Читать книгу Cleo & Leo - Rebecca Vonzun-Annen - Страница 9
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Cleo wurde vom schrillen Kreischen der Bremsen geweckt. Der Schnellzug hielt mitten auf der Strecke und wurde allmählich vibrierend langsamer. Cleo klammerte sich an seinen Sitz und beugte sich zum Fenster, um nach der Ursache der Notbremsung zu sehen.
Leider war der Zug zu lang, um etwas erkennen zu können. Während Cleo angestrengt aus dem Fenster spähte, wurden Stimmen laut und eine Frau aus dem Nachbarabteil schrie aufgeregt mit hoher Stimme: „Das ist eine Katastrophe!“
Cleo musste ihr recht geben, es war tatsächlich äußerst wichtig, dass der Zug pünktlich war, denn er durfte unter keinen Umständen zu spät kommen. Dennoch, als Katastrophe hätte er das Ganze nicht gerade bezeichnet – jedenfalls noch nicht, denn der Zug war ja noch nicht einmal ganz zum Stehen gekommen.
Noch immer kreischten die Bremsen und die Frau fuhr mit lauter Stimme fort: „Dabei habe ich doch extra nachgeschaut, das verstehe ich nicht ...“
Cleo drehte sich verwirrt zum anderen Abteil um und im selben Augenblick vernahm er eine genervte Männerstimme, die antwortete: „Es ist immer, immer dasselbe! Grundgütiger, Cecilia ...“
„Lustig“, dachte Cleo, „die Frau heißt genauso wie meine Mutter.“
Das Kreischen der Bremsen nahm kein Ende, und gerade als Cleo sich wieder aus dem Fenster lehnte, um vielleicht doch etwas zu erkennen – eine rote Ampel, eine Schafherde auf den Gleisen oder eine Barriere vielleicht –, wurde die Tür seines Abteils mit einem Ruck aufgerissen.
„Aus den Federn, Cleo“, erklang die gehetzte Stimme seines Vaters und Cleo blinzelte, vom Traum noch ganz durcheinander.
Statt im Zug befand er sich in seinem Bett und durch die Fensterläden schien das schwache Licht der Dämmerung ins dunkle Zimmer.
Das Kreischen der Bremsen entpuppte sich als das Geräusch seines Weckers. Sein Vater hastete quer durchs Zimmer zum Fenster und zog die Vorhänge mit einem Ruck zur Seite. Cleo brachte den Wecker mit einem gezielten Schlag zum Verstummen.
„Deine Mutter hat mal wieder die Flugzeiten verwechselt, also beeil dich, wir müssten längst auf dem Weg sein!“, rief Colin aufgeregt, während er das Zimmer mit schnellen Schritten verließ und einen verzweifelten Seufzer ausstieß.
Cleo schloss entsetzt die Augen.
Die Reise nach Ägypten.
Der Flug in den Norden zu Onkel Cornelius.
Der Beginn zweier schrecklich langer und unendlich einsamer Frühlingsferienwochen.
Das war heute.
Heute!
Ein eisig kaltes Gefühl durchströmte Cleo von der Stelle, wo er sein Herz schlagen spürte, bis hinunter zu den Zehenspitzen. Liebend gerne wäre er zurück in seinen Traum geschlüpft, um mit dem Zug der grauenvollen Realität zu entfliehen.
Stattdessen musste er sich beeilen, weil seine Mutter mal wieder die Flugzeiten verwechselt hatte. Wahrscheinlich ging ihr Flug um acht Uhr zehn statt um zehn Uhr acht – oder etwas in der Art. Seine Mutter war eine Meisterin darin, Uhrzeiten zu verwechseln, und es war Cleo ein Rätsel, weshalb sich nicht einfach sein Vater um solche Dinge kümmerte.
Dann fiel ihm ein, dass dieser wahrscheinlich noch chaotischer war als seine Mutter und Colin womöglich nicht nur die Uhrzeit, sondern auch noch das Datum verwechseln würde. Also müsste sich wahrscheinlich am besten Cleo selbst darum kümmern, wenn alles reibungslos klappen sollte.
Was ihn auf einen ganz anderen – verlockenden – Gedanken brachte. Wenn es nicht klappte und sie den Flug verpassten, könnte er in den Ferien hierbleiben. Problem gelöst!
Das eiskalte Gefühl zog sich ein klein wenig zurück und seine Zehenspitzen fühlten sich bereits eine Spur wärmer an als noch eine Minute zuvor.
Da streckte seine Mutter den Kopf durch den Türspalt und machte schlagartig alles zunichte. „Cleo, du steigst jetzt schnurstracks aus diesem Bett und schnappst dir deine Tasche, das Taxi wartet schon!!!“, kreischte sie und klang dabei ganz ähnlich wie die Zugbremsen vorher.
Cleo, der sich bereits wieder in seine Decke gekuschelt hatte, fuhr vor Schreck hoch. Am Tonfall seiner Mutter erkannte er, dass es weit schlimmer sein musste als angenommen. Und tatsächlich ertönte in diesem Moment von der Straße her das ungeduldige Hupen eines wohl schon länger wartenden Taxis.
Cleo blieb nichts anderes übrig, als seiner Mutter zu gehorchen. Er wollte nicht daran schuld sein, dass sie womöglich einen Herzanfall erlitt vor lauter Aufregung.
In Windeseile schlüpfte er in seine Jeans und stülpte sich den blauen Kapuzenpulli über die zerzausten Haare. Dann ergriff er die bereitstehende Reisetasche. Als er in den Flur trat, drehte er sich um und warf einen letzten verzweifelten Blick in sein Zimmer: das zerwühlte Bett, den schiefen Bücherstapel neben seinem Wecker, das Notebook auf seinem Schreibtisch. Cleos Herz wurde tonnenschwer und der Kloß in seinem Hals drohte, ihn zu ersticken.
Bevor sich die ersten heißen Tränen in seinen Augen sammeln konnten, machte er auf dem Absatz kehrt und eilte die Treppe hinunter, wo sein Vater bereits ungeduldig mit dem Schlüsselbund rasselte. Sekunden später fiel die Tür hinter den drei Goldbergs ins Schloss.
***
Innerhalb einer halben Stunde erreichten sie den Flughafen. Trotz der Herrgottsfrühe wimmelte es hier bereits von Leuten und die unverkennbare Atmosphäre von aufgeregter Reisehektik lag in der Luft. Cleo stolperte wie betäubt hinter dem roten Trekkingrucksack seiner Mutter her.
Sein Vater eilte – die Flugtickets schwenkend und einen großen Reisekoffer schlingernd hinter sich her zerrend – voraus und brüllte in regelmäßigen Abständen: „Aus dem Weeeg, Platz da-haa!“
Cecilia folgte ihm mit kleinen, hastigen Schritten. Damit versuchte sie zu verhindern, dass ihr die ausgelatschten Birkenstockschlappen von den Füßen rutschten. Sie klammerte sich an den Trägern ihres Rucksacks fest, an dessen Außentasche wild ein Anch-Anhänger hin und her pendelte, der bei jedem ihrer Schritte mit einem feinen Pling gegen den Reißverschluss stieß.
Cleo, der den roten, auf und ab wippenden Fleck am Rücken seiner Mutter stets im Blick behielt, folgte seinen Eltern durch das Gedränge und versuchte angestrengt, nicht den Anschluss zu verlieren. Wäre er nicht so schrecklich traurig gewesen, hätte er sich wahrscheinlich in Grund und Boden geschämt. Denn selbst inmitten der unzähligen verreisenden Personen, die sich am Flughafen befanden, stachen die Eltern Goldberg aus der Menge hervor.
So mancher hielt kurz inne, um die einmalige Szene nicht zu verpassen. Der elfjährige Cleo in seinem Kapuzenpulli mit der schwarzen Reisetasche fiel zwar nicht weiter auf, er war nur ein normaler Junge, der mit seinen Eltern verreiste. Die ihm vorauseilende Frau mit dem langen braunen Zopf jedoch zog die Blicke der Leute auf sich. Aus ihrer Frisur hatte sich die Hälfte der Strähnen gelöst und wehte links und rechts neben ihren Ohren. Es war sonnenklar, dass dies nicht gerade eben passiert war, sondern dass Cecilia wohl bereits mehrere Nächte mit derselben Frisur geschlafen haben musste. Sie klammerte sich an ihren Rucksack, als ob ihr Leben davon abhinge, und trippelte mit seltsam schlurfenden Schrittchen hinter ihrem Mann her, wobei sie ein überraschendes Tempo an den Tag legte. Ihre nackten Füße steckten in uralten Lederlatschen. Es war nicht ganz sicher, ob dies vielleicht sogar ihre Hauspantoffeln waren, die sie vergessen hatte, gegen richtige Schuhe einzutauschen. Die Frau steckte in einer weiten Latzhose mit löchrigen Knien, die so gar nicht zu ihrem Alter passen wollte. Auf ihrem Gesicht lag ein leicht panischer Ausdruck.
Der zerzauste Vater mit dem grauen, verwilderten Bart, der krummen Drahtbrille auf der Nase und dem grünen, verwaschenen Pullover mit viel zu kurzen Ärmeln trug zwar Turnschuhe, steckte jedoch noch in seiner gepunkteten Pyjamahose, die ihm fröhlich um die Beine flatterte ...
Ja, wäre Cleo nicht viel zu sehr von der ihm bevorstehenden beängstigenden Reise abgelenkt gewesen, hätte er sich ganz fürchterlich geschämt für seine Eltern.
Glücklicherweise hatte er dafür im Moment gar keine Zeit.
Unglücklicherweise kam es jedoch noch um einiges schlimmer.
„Da wären wir ... oder?“, keuchte Colin auf einmal und blieb mit einem Ruck am Gate D34 stehen. Der Koffer, welcher von dem plötzlichen Stopp aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, schlingerte weiter und überschlug sich einmal, wobei er aufsprang und einige graue Herrenunterhosen herausquellen ließ.
Cecilia, die ebenfalls nicht auf die Vollbremsung gefasst gewesen war, trippelte in rasantem Tempo direkt in Colin hinein. Dieser machte einen Schritt nach vorne, rutschte auf seiner eigenen Unterhose aus wie auf einer Bananenschale und ruderte für einen gefährlichen Augenblick hilflos mit den Armen. Im letzten Moment bekam er Cecilias Latzhose zu fassen, was ihn vorerst vor einem Sturz bewahrte. Der Latz der Hose war jedoch keineswegs als Rettungsanker gedacht. Cleo beobachtete erstarrt, wie sich zuerst in Zeitlupe der eine und einen Augenblick später der andere Knopf von den Trägern löste. Dann stürzte Colin gemeinsam mit Cecilias Latzhose zu Boden und landete inmitten der verstreuten Unterhosen.
Das Bild, das sich Cleo bot, war haarsträubend.
Seine Mutter stand mitten in der Abflughalle ohne Hose da. Ihr ausgeleierter Slip hatte exakt dasselbe Grau wie die überall ausgebreiteten Herrenunterhosen.
Sein Vater rappelte sich soeben mit verdutztem Gesicht vom Boden auf. Eine der Unterhosen hatte sich in seinem filzigen Haar verfangen.
Sämtliche Leute in der Nähe waren stehen geblieben, um auch was von dem ungeheuerlichen Spektakel mitzukriegen.
Ein kleines Mädchen zeigte lachend mit dem Finger auf die Goldbergs und hinter vorgehaltenen Händen wurde verschämt gekichert. Handys wurden gezückt und Cleo wurde speiübel, als er daran dachte, dass seine Eltern in wenigen Minuten wohl die Sensation auf YouTube sein würden.
Kurz schien die Welt stillzustehen.
Dann brach die Hölle los.
Die Flughafenpolizei rückte unverzüglich an und legte Cecilia in Handschellen. „Sie sind verhaftet wegen Erregens öffentlichen Ärgernisses!“, bellte der Polizist. „Und ziehen Sie um Gottes willen diese Hose wieder hoch!“
Währenddessen näherte sich sein Kollege mit erhobener Waffe vorsichtig Colin, als ob dieser ein gefährlicher Terrorist wäre.
Auf Cleo achtete niemand. „Ein Terrorist mit einer Unterhose auf dem Kopf, was für ein Witz“, dachte er und sein Vater tat ihm plötzlich leid.
Obwohl er sich am liebsten auf dem Absatz umgedreht und irgendwo weit entfernt von diesem Fiasko verkrochen hätte, trat er zögernd einen Schritt näher. „Ehm ...“, sagte er und seine Stimme quietschte ein bisschen. Niemand hörte ihn.
Zwei Sicherheitsleute versuchten, die glotzende Menge zum Weitergehen zu bewegen.
„Es gibt nichts zu sehen“, rief eine Polizistin und probierte, den Gaffern die Sicht zu versperren.
„Ehm, Entschuldigung?“, versuchte es Cleo erneut, etwas lauter diesmal, und räusperte sich.
Die Polizisten wandten sich um und blickten ihn etwas erstaunt an.
„Das ... das sind keine Terroristen. Und meine Mutter wollte auch kein öffentliches Ärgernis erregen.“ Cleo seufzte. „Das sind nur ... meine Eltern“, schloss er und seine Stimme, die laut zu sprechen begonnen hatte, wurde gegen Ende immer leiser, bis er ganz verstummte und die Polizisten groß ansah.
„Eltern?“, fragte der Polizist neben Colin und erst jetzt schien er die Unterhose auf dessen Kopf zu bemerken.
Cecilia blickte Cleo unheimlich dankbar an. Colin nickte eifrig, wobei die Unterhose endlich herunterrutschte und zwischen den anderen am Boden landete. „Ja, Eltern, ganz zweifellos“, versicherte er und rückte seine Brille gerade.
„Na, wenn das so ist ...“, murmelte der Polizist und befreite Cecilia von den Handschellen.
Dann ging alles ganz schnell. Cecilia band die Träger der Latzhose kurzerhand in einer Schleife um ihren Hals, damit sie nicht herunterrutschte. Die Unterhosen wurden wieder in den Koffer gestopft. Dann ertönte durch die Lautsprecher auch schon die Durchsage, dass sich Cecilia und Colin Goldberg sofort und unverzüglich am Gate D43 (und nicht etwa D34) einfinden sollten. Woraufhin wieder Hektik ausbrach.
Colin drückte Cleo sein Flugticket in die Hand, rief: „Du musst zu A86!“, und zog ihn kurz ganz fest an sich, bevor er humpelnd davoneilte.
Cecilia drückte Cleo einen feuchten Schmatzer auf die Wange, wischte sich einmal kurz über die Augen und sagte: „Bis in zwei Wochen, Schatz, grüß Onkel Cornelius von uns!“
Dann waren sie weg.