Читать книгу Cleo & Leo - Rebecca Vonzun-Annen - Страница 11
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ОглавлениеKaum saß Cleo in seinem breiten, weichen Flugzeugsessel, fielen ihm auch schon die Augen zu. Die kurze Nacht und die ganze Aufregung machten sich bemerkbar und die Erschöpfung übermannte ihn fast augenblicklich.
So bekam Cleo weder mit, wie die Boeing auf die Startbahn rollte, noch, wie sich der silberne Vogel schließlich mit brummenden Turbinen in den Himmel erhob. Und er merkte auch nichts davon, dass sich sein Sitznachbar an seinen Knien vorbeiquetschte und rechts neben ihm niederließ.
***
Cleo wurde davon wach, dass ihn jemand unsanft anrempelte. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war. Dann fiel es ihm wieder ein.
Der Mann, der am Fenster neben Cleo saß, beugte sich gerade dreist über ihn, als ob er gar nicht da wäre. Cleo konnte den Schweiß unter seinen Achseln riechen. Er lehnte sich so weit zurück, wie er nur konnte, drückte sich tief in seinen Sitz und hielt den Atem an.
Was zum Kuckuck machte der Mann denn da?
Vom Schlaf noch ganz benommen, realisierte Cleo erst jetzt, dass auf der anderen Seite neben ihm eine Flugbegleiterin stand, welche den Leuten Getränke offerierte. Deswegen hing der Mann über ihm wie ein nasser Sack. Er diskutierte gerade mit der jungen Dame in eleganter dunkelblauer Uniform, die – wie Cleo feststellte – ziemlich müde aussah. Kein Wunder! Der nach Schweiß riechende Mann grunzte unfreundlich und wollte anscheinend unbedingt ein Bier haben.
„Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, schenken wir Alkohol in der zweiten Klasse nur gegen Bezahlung aus. Gerne serviere ich Ihnen ein Bier, aber Sie müssen dafür bezahlen“, erklärte sie ihm geduldig.
Der Mann schnaubte und stieß Cleo unwirsch mit dem Ellbogen in die Rippen. Auch ohne ein Wort vonseiten des Mannes war klar, dass er keineswegs damit einverstanden war, bezahlen zu müssen. Cleo versuchte sich noch schmaler zu machen, was jedoch fast nicht mehr möglich war. Seine Rippe schmerzte und außerdem wurde es langsam Zeit, dass er Luft holte. Es tanzten bereits schwarze Pünktchen vor seinen Augen. Die Achsel des Mannes schwebte nur einige Zentimeter vor seiner Nase und Cleo versuchte, sich das Atemholen noch ein wenig länger zu verkneifen.
Nach einigen Sekunden jedoch konnte er nicht anders: Zischend holte er tief Luft. Der käsige Geruch verursachte ihm fast augenblicklich Übelkeit und sein Magen begann, unangenehm auf und ab zu hüpfen.
In diesem Augenblick zog sich der Mann endlich zurück und ließ sich wieder in seinen eigenen Sitz sinken. Die Dose mit dem Bier knallte er vor sich auf den Klapptisch und grunzte wütend.
Die Flugbegleiterin hingegen klimperte zufrieden mit den Münzen, die der Mann schließlich zähneknirschend bezahlt hatte. Dann setzte sie ein strahlendes Lächeln auf und wandte sich Cleo zu. Die Müdigkeit auf ihrem Gesicht war schlagartig verschwunden.
„Und du, mein Kleiner, was hättest du denn gerne?“, fragte sie ihn mit säuselnder Stimme und beugte sich zu ihm hinunter. Ihr süßliches Parfum strömte in Cleos Nase und sein Magen schlug erneut einen Purzelbaum.
„Orangensaft“, murmelte er und hoffte, das kühle Getränk würde seine Übelkeit lindern.
„Na, dann lass uns dem Kleinen doch seinen Saft servieren“, flötete die Stewardess und schüttete mit klimpernden Wimpern die orange Flüssigkeit in einen Becher.
Nur zu gerne hätte sich Cleo wieder hinter der nach Schweiß riechenden Achsel seines Nachbarn verkrochen. Hielt ihn die Flugbegleiterin für ein Baby oder was? Er war elf, Himmel, nicht vier!
Als sie mit einem zuckersüßen „Hier, mein Kleiner“ den Orangensaft – samt Strohhalm – vor Cleo hingestellt hatte, leerte er den Becher in einem Zug. Dann knallte er ihn zurück auf den Tisch wie ein echter Mann und hätte, wäre er nicht so gut erzogen gewesen, zu gerne kräftig gerülpst, um zu beweisen, wie männlich er war. Cleo atmete tief durch. Er fühlte sich ein klein wenig besser.
Aus dem Augenwinkel warf er jetzt einen Blick auf den Mann neben sich. Dieser war von Kopf bis Fuß weiß gekleidet. Cleo betrachtete verwirrt das Gewand des Mannes, das ihn an eine römische Tunika erinnerte. Seine Haare waren mit Gel zurückgekämmt und ebenfalls schneeweiß, genauso wie sein Bart. Dieser war lang und gepflegt, er machte den Anschein, als ob er täglich mehrmals gekämmt werden würde. Die Haut des Mannes war – passend zu seiner Aufmachung – weiß und durchscheinend.
Der Kerl erinnerte Cleo an einen Geist. Die Tatsache, dass er sein Bier in sich hineinschüttete, als sei er kurz vor dem Verdursten, bewies jedoch, dass es sich sehr wohl um einen Menschen aus Fleisch und Blut handeln musste.
Noch immer schien es, als ob der Mann Cleo gar nicht wahrgenommen hätte. Er würdigte den Jungen keines Blickes. Zwischen den gierigen Schlucken knallte der Mann die grüne Dose immer wieder auf den Klapptisch, starrte irr ins Leere vor sich und murmelte unverständliche Wörter in seinen Bart. Seine weißen Brauen waren zusammengezogen, die Stirn gefurcht. An seinem Haaransatz glänzte es feucht. Er schien zu schwitzen.
Cleo rutschte auf seinem Sitz so weit nach links, wie es nur ging. Der Mann war ihm unheimlich.
Trotzdem konnte er nicht anders, als ihn immer wieder verstohlen anzuschauen und auf sein Gemurmel – das mal lauter, mal leiser wurde – zu lauschen. Manchmal verstand Cleo einzelne Worte, konnte damit aber nichts anfangen.
„Gejolung sakee mirmon“, murmelte der Mann gerade in seine Bierdose.
Ob er wohl in einer fremden Sprache redete? Cleo wunderte sich. Er hatte noch nie etwas in der Art gehört. Es musste sich um eine Sprache aus einem Land weit weg von hier handeln. Vielleicht aus der Südsee. Oder aus dem tiefen Urwald. Cleo wusste, dass es da Völker gab, die noch nicht erforscht waren. Vielleicht hatten die dort so ähnliche Sprachen. Andererseits ...
Aus dem Augenwinkel schielte Cleo wieder zu dem weiß gekleideten Mann hinüber. Er machte so gar nicht den Anschein, als ob er aus dem Dschungel käme. Oder aus der Südsee. Cleo wusste, dass die Menschen dort dunkle Haut hatten. Der Mann hingegen war blass wie ein Gespenst. Erschöpft schloss Cleo wieder seine Augen. Obwohl er sich wie gerädert fühlte, konnte er nicht mehr schlafen.
Er vermisste seine Eltern. Ob sie wohl ungefähr gleichzeitig wie er ankommen würden? Cleo wusste, dass ihr Flug länger dauerte als seiner. Aber sie waren auch beinahe zwei Stunden früher abgeflogen.
***
Nachdem Colin und Cecilia überhastet fortgeeilt waren – den Koffer hinter sich her ziehend, aus dem noch eine Unterhose rausschaute, welche fröhlich wie ein graues Fähnchen herumflatterte –, hatte sich Cleo mit hängenden Schultern auf die Suche nach seinem Gate gemacht. Er umklammerte sein Ticket und den Pass, die Reisetasche hatte er sich über die Schulter gehängt.
Obwohl er bisher noch nie alleine geflogen war, hatte er alles sofort gefunden. Flughäfen waren gar nicht so kompliziert, wie er angenommen hatte. Man musste bloß lesen können. Und da er genügend Zeit hatte, konnte er in aller Ruhe sämtliche Schilder und Wegweiser genauestens studieren und kam wenig später beim Gate A86 an.
Flug in den Norden, Boarding um 10.00, stand auf einer Anzeigetafel.
Cleo wusste, was Boarding hieß. Es bedeutete, dass man ins Flugzeug einsteigen konnte. Er blickte auf seine Uhr. Es war gerade mal halb neun. Das Gate A86 befand sich ganz am Ende aller A-Gates und noch war hier kein Mensch. Wahrscheinlich waren alle noch vorne bei den Läden oder in den Restaurants, um sich die Zeit bis zum Abflug zu verkürzen. Doch Cleo hatte keine Lust auf das Getümmel.
Also ließ er sich seufzend in einem der Ledersessel nieder und starrte trübselig auf seine Reisetasche. Er fühlte sich so alleine wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Sollten seine Eltern ihm doch den Buckel runterrutschen!
Zur Hölle mit der blöden Reise in den Norden!
Und zur Hölle mit Onkel Cornelius!
Jawohl!
***
Cleo wurde unsanft aus dem Halbschlaf gerissen, als die blecherne Stimme des Piloten aus den Lautsprechern dröhnte und auf den Landeanflug aufmerksam machte. Er musste, ohne es zu merken, doch wieder eingedöst sein.
„Bitte klappen Sie Ihre Tische hoch, schalten Sie alle elektronischen Geräte aus und stellen Sie Ihre Sitzlehne gerade. In wenigen Minuten beginnt unser Landeanflug.“
Und tatsächlich begann das Flugzeug bereits, an Höhe zu verlieren. Cleo merkte es am Druck in seinen Ohren, der von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. Schnell klaubte er einen Kaugummi aus seiner Tasche. Er meinte sich zu erinnern, dass Kaugummikauen gegen Ohrendruck half.
Kurz darauf rumpelte es, Cleo wurde unsanft in seinen Sitz gedrückt und ein Vibrieren zeigte an, dass sie auf dem Boden aufgetroffen waren. Die Turbinen summten und der riesige Vogel wurde allmählich langsamer, bis er in gemächlichem Tempo auf das Flughafengebäude zurollte, wo er schließlich zum Stillstand kam.
Rund um Cleo herum begannen die Leute, ihre Sicherheitsgurte zu lösen, Gepäckstücke wurden aus den Fächern gehoben und Mobiltelefone wieder eingeschaltet. Ungeduld machte sich breit. Die Ersten standen bereits in den Gängen, um das Flugzeug so schnell wie möglich verlassen zu können. Da es jedoch eine Weile dauerte, bis die Türen geöffnet wurden, stauten sich die Leute bald und Cleo beschloss, noch sitzen zu bleiben.
Neben ihm klingelte ein Handy. Eine schweißige Duftwolke wehte in seine Richtung, als der weiß gekleidete Mann in seiner Tasche wühlte und ein – wie könnte es anders sein? – weißes Telefon daraus hervorzog.
„Ecros hier?“, knurrte er in den Hörer.
Cleo tat so, als sei er damit beschäftigt, die Leute neben sich zu beobachten. In Wirklichkeit konzentrierte er sich aber genau darauf, was der Mann, der Ecros hieß, in sein Telefon sprach.
„Noch nicht“, zischte er gerade und klang unwirsch, gerade so, als ob er sich gewaltig über die Person am anderen Ende ärgern würde. „Wie gesagt, es ist noch zu früh!“, bellte er jetzt. Dann merkte er wohl, wie laut er geworden war, denn er senkte die Stimme und schob nach: „Ich bin gerade erst gelandet.“
Cleos Nackenhaare sträubten sich. Er wusste nicht, weshalb, aber dieser Mann wurde ihm immer unheimlicher. Es stellte sich heraus, dass er sehr wohl Cleos Sprache konnte. Umso merkwürdiger erschienen ihm nun die gemurmelten, fremdartig klingenden Wörter von vorhin und der seltsame Name Ecros.
„Ja, das weißt du doch, tot nützen sie uns nichts“, zischte Herr Ecros und Cleos Herzschlag setzte für einen Augenblick aus vor Schreck. Er musste wohl versehentlich ein Geräusch von sich gegeben haben, denn der Mann drehte sich blitzartig zu Cleo um und musterte den Jungen – zum ersten Mal, seit er neben ihm Platz genommen hatte – misstrauisch aus schmal zusammengekniffenen Augen.
„Ja“, spie er in den Hörer, ohne Cleo aus den Augen zu lassen. Und nochmals: „Ja!“ Dann drückte er den AUS-Knopf und verstaute sein Handy eilig wieder in einer der vielen Taschen seiner Tunika. „Hühner“, bellte er in Cleos Richtung.
Dieser erstarrte vor Schreck. „Hü...hühner?“, flüsterte er und blickte vorsichtshalber nach links. Aber da war niemand. Der Mann redete tatsächlich mit ihm!
„Ja, Hühner. Habe Hühner bestellt. Möchte ein frisches Ei jeden Morgen. ’s geht doch nichts über frische Eier, nicht wahr?“ Und er lachte dröhnend, so laut, dass Cleo zusammenzuckte. Merkwürdigerweise klang das Lachen überhaupt nicht amüsiert, sondern Furcht einflößend. Abrupt hörte der Mann zu lachen auf und starrte Cleo an.
„J...ja. Eier“, beeilte der sich zu antworten. „Frische Eier. Mag ich sehr.“ Er schluckte. Doch die Antwort schien Herrn Ecros zufriedenzustellen.
„Sag ich doch. Und jetzt wollen die mir Brathähnchen liefern! Tot nützen mir die Viecher nix, hab ich gesagt. Totes Federvieh legt keine Eier, verstehst du?“, dröhnte er und es schien ihm sehr wichtig zu sein, dass Cleo verstand, dass mit tot die Hühner gemeint gewesen waren. Eilig nickte Cleo. Verzweifelt schielte er nach links, wo die Leute noch immer Schlange standen. Er wollte so schnell wie möglich weg hier.
Herr Ecros schien beruhigt zu sein, dass er die Sache mit den Hühnern geklärt hatte. Nach einem letzten genervten Schnauben – „Tote Hühner, wer glaubt denn so was?“ – wandte er sich wieder von Cleo ab und begann, unverständliche Wörter vor sich hin zu murmeln.
Endlich setzten sich die Passagiere in Bewegung. Cleo sprang auf, packte seine Tasche und drehte sich zum Abschied – höflich, wie er war – nochmals zu Herrn Ecros um. Dieser jedoch schien Cleo vergessen zu haben. Mit geschlossenen Augen wiegte er sich vor und zurück und murmelte unablässig die fremdartigen Worte.
Cleo bekam Gänsehaut, und so schnell er konnte, reihte er sich in die Schlange ein, um das Flugzeug zu verlassen. Er konnte nicht erklären, weshalb, aber er war sich fast sicher, dass Ecros’ Erklärung mit den Hühnern eine Lüge gewesen war. Cleos Gefühl sagte ihm, dass es keineswegs Hühner waren, welche „tot nichts nützten“.
Cleo war zutiefst erleichtert, als er den Boden des Flughafens unter seinen Füßen spürte und er die unheimliche Begegnung im Flugzeug hinter sich lassen konnte. Trotzdem bereitete ihm das Erlebnis Kopfzerbrechen und sowohl während der Suche nach einem Taxi als auch auf der Fahrt zu Onkel Cornelius spukte das belauschte Telefongespräch in seinem Kopf herum und ließ ihm einfach keine Ruhe.