Читать книгу Cleo & Leo - Rebecca Vonzun-Annen - Страница 13

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Cleos Taxi brauste über eine breite Landstraße. Die Gegend, die an seinen Augen vorbeizog, war eben und weit. Riesige Felder mit Raps, Tulpen oder Weideflächen wechselten sich ab und liefen wie ein bunter Film vor dem Autofenster: gelb – rot – grün – braun … gelb – rot – grün – braun … Dazwischen befanden sich in regelmäßigen Abständen Kanäle, welche in geometrischer Geradlinigkeit die Landschaft unterteilten und ein Muster zwischen Wiesen und Äcker zeichneten.

Der Himmel war strahlend blau. Einzelne Wolkenfelder zogen vorbei – fast wie eine Schafherde. Am Horizont konnte Cleo einige Windräder erkennen, welche sich stumm drehten – elegante Riesen, einer neben dem anderen.

Cleo war auf einmal furchtbar aufgeregt.

„Ungefähr zwanzig Minuten“, hatte der Taxifahrer gesagt, als Cleo ihm Onkel Cornelius’ Adresse genannt hatte. Dann hatte er ihn seltsam angesehen und Cleo war sich nicht ganz sicher, ob der Ausdruck, der kurz in seinen Augen aufflackerte, vielleicht Angst gewesen sein könnte.

Jetzt, so wenige Augenblicke vor dem Zusammentreffen mit seinem Großonkel, fühlte Cleo, wie sich sein Bauch zusammenzog. Im Flugzeug hatte er kurz vergessen, was ihn erwartete. Herr Ecros hatte ihn derart in seinen Bann gezogen, dass er gar nicht mehr an seine eigene missliche Lage gedacht hatte. Doch jetzt strömte alles wieder auf ihn ein: die zwei Wochen weit weg von zu Hause bei seinem unbekannten Großonkel – mutterseelenallein.

Cleo wünschte sich, die Fahrt würde viel länger als zwanzig Minuten dauern. Zweimal so lange. Dreimal. Am liebsten den ganzen Tag. Er schloss die Augen und ließ sich in das weiche Lederpolster sinken.

Nach einer Weile spürte Cleo, wie das Taxi auf einen holprigen Weg abbog. Etwas später bremste der Wagen ruckartig. Waren die zwanzig Minuten etwa schon um?

Erschrocken riss Cleo die Augen auf. Das Taxi stand vor einem riesigen Haus. Eigentlich glich es mehr einem Schloss. Es war aus schwarzem Stein gebaut und ragte weit in den Himmel empor. Unzählige Türmchen und Erker schmückten es und irgendwie sah alles ein wenig krumm aus. Das Haus war von hohen, dunklen Bäumen umgeben. Die schwarzen Riesen warfen ihre Schatten auf den brüchigen Stein, was dem Ganzen einen unheimlichen Charakter verlieh.

Das Haus stand hinter einer hohen Mauer. Ein gewaltiges Tor aus Eisen versperrte die Einfahrt. Es hatte oben scharfe Spitzen, welche es unmöglich machten, darüber hinwegzuklettern.

Cleo schluckte. Das Tor und die Mauer weckten in ihm den Gedanken an ein Gefängnis. Auf einmal hatte er das furchtbare Gefühl, dass er dort vielleicht nie wieder rauskäme, wenn er erst mal drin war. Die Mauer war zu hoch. Das Tor zu gefährlich. Und vorne am Tor war ein riesiges, massives Schloss befestigt, das man auch nicht einfach so knacken konnte. Cleo war sich bombensicher, dass der Schlüssel dazu irgendwo aufbewahrt wurde, wo man nicht einfach so herankam.

Wieder einmal stellten sich Cleos Nackenhaare auf und er bekam am ganzen Rücken Gänsehaut. Er wollte da nicht rein! Auf keinen, aber auch gar keinen Fall!

Leider war Cleo erst elf. Und als elfjähriger Junge bleibt einem bei den meisten Erwachsenendingen einfach keine Wahl. So auch jetzt.

Der Taxifahrer riss den Kofferraum auf und knallte Cleos Tasche auf den Kiesweg vor dem Tor. Dann öffnete er die Tür und machte eine ungeduldige Handbewegung. „Na los, Junge, mach, dass du rauskommst! Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit ...“ Cleo beobachtete, wie der Taxifahrer einen nervösen Blick auf das von dunklen, hohen Bäumen umgebene Haus hinter dem Tor warf, bevor er wieder zu Cleo guckte.

Den Jungen durchlief es eiskalt. Diesmal gab es keinen Zweifel. Im Blick des Taxifahrers hatte Cleo für einen kurzen Augenblick Angst gesehen.

Ein erwachsener Mann, der Angst hatte! Cleo wollte nichts wie weg hier. Stattdessen kramte er in der Tasche seines Kapuzenshirts nach ein paar Scheinen und reichte sie dem Taxifahrer. Dieser schnappte sich das Geld, ohne groß nachzuzählen. Er lief um den Wagen herum, hielt plötzlich inne und drehte sich nochmals kurz zu Cleo um.

„Viel Glück, Junge“, murmelte er fast unhörbar und brauste dann – diesmal ganz ohne Zweifel in großer Eile – mit spulenden Reifen davon. Kies spritzte auf Cleos Turnschuhe, eine Staubwolke wirbelte auf und vernebelte Cleo die Sicht.

Dann war er alleine.

Was sollte er tun? Mit Ausnahme des Anwesens hinter der Mauer war hier ... nichts. Onkel Cornelius’ Haus stand inmitten der riesigen Ebene, welche Cleo bereits auf der Fahrt hierher gesehen hatte. Rund um die Steinmauer herum stand hohes Gras – eine Wiese, die ganz eindeutig nicht von einem Bauern genutzt wurde, denn die Halme sahen wild und verwahrlost aus und wucherten allem Anschein nach schon seit Ewigkeiten so vor sich hin. In der Ferne sah Cleo, wie die Ebene sanft zu einem Hügel emporstieg. Auf dem Hügel war eine alte Windmühle zu erkennen: kein modernes Windrad, wie Cleo sie auf dem Weg hierher gesehen hatte, sondern eine echte Mühle mit riesigen Schwingen.

Rund um ihn herum war nichts als Wiese. Keine Häuser, keine Straßen, nichts. Nur das unheimliche Schloss mit seinem Park und der Schotterweg, auf dem ihn das Taxi hergebracht hatte.

Cleo schluckte. Er stand mutterseelenallein vor dem Eisentor, seine Tasche lag vor ihm im Kies und er wusste nicht, was er tun sollte. Weglaufen konnte er nicht. Er hatte fast sein ganzes Geld dem Taxifahrer gegeben. Mal abgesehen davon hatte er keine Ahnung, wohin er hätte gehen sollen.

Also blieb ihm keine Wahl. Er musste da rein. Denn einfach hier stehen bleiben für zwei Wochen konnte er wohl kaum.

Zögernd trat Cleo ans Tor. Die Bäume rauschten im Wind und irgendwo schrie eine Krähe. Cleo mochte keine Krähen. Rechts neben dem Tor hing eine Glocke, die er erst jetzt bemerkte. Da er nirgendwo eine Klingel oder etwas Ähnliches entdecken konnte, zog er schließlich an der Kette, die daran herunterbaumelte. Ein dunkler, erstaunlich lauter Ton erklang.

Zuerst passierte gar nichts.

Die Krähe schrie erneut, der Wind rauschte in den Blättern und ließ die hohen Bäume sanft hin und her wanken.

Cleo wollte sich bereits mutlos neben seine Reisetasche setzen, denn Onkel Cornelius schien nicht zu Hause zu sein. Er wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte oder beunruhigt. In diesem Augenblick öffnete sich das haushohe Eisentor quietschend wie von Geisterhand.

Cleos Finger schlossen sich fest um die Griffe der Tasche. Seine Knöchel traten weiß hervor. Dann biss er die Zähne zusammen. Mutig setzte er sich in Bewegung – zögernd zwar und nur ganz langsam, aber fest entschlossen, nicht nochmals zurückzusehen.

Der Kies unter seinen Turnschuhen knirschte unheilvoll und Cleo zog den Kopf zwischen die Schultern, als ein weiterer Krähenschrei an sein Ohr drang. In diesem Augenblick zerriss ein lautes Scheppern die Stille. Cleo fuhr zusammen, als das Tor hinter ihm erbarmungslos zuknallte. Ein hohles Klicken erklang, als das Schloss einrastete. Cleo sprang mit einem Satz zurück, rüttelte fieberhaft abwechselnd am Türgriff und den Eisenstäben – vergeblich. Wie eine kalte Kralle griff die nackte Angst nach Cleos Herz, als er begriff, was passiert war: Er war eingeschlossen.

Verzweifelt ließ er sich den Stäben entlang auf den staubigen Boden gleiten. Cleo ließ den Kopf auf die Knie sinken. Er bemerkte, dass seine Hände zitterten. Sein Herz pochte wie verrückt. Cleo schloss die Augen und lauschte darauf, wie sein Puls allmählich wieder langsamer ging und sich sein Atem nach und nach beruhigte. Bald war nur noch das Rauschen in den Baumwipfeln zu hören und ab und zu der Schrei der Krähe.

Cleo begriff, dass er nicht ewig hier sitzen konnte. Noch war es zwar heller Nachmittag, aber in ein paar Stunden würde die Dämmerung hereinbrechen. Außerdem hatte er heute noch nichts gegessen und sein Magen knurrte. Zudem: Obwohl es bereits April war, fühlte sich der Boden kühl an und Cleo spürte, wie er fröstelte.

„Was kann schon Schlimmes passieren?“, fragte er sich. Seine Eltern hatten ihn zu Onkel Cornelius geschickt. Die würden ihn doch niemals an einen gefährlichen Ort gehen lassen! Außerdem war Onkel Cornelius sein Großonkel, ein Verwandter.

Auch wenn sich bereits wieder einige Zweifel in seine Gedanken zu schleichen begannen, beschloss Cleo, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. Er rappelte sich auf, wischte sich den Staub von der Hose, griff erneut nach seiner Reisetasche und machte sich mit entschlossenem Schritt auf den Weg zum schwarzen, verwinkelten Gebäude vor sich.

Je näher er kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Gerade als er seinen eigenen Mut verwünschen wollte, öffnete sich vor ihm mit leisem Quietschen die große, schwere Holztür, welche ins Haus führte. Cleo merkte, wie er neugierig wurde. Zögernd näherte er sich der geöffneten Tür, konnte jedoch im Inneren nichts erkennen. Es war zu dunkel. Außerdem meinte er, einen kühlen Hauch zu spüren, welcher aus dem Anwesen ins Freie drang. Cleos Nackenhaare stellten sich auf. Trotzdem wagte er sich Schritt für Schritt vor – bis er schließlich über die Schwelle trat. Noch bevor es geschah, ahnte er es bereits und so zuckte er nur leicht zusammen, als die Holztür hinter ihm mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.

Cleo stand im Dunkeln. Es war totenstill. Er ließ seine Reisetasche auf den Boden fallen. Das Geräusch, als sie auftraf, klang hohl, als ob er sich in einer riesigen Halle befände. Oder in einer Kirche.

Nach einer Weile gewöhnten sich Cleos Augen etwas an die Dunkelheit. Er stellte fest, dass er sich tatsächlich in einer Art Halle befinden musste – die Decke war hoch und der Raum riesig. Vereinzelt brannten ein paar Kerzen, welche in Halterungen an den Mauern befestigt waren. Ihr flackerndes Licht reichte jedoch kaum ein paar Meter weit. An den Wänden befanden sich schwere Samtvorhänge, die das Tageslicht unerbittlich am Hereinkommen hinderten. Daneben hingen mannshohe Bilder mit dunklen Gestalten, welche in seltsamen Kleidern steckten und mit ausdruckslosen Blicken auf Cleo herabzuschauen schienen. Ob das alles Verwandte von ihm waren? Cleo blickte sich um. Möbel gab es hier keine, auch keine Teppiche. Deswegen klang wohl alles so hohl.

Im selben Augenblick durchfuhr es ihn eiskalt und sein Herz blieb für einen Moment einfach stehen. Dort in der Ecke stand jemand! Eine lange Gestalt in einem wogenden Gewand. Stocksteif stand sie da, bewegte sich keinen Millimeter und Cleo war sich zuerst nicht sicher, ob es sich vielleicht um eine Skulptur handelte. Aber dann erkannte er Augen. Augen, die – trotz der Entfernung und der Düsternis – erstaunlich klar zu erkennen waren. Augen, die auf Cleo gerichtet waren und ihn durchdringend anstarrten.

Nun war es um Cleos Selbstbeherrschung geschehen. Mit einem leisen Schrei machte er kehrt und begann verzweifelt, an der verschlossenen Tür zur rütteln, die sich natürlich keinen Millimeter rührte.

Zuerst nahm Cleo das Geräusch nicht wahr, das an sein Ohr drang. Dann aber hielt er verwirrt inne und ließ schließlich beide Arme sinken. Jemand lachte. Zunächst nur leise, aber dann laut und schallend. Es war kein amüsiertes Lachen, sondern klang furchterregend. Cleo starrte auf die Holztür vor sich. Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein! Das Lachen klang genauso wie ...

Als Cleo sich umdrehte, verschluckte er sich vor Schreck beinahe. Die Gestalt, die kurz zuvor noch in der entfernten Ecke gestanden hatte, befand sich nun direkt vor ihm. Nach wie vor waren die Augen starr auf ihn gerichtet, aber der Mund war zu einem breiten Grinsen verzogen.

Cleo schluckte. Schloss für einen Moment die Augen. Öffnete sie wieder. Es gab keinen Zweifel. Vor ihm stand breit grinsend und dennoch mit seltsam leerem Blick der Mann aus dem Flugzeug: Herr Ecros.

„Aber ...“, flüsterte Cleo und fühlte sich, als ob er mitten in seinem eigenen Albtraum gelandet wäre.

„Na, na, na, Jungchen, wieso denn so schreckhaft?“, gluckste im selben Moment Herr Ecros und schnalzte mit der Zunge. „Willkommen in meinem bescheidenen Heim! Du musst Cleopatra sein ...“

„Cl...cleo“, beeilte er sich zu sagen. Unheimlichkeit hin oder her – was seinen Namen betraf, verstand Cleo keinen Spaß.

„Cleo, aber klar“, dröhnte Herr Ecros, und ehe es sich Cleo versah, war er in einer alles umhüllenden Umarmung versunken und steckte mit dem Kopf voran im Umhang von Herrn Ecros. Der unverkennbare Geruch nach abgestandenem Schweiß ließ ihn schwer schlucken und kurz fragte er sich, ob der Mann ihn wohl in seinem Umhang ersticken wollte.

Da hatte ihn Ecros aber auch schon wieder von sich gestoßen. „Ich bin dein Großonkel Cornelius“, stellte er sich vor und grinste schon wieder breit und irgendwie gruslig.

Cleo taumelte zurück. Cornelius? Das war Großonkel Cornelius? Nie und nimmer. Außer wenn er mit Nachnamen Ecros hieße. Dabei fiel Cleo ein, dass er den Nachnamen seines Großonkels gar nicht kannte. Gleichzeitig entsann er sich, wie seine Eltern ihm erklärt hatten, dass Großonkel Cornelius der Bruder des Vaters von Colin war. Das wiederum bedeutete, dass Cornelius mit Nachnamen Goldberg heißen musste. So wie er selbst. Und nicht Ecros.

„Haha, Jungchen, so ernst?“, riss ihn Onkel Cornelius’ Lachen aus seinen Gedanken. Cleo fuhr zusammen. Irgendetwas passte hier ganz und gar nicht zusammen.

Ein lautes Knurren lenkte ihn von seinen Überlegungen ab und etwas verlegen musste er feststellen, dass es sein eigener Magen war, der diese Geräusche machte.

Wieder lachte Onkel Cornelius laut und lange, ohne dass seine Augen mitlachten. Cleo schauderte. Wäre er nicht so schrecklich müde und hungrig gewesen, wäre er am liebsten schleunigst wieder nach Hause zurückgekehrt. Aber erstens wusste er, dass er hier so einfach nicht wegkam. Und zweitens war ihm das auf einmal gar nicht mehr so wichtig. Alles, was er heute noch wollte, war etwas im Magen, eine warme Dusche und ein weiches Bett. Der Rest konnte warten. Ja, morgen würde er sich um alles kümmern, tröstete sich Cleo stumm, während er Onkel Cornelius in die Küche folgte.

Morgen würde er herausfinden, was es mit seinem Großonkel und Herrn Ecros auf sich hatte. Und dann würde er schon einen Weg finden, wie er möglichst schnell wieder nach Hause kam. Ganz bestimmt.


Cleo & Leo

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