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Waterside Hotel

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Vom Bahnhof Windermere sind es nur 500 Meter zum Waterside Hotel. Von Hamburg nach Windermere ist es ein ganzes Stück weiter; aber der Zug schafft die Strecke in fünfzehn Stunden, und das Schöne ist, man kann in Hamburg eine Fahrkarte nach Windermere kaufen. Man muss ein paarmal umsteigen, in Köln, in Brüssel, in London und in Oxenholme, aber dann landet man genau in diesem kleinen Dorf, das genau so heißt wie der See, an dem es liegt. Ich nahm also die Bahn. Ich hätte auch nach Manchester fliegen können, um von da aus mit dem Bus nach Windermere zu fahren. Ich nahm aber lieber die Bahn. Ich liebe Bahnfahrten, besonders über weite Strecken. Sie atmen etwas vom Pioniergeist des 19. Jahrhunderts, wenn man in eine entlegene Gegend fährt; auch wenn es erst der Pioniergeist des 20sten ermöglicht, den Ärmelkanal zu unterqueren.

Die Fahrt begann um Mitternacht. Bis Köln hatte ich ein Schlafwagenabteil und trotz der Spannung auf mein Ziel konnte ich einige Stunden schlafen. Als es Tag wurde, ließ ich die Landschaft an mir vorbeigleiten, gelegentlich las ich auch in „Wuthering Heights“ von Emily Bronte`, einem Roman aus dem 19. Jahrhundert, den Frau Grefrath mir mit Widmung geschenkt hatte, als ich ihr erzählte, dass ich die Zeit bis zum Studienbeginn im Lake District verbringen würde. Der Roman spielt nämlich in Yorkshire, das südlich an den Lake District angrenzt, und ähnlich von Mooren geprägt ist wie die Gegend, in die ich fahren wollte. Es ist eine wilde Geschichte über Leidenschaften und Armut und Reichtum zwischen Hügeln und düsteren Mooren, in deren Mittelpunkt ein Findelkind steht, düster und grausam und voller Verstrickungen. Auch wenn die Landschaft im Lake District ähnlich ist, hat sich doch seit dem 19. Jahrhundert einiges geändert, da die Gegend zu einem Touristenzentrum geworden ist.

Mit ein Grund, weshalb ich mich für das Waterside Hotel entschieden habe, war ein Foto der Anlage. Es zeigte nämlich ein Gebäude im Tudorstil, diesem verwinkelten Fachwerkstil, der für mich typisch britisch ist. So machte denn auch das Waterside trotz seiner Größe den Eindruck von vielen aneinander gereihten Einzelhäusern mit Giebeln und Türmchen. Es bietet aber Platz für rund 80 Gäste und ein Restaurant.

Chefin des Hotel ist Mrs. Pearce, die nur Madam genannt wird, eine resolute Fünfzigjährige, die ihr Personal ordentlich auf Trab hält und überall auftaucht, auch da, wo man sie nicht vermutet. Man muss sagen, sie hält den Laden in Schuss, weshalb denn auch viele Stammgäste jedes Jahr wiederkommen. Gegenüber den Angestellten ist sie auf diskrete Art herrisch, während sie gegenüber ihren Gästen vor Freundlichkeit zerschmilzt. Mr. Pearce, ihr Gatte, ist ein eleganter, hoch aufgeschossener Gentleman, der meist im Büro direkt hinter dem Empfang sitzt und nur gelegentlich auftaucht, um die Stammgäste zu begrüßen. Im Gegensatz zu seiner Frau ist er gegenüber dem Personal äußerst freundlich. Vielleicht liegt es daran, dass er nicht so unter Stress steht wie Madam, weil er die Hälfte der Zeit auf seiner Schaffarm, die zehn Autominuten entfernt ist, oder am Seeufer beim Angeln verbringt. Petulia, genannt Petty, die Tochter der beiden, steht meist an der Rezeption.

Das Küchenpersonal besteht aus Mrs. McCormick, die aus Schottland stammt und nach Kendal, zehn Kilometer von Windermere, geheiratet hat, Antonio, einem 25jährigen Italiener, den Petty bei einem Italienurlaub aufgegabelt hat, und Mrs. Winterbottom, der Spülfrau, die im Ort wohnt. Die Zimmermädchen sind Gloria und Brittney. Das Bedienungspersonal für das Restaurant und den Speisesaal der Hotelgäste besteht aus drei Festangestellten, Vivian, Ellen und George, sowie den drei Saisonkräften, die nur in den Sommermonaten hier arbeiten. Eine davon bin ich, die anderen beiden sind Glenda aus London und mein Alptraum Tanja aus Wattenscheid, mit der ich mir ein Zimmer im Dachgeschoss teilen muss. Tanja kam eine Woche nach mir und nervt mich seitdem.

Als ich so gegen 15 Uhr mit meinem Koffer ins Hotel rollte, kam gleich George angesprungen, um mir den Koffer auf mein Zimmer zu bringen. Ich bremste seinen Arbeitseifer, indem ich mich als künftige Mitarbeiterin vorstellte. Er bestand aber darauf, mir trotzdem behilflich zu sein, nachdem ich mich an der Rezeption angemeldet hatte. Petty begrüßte mich freundlich, rief aber gleich ihre Mutter, die mich zuerst einmal skeptisch betrachtete. Sie erlaubte mir aber, mich zuerst in meinem Zimmer frisch zu machen, und erklärte mir dann bei einer Tasse Tee, was sie von mir erwartete. Sie war sehr strikt und lächelte nur leicht säuerlich, lobte aber mein Englisch, weil es ihr angeblich die Mühe ersparte, alles zweimal sagen zu müssen.

Als Erstes sollte ich anständige Kleidung tragen, das heißt weiße Bluse und schwarzer Rock. Sie hatte auch beides in passender Größe, und zwar gleich doppelt. Das war also die Uniform, in der die Servicekräfte herumlaufen mussten. Ok, sagte ich mir, dann spiele ich jetzt die Rolle einer englischen Bediensteten. Anschließend führte mich Madam durchs Haus, wo an jeder Ecke neue Richtlinien auf mich warteten, schließlich überließ sie mich ihrer Tochter, die alles noch einmal, aber viel freundlicher sagte. Beim Abendessen im Speisesaal sollte ich gleich assistieren, damit ich sehen könnte, was zu tun sei. Die Arbeit bestand im Wesentlichen im Transport des Büffets aus der Küche in den Speisesaal, dem Abräumen der benutzten Teller und Schalen, im Servieren von Getränken, die auf dem Tischzettel zu notieren waren, und einem freundlichen Lächeln. Die Sache war nicht so schwer, als dass man sie nicht hätte kapieren können. Obwohl ich weitgehend nur dabei gestanden hatte, wurde ich doch müde und war froh, um elf schlafen gehen zu können.

Ich hatte mich als Mary vorgestellt. Der Name stand zwar nicht in meinem Pass und bedurfte deshalb einiger Erklärung gegenüber der Chefin, er wurde aber angenommen, und so lief ich denn als Mary im Waterside herum. Für mich war es wichtig, mich an meinen Wunschnamen zu gewöhnen und Mary war eine angenehme Zwischenstufe zu Marie.

Ich habe fünf Tage in der Woche zu arbeiten, mal Früh-, mal Spätschicht, je nach Bedarf. Die Arbeit macht durchaus Spaß, vor allem weil die Gäste nett sind. Sie unterscheiden sich wesentlich von der Touristen, die man beispielsweise auf Mallorca am Strand herumliegen sieht. Die größte Gruppe sind junge Familien, Eltern, die mit ihren Kindern wandern gehen, Rad fahren oder auf dem See herumpaddeln und abends mit ihnen zusammenhocken und Karten- oder Brettspiele machen. Dann kommen die Maler, die Wanderer, die Naturliebhaber und Frischluftfanatiker, Leute im gesetzten Alter, die oft schon viele Jahre hier ihren Sommerurlaub verbringen. Die dritte Gruppe sind die Sportler, junge Leute, die meist in Gruppen anreisen, die Berge erklimmen, zu Fuß oder mit dem Mountainbike, und auf dem See surfen oder rudern. Es sind alles Leute, die etwas mit sich anzufangen wissen und sehr entspannt daherkommen.

Die meisten sind natürlich Engländer oder zumindest Briten aus den Großstädten. Es sind aber auch viele Ausländer hier, vor allem Deutsche und Skandinavier, erstaunlicherweise aber auch Japaner, die man ja eher an touristischen Brennpunkten wie dem Eiffelturm oder Neuschwanstein erwarten würde. Offenbar hat aber ein japanisches Reiseunternehmen auch den Lake District im Programm. Diese Japaner sind schon ein seltsames Völkchen: Erstens treten sie immer in großen Gruppen auf, zweitens reisen sie ständig mit dem Bus herum, um möglichst jeden See in der Umgebung zu fotografieren, und drittens schnattern sie ununterbrochen durcheinander. Natürlich sind sie immer äußerst höflich, aber man hat doch erhebliche Schwierigkeiten, sie zu verstehen, weil sie so ein gequetsches Englisch sprechen.

Alle vierzehn Tage erscheint Mr. Heathcliff, ein pensionierter Lehrer aus Keswick, und hält einen Lichtbildervortrag über die Geschichte und Natur des Lake District. Die Fotos sind so schön, dass ich mich doch noch entschließen werde, mir mehr von dieser Landschaft zu gönnen als den Blick aus meinem Fenster. Es waren vor allem Fotos von den vielen Seen, die bis auf eine Ausnahme niemals Lake heißen, sondern einfach nur Water oder Mere. Über die Geschichte erfährt man, dass es hier mal Bergbau gab, Blei abgebaut wurde und dass aus dieser Zeit noch Reste der Bleistiftindustrie geblieben sind, dass dies hier aber vor allem eine sehr arme Gegend von Schafzüchtern war, aus der die jungen Leute in die Industriestädte abgewandert sind, bis der Tourismus begann. Mr. Heathcliff zählt auch eine Menge angeblich berühmter Maler und Dichter, der sogenannten Lake poets, auf, die sich hier niedergelassen haben, was von einigen Engländern mit Kopfnicken bestätigt wird. Mir sind aber alle diese Leute unbekannt.

Irgendwie gehört auch Mr. Pearces Schaffarm zum Hotel, weil sie die Küche mit Schaffleisch versorgt. Um Tanjas Geschwätzigkeit zu entgehen, saß ich eines Abends im Restaurant und las in „Wutherring Heights“, als Mr. Pearce hereinkam und mich auf seine höfliche Art fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Natürlich wollte er wissen, welches Buch ich gerade zur Hand hätte. Als ich ihm das Titelblatt hinhielt, zeigte er sich begeistert. Dass junge Leute diesen Roman läsen, fand er wunderbar. Ich gestand, dass ich mir das Buch nicht selbst ausgesucht hatte, sondern dass es mir von meiner Englischlehrerin geschenkt worden sei. Er lobte meine Englischlehrerin, was mir sehr gefiel, und erzählte mir dann von den Bronte´-Sisters, diesen armen Pfarrerstöchtern, die in einer abgelegenen Gegend in Yorkshire der Langweile verfallen wären, wenn sie nicht die Literatur als Ausflucht für ihre Phantasie gehabt hätten und unter männlichen Pseudonymen ihre Romane veröffentlichen mussten, weil man damals Frauen nicht zutraute, selbst einen Roman zu schreiben.

Wir kamen dann auf das Landleben in früheren Zeiten zu sprechen und auf seine Schaffarm, und Mr. Pearce lud mich ein, mit ihm dorthin zu fahren, wenn mich die Sache interessierte. Zwei Tage später fuhren wir in seinem Jeep tatsächlich dorthin. Die Farmgebäude waren größer, als ich erwartet hatte. Mr. Pearce fühlte sich geradezu genötigt, sich dafür zu entschuldigen. Sein Vater habe halt die größte Schaffarm im ganzen Lake Disrict gehabt und er sei deshalb ohne eigenes Verdienst zu so viel Land und zu so vielen Tieren gekommen. Er zeigte mir die Hügelkette, die zu seiner Farm gehörte und die riesige Herde, die in einiger Entfernung graste. Wir fuhren mit dem Jeep dorthin und wurden zunächst von einigen Hunden und dann dem Schafhirten begrüßt. Er hieß John und war schätzungsweise 40 Jahre alt. Es gab einiges zu besprechen: Welche Tiere in der nächsten Woche geschlachtet werden sollten, wann das Schafscheren stattfinden sollte und wie es Johns Rücken ging, nachdem er vor einigen Tagen vom Stalldach gefallen war. Auf der Rückfahrt erzählte mir Mr. Pearce auch noch, dass er früher selbst oft die Schafe gehütet habe, wenn der Hirte mal krank war oder Urlaub machte, und dass es ihm damals schon ein bisschen schwergefallen sei, die Schafe auszuwählen, die geschlachtet werden sollten. Er habe aber keine Beziehung zu den Schafen herstellen können wie zu den Hunden, vor allem schon deshalb, weil ihre Zahl – es waren rund 3000 Tiere – zu groß war. Es habe aber auch immer ein oder zwei Schafe gegeben, die besonders anhänglich waren, und denen habe er tatsächlich einen Namen gegeben.

Wir fuhren noch am See vorbei, wo er mit dem Fischer, der das Hotel belieferte, ein paar Verabredungen traf. Beim Blick auf den See erzählte er mir, wie froh er sei, dass es seit einigen Jahren eine Geschwindigkeitsbeschränkung für Motorboote gebe. Früher seien hier auf dem größten Binnensee Englands noch Geschwindigkeitsweltrekorde aufgestellt worden.Das habe den Charakter dieser melancholischen Landschaft total zerstört. Es habe harte Kämpfe mit den Motorsportvereinen gegeben, bis sich die Einwohner durchgesetzt hätten; aber nun könne man wieder die Ruhe des Sees genießen.

Abi und weg

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