumgetanzt, um aufzupassen, ob Gesa etwas mit einem anderen Jungen anfangen würde. Er war nämlich fürchterlich eifersüchtig und meinte, dass Gesa einen anderen hätte oder sich spätestens bei der Abifahrt anlachen würde. Das lag Gesa aber völlig fern. Sie musste sich erst von Nico erholen und ließ sich deshalb auf nichts ein, obwohl viele an ihr rumbaggerten, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass sie nicht mehr mit Nico zusammen war. Nico dagegen ließ sich bald von Stefanie trösten, und für den Rest der Zeit lief er nur noch mit ihr im Arm herum und schaute weg, wenn wir in der Nähe waren. Unreif und kindisch nenne ich so was, und wenn ich schon vorher wenig von Nico gehalten hatte, war er nun für mich endgültig gestorben. Für Gesa auch. Wir hielten es noch nicht einmal für nötig, über Nicos Verhalten zu lästern. Er interessierte uns so wenig wie der berühmte Sack Reis, der in China umgefallen sein soll.

Ich hatte übrigens noch mehr unter Abwerbeversuchen zu leiden als Gesa, obwohl ich doch mit Henning befreundet war. Es war Benedikt, der seit den Theateraufführungen an mir einen Narren gefressen hatte. Besonders wenn wir schwimmen waren, wurde er ganz schön aufdringlich, spritzte mir Wasser ins Gesicht oder versuchte mich unterzutauchen oder auf die Schulter zu nehmen. Dabei schien es ihn überhaupt nicht zu stören, wenn Henning dabei war. Er ignorierte einfach meinen blassen, schmalen Freund und präsentierte mir seine braungebrannten Muskeln. Aber da er im Meer kein Instetten, sondern nur Benedikt war, konnte er mich nicht länger irritieren.

Das Schöne am Internet ist heutzutage, dass man mit seinen Freunden verbunden bleiben kann, auch wenn sie im australischen Busch herumlaufen oder in Portugal Portugiesisch lernen. So erfuhr ich denn von der Arbeit auf australischen Schaffarmen und einem netten, dunkelhaarigen Paolo in der Nachbarschaft von Gesas Großeltern. Und Henning teilte mir alle zwei Tage mit, wie sehr er mich vermisste, obwohl seine Arbeit angeblich sehr interessant war. Vielleicht schicke ich ja auch noch meinen Bericht aus Wintermere rund um den Globus.

Abi und weg

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