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Kapitel 4

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Nachdem Bertha und auch Inge ihre Wohnungen gekündigt hatten, spendeten sie ihre Sachen dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Dann gingen sie Arm in Arm zur Wohnungsgesellschaft. Kurz hielten sie an der verglasten Fassade inne. Dann warfen sie zwei große braune Umschläge in den Briefkasten. Zufrieden strahlend schlenderten sie mit ihren kleinen Reisetaschen ins nächste Café und gönnten sich einen Kaffee mit Likör.

„So, das hätten wir.“, sagte Bertha begeistert. Sie nippte an dem herrlich duftendem Getränk. Sie konnte die Freiheit schmecken. Es war, als wäre ihr eine Kilo schwere Last von den Schultern genommen worden.

„Wir haben es geschafft. Jetzt sind wir ungebunden. Vogelfreie sozusagen.“ Ein zufriedenes Lächeln glitt über die tiefen Falten ihres schmalen Gesichts.

„Inge, ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich fühle. Ich könnte explodieren vor Erregung.“ Bei diesen Worten wurde sie sogar ein wenig rot. Aber die leichte Röte stand ihr gut. Vor allem aber tat ihr dieses Gefühl gut. Nun mussten sie allerdings die Leere füllen. Ihr Leben sollte wieder einen Sinn machen. Sie mussten eine Aufgabe übernehmen. Und was das war, war ihnen bereits beim betreten der Wohnung von Frau Heinrich klar geworden. Sie wollten der Vereinsamung alter Menschen entgegenwirken.

Inge hatte ihren Kaffee ausgetrunken und rührte nun gedankenverloren in ihrer leeren Tasse.

„Und wo wollen wir heute Nacht schlafen?“, fragte sie zögerlich. Diesen Punkt hatten sie bis jetzt nicht angesprochen. Auch wenn er im Hintergrund mitschwang, war es ihnen zunächst am wichtigsten erschienen, loszulassen. Nach 80 Jahren ist loslassen schwerer, als man denkt. Aber sie hatten es geschafft. Also schafften sie nun auch ihre Revolution. Da waren sie sich ganz sicher.

Bertha beugte sich über das kleine Bistrotischchen, dabei beobachtete sie die misstrauisch blickende Kellnerin. Leise flüsterte sie über die welken Astern hinweg.

„Ich habe eine alte Villa ausfindig gemacht, die seit Jahren nicht mehr bewohnt wird. Dort werden wir schlafen.“

„Du willst doch nicht etwa da einbrechen?“, fragte Inge ängstlich.

„Bschscht. Wir werden ja gar nicht einbrechen. Ich habe mir doch das Kartenhandy gekauft.“ Inge nickte. „Also, wir rufen einen Schlüsseldienst an und sagen, wir haben den Schlüssel verloren.“

„Und wenn der Mann vom Schlüsseldienst merkt, dass das nicht unsere Villa ist?“

„Da wird mir dann schon was einfallen. Ich denke wir sollten jetzt bezahlen, bevor die neugierige Kellnerin noch die Polizei ruft.“

Die Kellnerin hatte am Kuchentresen gelehnt und die beiden Seniorinnen argwöhnisch beobachtet.

Eine Stunde später standen zwei zierliche alte Damen mit Reisetaschen auf dem Treppenabsatz der alten Villa in der Benediktinergasse. Der Mann vom Schlüsseldienst blickte ungläubig von der Einen zur anderen.

„So, und wer von ihnen wohnt denn nun hier?“, fragte er. Wobei sein Doppelkinn nachdrücklich bebte. Er war nicht unfreundlich. Aber er zweifelte doch an der Tatsache, dass die beiden alten Damen rechtmäßig zu dieser verwilderten Villa gehörten. Das Gartentor hatte sich nur mit sehr viel Mühe quietschend öffnen lassen und auf dem zugewucherten Weg waren die Pflastersteine kaum noch zu erkennen.

„Sehen Sie, junger Mann.“, begann Bertha. Sie tätschelte dem etwas korpulenten Mann in blauer Latzhose, fürsorglich den Arm. Dabei atmete sie bewusst schwer und seufzend. Dann fuhr sie fort. „Mein armer Neffe, der in Übersee lebte, ist nun kürzlich verstorben. Denken sie nur, mit 65 Jahren. Ein Herzinfarkt, einfach so. Dabei habe ich das arme Kind seit Jahren nicht gesehen. Und doch hat der Junge an seine liebe Tante gedacht und der schönen Zeit, die wir hatten. Einmal waren wir ...“, weiter kam Bertha mit ihrer Geschichte nicht.

„Ja schon gut.“, unterbrach der Mann die Erzählung, bevor sie zu ausschweifend wurde. „Und diesem Neffen gehörte die Villa?“, fragte er ungeduldig.

„Ja ja, so ist es. Das wollte ich ihnen doch gerade erzählen. Aber wenn sie mich dauernd unterbrechen. Also, als mein lieber Albert starb, hatte er mir und meiner Cousine, wir sind seine einzigen Verwandten, diese alte Villa vererbt. Nun sind wir extra angereist.“ Bertha wies auf ihre Reisetaschen. „Und haben dummerweise den Schlüssel zu Hause auf dem kleinen Tischchen in der Diele liegen lassen. Ich habe noch zu Inge gesagt, vergiss den Schlüssel nicht, aber natürlich hat sie ihn vergessen. Wie damals, als wir nach Usedom wollten. Da hat …“

„Schon gut. Schon gut. Ich mach ihnen ja die Tür auf. Aber nur gegen Bares.“

„Selbstverständlich bezahlen wir ihre Mühe sofort. Es wäre ja zu schade, wenn wir extra wieder fahren müssten, nur um den Schlüssel zu holen. Soviel Hin-und-Her-Reiserei das halte ich nicht durch. Ich fühl mich jetzt schon ganz schwindelig.“ Bertha legte ihre rechte Hand auf die Brust und taumelte etwas. Was den Schlüsseldienstmitarbeiter veranlasste, nun möglichst schnell die Tür zu öffnen, bevor die alte Frau ihm noch tot in die Arme fiel.

„So bitte schön, die Damen.“ Er hielt ihnen sogar die schwere Tür auf. Bertha drückte ihm das Geld in die schwieligen Hände und schloss die Tür.

„Das war filmreif.“ Inge klatschte begeistert in die Hände. Und Bertha deutete sogar eine kleine Verbeugung an. Doch gleich darauf wurden sie still. Es war unheimlich, Staub und Spinnweben überall.

„Wie lang ist die denn schon unbewohnt?“, fragte Inge leise.

„Das weiß ich auch nicht. Aber schon lange.“ Bertha schlich durch die große Eingangshalle. Unter ihren Füssen knarrten die Holzdielen. Eine breite geschwungene Treppe führte nach oben.

„Das ist ja fantastisch, wie bei ‚Vom Wind verweht‘. So ein schönes Haus. Wie kann man das nur so herunterkommen lassen?“ Inge war gerührt. Sie betrat den linken Flügel. Ein Esszimmer mit angrenzender Küche. Alte Möbel standen, wie Geister in den Ecken, zugehängt mit großen weißen Laken. Stuck rahmte die Wände und Decken.

Fast ehrfürchtig gingen die Frauen durch den großen Raum und betraten die Küche. Gegenüber der Tür war ein großes Fenster. Durch dies hindurch konnte man in den einst herrschaftlichen Garten sehen. Unter dem Fenster stand das Spülbecken.

Bertha ging zum Wasserhahn. Erst das gurgelnde Geräusch, holte nun auch Inge in die Realität zurück.

„Wir müssen das Tageslicht nutzen und einige Räume bewohnbar machen.“, meinte Bertha. Sie sah der braunen Flüssigkeit zu, die den Wasserhahn plätschernd verließ. Aber nun mit jedem verrinnenden Liter klarer wurde.

„Sieht so aus, als hätten wir schon mal fließendes Wasser.“, sagte sie zufrieden.

„Sind wir jetzt Hausbesetzer?“, wollte Inge wissen. Und ein wohliges Kribbeln glitt über ihren Körper. „Cool“, sagte sie leise. „Das ist wirklich ... cool.“ Das Wort klang so ungewohnt aus ihrem Mund und doch mochte sie es. Nichts schien ihr jetzt besser dazu zu passen.

Das Haus war ein Glücksgriff. Die Toilette funktionierte und Wasser hatten sie auch. Sogar Strom gab es. Allerdings wollten sie das Licht nicht benutzen, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Nachdem sie alle Räume soweit begutachtet und festgestellt hatten, dass das Haus ungewöhnlich gut erhalten war, es tropfte kein Wasser durch die Decke und das obere Stockwerk schien auch nicht baufällig zu sein, machten sich die Freundinnen auf den Weg das Nötigste für die erste Nacht zu besorgen. Also Schlafsäcke, Putzzeug und Essen. Inge hatte dann noch die geniale Idee batteriebetriebene Lichterketten mitzunehmen, und einen Schreibblock, immerhin mussten sie ja eine Rebellion planen.

An diesem Abend putzten sie noch die Küche und das Esszimmer. Dort richteten sie sich dann mit ihren Schlafsäcken ein. Unter den großen Laken hatten sie nicht nur einen wunderschönen geschwungenen Tisch gefunden, sondern auch Sessel, Stühle, ein Sofa und ein Chaiselongue.

Sie hatten den Staub zusammengefegt und aufgewischt. Nun war es richtig gemütlich. Ihre Schlafsäcke breiteten sie auf den Polstermöbeln aus. Dann legten sie sich hin. Der Stoff der Schlafsäcke raschelte leise bei jeder Bewegung. Das ist ja fast wie im Zeltlager, dachte Bertha.

„Und was nun?“, fragte Inge in das Halbdunkel des Esszimmers hinein. Sie hatte ihren Haarknoten gelöst und einen silbrigen Zopf geflochten. Bertha lag auf dem Rücken. Ihre Hände lagen unter ihrem Kopf. Sie starrte in den Kronleuchter und beobachtete die Lichtreflexionen der Lichterkette.

Tief atmete sie ein. Dann drehte sie sich Inge zu.

„Wir müssen unsere Rebellion planen. Überlegen was wir tun können gegen die Vereinsamung und Ausgrenzung von Senioren. Wo und wie man Menschen und Institutionen erreicht. Aktivierung, Inge. Aktivierung.“, sagte Bertha müde.

„Ja, das machen wir. Aber erst morgen. Heute wird sich ausgeruht. Es war ein langer aufregender Tag gewesen.“ Inge gähnte.

„Ab Morgen sind wir dann Aktivisten!“

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