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Kapitel 3

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„Mutti ist weg!“ rief Sybille ins Wohnzimmer. Gerade war sie nach Hause gekommen. Sie schleuderte wütend ihre große Handtasche über die Sessellehne und lies sich keuchend auf das Sofa fallen. Ihr hübsches kleines Einfamilienhäuschen am Stadtrand war ihr Rückzug, ihr Ruhepol. Tagsüber musste sie dies mit dem lärmenden Alltag in der Redaktion tauschen, dann freute sie sich auf ihre kleine stereotype Idylle.

Seit 10 Jahren arbeitete sie in der Redaktion des Bodenauer Boten. Ihr Durchbruch als Journalistin ließ aber noch immer auf sich warten. Meist war sie nur Allroundsekretärin oder eine Art Lektorin für ihre Kollegen. Sie verbesserte Grammatik, Ausdruck und Rechtschreibung in den Artikeln der „richtigen“ Journalisten. Doch es gab Zeiten, da war so viel zu tun, dass Sybille ihre eigenen kleinen Artikel bekam. Und so hoffte sie immer noch auf ihre Chance.

Heute war einer dieser Tag gewesen, wo sie sich am liebsten in irgendein Mauseloch verkrochen hätte. Im Großen und Ganzen lief gerade ziemlich wenig. Was hieß, dass alle Kollegen wie wild im Internet recherchierten, um irgendwelche interessanten Lückenfüller zu finden, und ihr Chef nur noch am Brüllen war, die ganze Belegschaft runter machte und alle kündigen wollte, wenn nicht bald was Brandheißes auf seinem Schreibtisch lag.

Sybille hatte manchmal so die Schnauze voll. Am liebsten würde sie alles hinwerfen und irgendwo neu anfangen. Daher wollte sie heute einen Abstecher zu ihrer Mutter machen. Bertha wohnte in der Innenstadt, nicht weit von der Redaktion entfernt. Eine Tasse Tee mit Mutti und das Herz ausschütten, dann würde es ihr besser gehen. Doch als Sybille mehrmals in dem Mehrfamilienhaus in dem ihre Mutter wohnte geklingelt hatte und niemand aufmachte, begann sie sich Sorgen zu machen. Bertha war bereits über 80 Jahre. Vielleicht war etwas passiert? Eigentlich war sie doch immer zu Hause.

Sybille kramte ihr Handy aus der Tasche und wählte Berthas Nummer. Dann klemmte sie sich das Gerät unter ihre braunen Locken und suchte weiter in der Tasche, während sie ins Handy lauschte. Wo war jetzt der verdammte Schlüssel, dachte sie. Dann erklang im Hörer eine Stimme. Sie wollte gerade ins Telefon rufen, „Mutti wo steckst du, mach bitte die Tür auf.“ da hörte sie eine elektronische Ansage, „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Verwirrt schaute Sybille ihr Handy an. In ihrer rechten Hand hielt sie den Ersatzwohnungsschlüssel ihrer Mutter. Leise klirrten die Schlüssel gegeneinander, als sie nachdenklich die Finger bewegte. Dann schloss sie die Tür zum Treppenhaus auf.

Sie ging langsam in den zweiten Stock. Vorsichtig schaute sie den Treppenaufgang nach oben, als erwarte sie irgendetwas zu sehen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Wann hatte sie das letzte Mal mit ihrer Mutter telefoniert? Vor zwei Wochen, oder drei Wochen? Sie wusste es nicht genau. Mit zittrigen Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Langsam öffnete sie die Tür.

„Mutti?“, rief sie sehr leise und zaghaft. Sybille hatte Angst. Was würde nun auf sie zu kommen? Notarzt rufen, vielleicht die Polizei. Bestattungsunternehmen abklappern und die Sperrmüllabfuhr bestellen. Die Zeit, die sie gebraucht hatte um bis zur Wohnung hinauf zu steigen, hatte gereicht sich sämtliche entsetzliche Szenarien auszumalen.

Als die Tür offen stand, konnte die hochgewachsene Frau das Bild, das sich ihr bot, nicht verarbeiten. An alles hatte sie gedacht, aber das hatte sie nicht erwartet. Sie stand in einer völlig leeren Wohnung. Nichts war mehr da. Kein einziges Möbelstück, keine Kleider, kein Zahnputzbecher im Bad. Nichts, einfach nichts. Sie ging hastig durch den kleinen Flur, blickte links in die verlassene Küche, doch nur der Herd stand noch dort. Ihre Finger berührten die kalten Kochflächen, der Duft von Möhrensuppe stieg ihr in die Nase. Sie hatte Möhrensuppe geliebt. Bertha musste sie fast jede Woche kochen, als Sybille noch ein Kind war. Nun blickte die erwachsene Sybille aus dem Küchenfenster und sah auf die gelben Blätter der Birke, die sich leise im Wind bewegten. Sie verstand es nicht. Wo war ihre Mutter? Kälte kroch an ihr hoch.

Sybille ging ins Wohnzimmer. Ihre Schritte hallten beunruhigend auf dem Laminat. Wo waren die Möbel, die Teppiche, das große Bild über der Couch? Ihre Blicke wanderten durch den leeren Raum. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Im Fensterbrett stand ein einziges Foto. Sybille im Krankenhaus mit Florian im Arm und Bertha, die stolze Oma daneben. Das war alles gewesen.

Sie schloss die Tür hinter sich und ging zum Auto. Was sollte sie jetzt tun? Wie in Trance fuhr sie nach Hause.

Die Ruhe und der Frieden der Vorstadt legten sich über sie. Aber sie konnte das jetzt nicht ertragen. Sie stürmte an den Chrysanthemenbüschen vorbei die Einfahrt hoch, schloss wütend die verglaste Haustür auf und knallte sie hinter sich ins Schloss. Wut hatte sich aus dem Gefühlswirrwarr heraus kristallisiert.

Frank war im Türrahmen stehen geblieben. Er hatte Sybille kommen gehört, verstand aber nicht, was sie gesagt hatte. Er hatte den ganzen Tag auf seinen PC gestarrt und rieb sich nun müde die Augen.

Als Programmierer arbeitete er die meiste Zeit von zu Hause aus. Was ihn manchmal die Welt vergessen ließ.

„Was hast du gesagt? Wie meinst du das ‚Mutti ist weg.‘? Sie ist vielleicht beim Friseur oder bei einer Freundin zum Kaffeekränzchen. Wo soll sie schon sein?“

„Ich meine, sie ist weg. Richtig weg. Ihre Wohnung ist leer. Das hier habe ich auf dem, Fensterbrett gefunden. Sonst nichts. Die ganze Wohnung ist leer.“ Sybille seufze. Sie sank tiefer in das beige Sofa und vergrub ihr Gesicht in den Hände. Dann begann sie leise zu schluchzen.

„Wenn ihr nun was zugestoßen ist?“

„Ich verstehe das noch nicht. Mal ganz langsam. Wo ist deine Mutter? Die Wohnung ist leer? Aber doch nicht ganz leer?“ Frank war zu Sybille gegangen und hockte sich vor sie. Er berührte ihren Arm. Durch ihren Job war sie oft ausgelaugt. Aber so aufgelöst hatte er sie noch nie gesehen, in den ganzen 21 Ehejahren noch nicht.

„Sybille, sieh mich an und erzähl mir noch mal ganz genau, was passiert ist.“, forderte er sie auf. Sybille atmete tief ein. In Gedanken ging sie noch einmal durch die leere Wohnung. Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie versuchte den dicken Kloß der ihr den Hals zuschnürte hinunter zu schlucken. Dann sah sie in die grünen Augen ihres Mannes. Sie setzte sich aufrecht hin und begann zu erzählen.

„Also, ich bin heute nach der Arbeit zu Mutti gefahren. Doch es hat keiner auf mein Klingeln reagiert. Und weil ich mir Sorgen gemacht habe, bin ich mit dem Ersatzschlüssel einfach reingegangen. Aber die ganze Wohnung war geräumt. Bis auf dieses Bild hier.“ Nun weinte Sybille ohne Hemmungen drauf los. Sie hielt das Foto in der Hand und streichelte mit dem Daumen darüber.

Es dauerte eine Weile bis sich Sybille wieder gefangen hatte. Frank überlegte. Was konnte man jetzt tun? Ein Handy besaß seine Schwiegermutter nicht. Sollte man vielleicht zur Polizei gehen? Oder war das übereilt?

Er ging zum Wohnzimmerschrank und holte zwei Gläser und eine Flasche mit braunem Inhalt heraus. Sybille brauchte etwas zur Beruhigung. Er schenkte den Cognac ein und schwenkte ihn vorsichtig hin und her.

„Ich denke, wir sollten die Polizei informieren. Aber zuerst rufen wir im Büro der Wohnungsgesellschaft an. Vielleicht können die uns ja schon weiter helfen.“ Frank kippte den Cognac mit weit geöffnetem Mund herunter. Wärme breitetet sich aus.

Sybille nippte nur an ihrem Glas. Sie war noch immer verwirrt und konnte keinen Gedanken fassen. Fahrig strich sie sich durchs Haar und löste kleine Knoten aus den braunen Strähnen. Das tat sie immer, wenn sie unsicher war. Ihre Wut war Verzweiflung gewichen, jetzt wo sie sich in die Arme ihres Mannes fallen lassen konnte.

„Was sollen wir tun?“, fragte sie nun unsicher und sah ihren Mann ungläubig an. Sie hatte ihm nicht zu gehört. Das einzige, was bei ihr hängen geblieben war, war das Wort ‚Polizei‘.

„Ich suche jetzt die Telefonnummer der Wohnungsgesellschaft raus.“, antwortete Frank ruhig. Als er aufstand, raschelte der Stoff seiner ausgeblichenen Jeans leise. Doch für Sybille war es ein störendes Geräusch, wie wenn Düsenflieger plötzlich über das Haus hinweg flogen.

Sie erschrak. Fast hätte sie das Cognacglas fallen gelassen. Da erst bemerkte sie das Glas in ihrer Hand. Zuvor hatte sie nur aus einer Art Reflex genippt. Nun aber, wo ihr bewusst wurde, was sie da hielt, stürzte sie gierig den Alkohol hinunter. Dann stand sie auf.

„Frank? Was suchst du da? Vielleicht sollten wir...“, weiter kam sie nicht. Frank beendete ihren Satz.

„Die Wohnungsgesellschaft anrufen. Ich hab die Nummer gleich.“

Kurze Zeit später klingelte das Telefon in der Zentrale der Wohnungsgesellschaft. Sybilles Mann sprach mit der Dame der Servicenummer. Sie selbst war zu nervös gewesen und konnte sich nicht konzentrieren.

Nach fünf Minuten legte er auf. Er sah seine Frau an. Die große, sonst so anmutige Frau, wirkte nun klein und in sich zusammen gesunken.

„Deine Mutter hat wohl ihre Wohnung gekündigt. Vor einer Woche ist ein Briefumschlag in der Zentrale abgegeben wurden mit zwei Monatsmieten für die Kündigungsfrist und einem Kündigungsschreiben. Der Wohnungsschlüssel lag auch dabei und eine Anmerkung, dass der Ersatzschlüssel demnächst von ihrer Tochter, also dir, nachgereicht wird.“ Frank beobachtete Sybille, die sich fassungslos auf die Armlehne des Sessels setzte.

„Was soll das bedeuten?“, fragte sie.

„Sie kann doch nicht einfach ihre Wohnung kündigen ohne uns Bescheid zu sagen.“

„Wo sind ihre Möbel? Und wo will sie jetzt schlafen?“ Sybille schüttelte resigniert den Kopf.

Zwei alte Damen räumen auf

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