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Kapitel 2

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Bertha ging zum Telefon. „Noch nicht abgemeldet.“, flötete sie mit dem tutenden Hörer in der Hand. Dann tätigte sie ein paar Anrufe.

Kaum eine Stunde später standen die ersten jungen Männer mit kleinen Transportern vor der Tür. Sie begrüßten die alten Damen respektvoll und begannen die Möbel auf die Transporter zu laden.

Neben den Männern schoben sich Frauen in die Wohnung, mit und ohne Kopftuch, schüchtern nickend. Sie packten vorsichtig Kleidung, Geschirr und Blumenvasen ein. Leise unterhielten sie sich.

„Wer ist das?“, flüsterte Inge Bertha ins Ohr.

„Ich habe keine Ahnung. Aber ich glaube, sie können die Sachen gut gebrauchen.“, lachte Bertha und drückte zum Schluss den Männern einen Zettel in die Hand.

Nun standen die zwei Damen in einer leeren Wohnung. Einzig die Bilder von der Kommode standen noch auf dem Fußboden.

„Guck mal Inge, ich habe sogar ein Foto von Frau Heinrich gefunden.“ Bertha stellte das Bild in die Mitte der anderen Fotos.

„Das wird eine tolle Überraschung geben, wenn die Kinder hier auftauchen.“, meinte Inge nervös. Sie ging durch die leeren Räume, die ordentlich und beruhigend wirkten.

„Spürst du das auch?“, fragte sie ihre Freundin. „Es wirkt so einladend.“

„Ja. Und kein Staub der alten Frau Heinrich spukt herum.“

Eine Woche später gingen Bertha und Inge über den Friedhof. In würdevolles Schwarz gekleidet, schlossen sie sich dem Trauerzug an. Es war ein angenehm warmer Herbsttag. Das Zwitschern der Vögel begleitete die Menschenmenge, die sich langsam auf das Grab zubewegte. Goldene Ahornblätter segelten stimmungsvoll zu Boden. Am Ende der Allee blieben alle vor dem offenen Grab stehen. Sie lauschten würdevoll den Worten des Bestatters, der in ruhigem gemäßigtem Ton sprach und eine Litanei vortrug, die für jede Beisetzung passend gewesen wäre.

Noch während der Grabrede begannen die Verwandten zu flüstern. Inge glaubte zu hören, wie sie sich gegenseitig fragten, wer die ganzen Menschen waren, die auf der anderen Seite des Grabes standen. Schuldbewusst blickte Inge zu Boden. Da aber jeder der Fremden der verstorbenen Frau Heinrich seine Ehrerbietung erwies und sich mit einer Blume von ihr verabschiedete, traute sich niemand nachzufragen. Selbst von den Trauernden verabschiedeten sie sich höflich und verließen dann schweigsam den Friedhof.

Schließlich gingen auch Bertha und Inge an der verwirrt blickenden Familie vorbei. Sie murmelten ein paar tröstende Worte und tätschelten fürsorglich kalte, zitternde Hände. Dann eilten sie Richtung Friedhofstor.

„Und nun zu uns!“, sagte Bertha noch mit einem Fuß auf dem Friedhof. „Es wird Zeit, dass wir wieder eine Hauptrolle einnehmen.“

„Was meinst du? Haben wir nicht schon genug angerichtet? Ich will mir gar nicht ausmalen, wie die armen Kinder geguckt haben, als sie in einer leeren Wohnung standen. Musstest du denn alle Sachen Wildfremden schenken? Die Sachen haben noch nicht einmal uns gehört. Das war Diebstahl, Bertha. Dafür können wir ins Gefängnis kommen.“

„Sind wir aber nicht. Und außerdem muss man eben auch Opfer bringen und Risiken eingehen. Eine Rebellion verlangt nach Regelbruch.“

„Rebellion? Regelbruch? Na hör mal, das war nicht nur Regelbruch, das war gesetzeswidrig. Einbruch, Diebstahl und vielleicht sogar Störung der Totenruhe. Bertha.“

„Aber es war nötig. Hat es dich nicht auch gestört, dass es eben genau so immer abläuft? Alte Menschen wie wir, werden nicht mehr ernst genommen. Wir werden vom aktiven Leben ausgeschlossen, und das von unserer eigenen Familie. Und dann, wenn wir endlich tot sind, müssen sie noch unsere Habseligkeiten entsorgen. Ein paar alte Fotos werden in die Handtasche gesteckt und der Rest kommt auf den Sperrmüll. Oder wird zu Geld gemacht. Das Erbe ist doch eh das Einzige, an was die noch denken, wenn wir erst über 80 sind. Und sind wir dann hier...,“ Bertha deutet mit einer wegwerfenden Handbewegung über den Friedhof hinter ihnen. „...spricht man dann nur noch mit den einleitenden Worten, ‚Sie hatte doch ein schönes Leben.‘ oder ‚Sie hatte ein langes Leben.‘ oder ‚Nun braucht sie nicht mehr leiden.‘ über uns. Und auf die Beerdigung kommt dann auch nur ein Drittel der Verwandtschaft und nach einem halben Jahr denkt dann keiner mehr an uns.

Und du musst zugeben, es war doch eine schöne Beerdigung, mit all den dankbaren Menschen. Ich meine sie waren wirklich dankbar. Und ich bin es auch. Nun ist Frau Heinrich nicht umsonst gestorben.“

Bertha zog Inge vom Friedhof weg. Nun wo die Sonne tiefer stand, wurde es kühler. Inge zog ihren Mantel enger um den zarten Körper.

„Ich meine es ernst, Inge. Wir müssen etwas unternehmen, damit von uns mehr bleibt als Staub und Müll. Ich habe die letzten Tage darüber nachgedacht, und bin zu dem Schluss gekommen, dass man sich nicht auf seine Verwandten verlassen kann. Ich weiß wirklich nicht welche Rolle ich noch im Leben meiner Tochter spiele. Und wie sie überhaupt zu mir steht. Auch wenn sie immer sehr besorgt wirkt. So richtig ernst nimmt mich doch schon lange keiner mehr. Und wenn du ehrlich bist, wann hat dir das letzte Mal einer deiner Lieben mal so richtig zugehört? Oder das Herz ausgeschüttet?“

Inge zuckte mit den Schultern. Sie dachte schuldbewusst an ihren Sohn Jens und die Enkel. Auch Katharina, ihre Schwiegertochter gab sich immer solche Mühe, wenn Inge zu Weihnachten zum Essen kam. Ja, die Besuche fielen recht kurz aus. Überhaupt hatte keiner mehr Zeit. Aber sie arbeiteten ja auch viel.

Inge blieb stehen und drehte sich zu Bertha. Leise begann sie zu reden.

„Aber Bertha, bist du jetzt nicht zu hart? Was sollen wir denn schon den jungen Dingern zu erzählen haben?“

„Inge, wir gehören nicht mehr dazu. So ist es. Überleg doch mal. Als wir erst Sechzig, sogar siebzig waren, da waren wir immer dabei. Aber da fing es schon an, wir wurden zu alt für längere Spaziergänge oder Wanderungen. Zu alt für Familienurlaube oder Wochenendausflüge. Niemand wollte uns alte Schachteln im Gepäck haben, wenn sie ans Meer gefahren sind oder in die Berge oder auf Weihnachtsmärkte und Sonntagsausflüge. So ist es dann.“ Bertha musste tief Luft holen. Sie hatte sich in Rage geredet. Aber sie hatte Gehör gefunden. In Inges Gesicht spiegelte sich ihre eigene Einsamkeit.

„Und was hast du nun vor?“, fragte Inge als sie sich immer mehr vom Friedhof entfernten und die Kastanien gesäumte Allee entlang schlenderten.

„Wenn ich einmal dahin zurück muss, werden sich Leute an mich erinnern, die mich jetzt noch nicht kennen. Das verspreche ich dir.“ Geheimnisvoll nickte sie ihrer langjährigen Freundin zu. „Und an dich auch.“

„Zuerst muss aber der Müll weg. Du weißt schon, der Sperrmüll.“ Bertha zwinkerte geheimnisvoll. Dann gingen sie dem Sonnenuntergang entgegen, zwei alte Damen in schwarz mit baumelnden Handtaschen an ihren Armen.

Zwei alte Damen räumen auf

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