Читать книгу Die Brücke zur Sonne - Regan Holdridge - Страница 5

Scheinbar endlos zog sich...

Оглавление

Scheinbar endlos zog sich der Highway über die hügelige, abwechselnd mit grünen und braunen Grasbüscheln bewachsene Prärie dahin, trist und eintönig, sich immer wiederholend. Nur hier und dort säumten Sträucher oder kleinere Wälder die breite Asphaltstraße. In der Ferne erhoben sich hellgraue Felsketten wie Wegweiser aus dem Boden, während hinter den wenigen weißen Wolken am hellblauen Himmel die Mittagssonne hervorblinzelte und ihr wärmendes, grelles Licht spendete. Welch ein armseliger Unterschied zur grünen, fruchtbaren Landschaft Südenglands.

Leise eine Melodie pfeifend, lenkte Matthew den schwarzen, viertürigen Jeep die Straße entlang. Er hatte ihn sich gekauft, nachdem sie vor zwei Tagen in Salt Lake City im Bundesstaat Utah angekommen waren, dem Ziel ihres langen Fluges. Zunächst hatten sie sich in der großen Stadt von den Strapazen der Reise – dem ersten Flug für seine Familie überhaupt – erholt, ehe sie gestern weiter bis Shoshone, einer kleinen Stadt im Süden Idahos, gefahren waren. Dort hatten sie eine weitere Nacht verbracht und heute wollten sie die letzte Etappe bis Summersdale schaffen, ihrem neuen Zuhause, jedenfalls für das bevorstehende, nächste Jahr.

Durch das zur Hälfte heruntergekurbelte Fenster dröhnte das monotone, nervtötende Brummen des Motors noch lauter herein, als es ohnehin schon war. Der Jeep hatte bereits einen Besitzerwechsel hinter sich und war nur deshalb so günstig gewesen, weil eine breite, hässliche Beule quer über der Fahrerseite verlief. Matthew konnten derartige Schönheitsfehler nicht aus der Ruhe bringen, er genoss die Fahrt und die endlosen Weiten der vorbeiziehenden Landschaft.

Patty hatte die Beine über die Hälfte der hinteren Sitzbank gelegt und lehnte mit dem Rücken an der Außenverkleidung des Wagens. Er besaß nur vorne Türen, sodass sie nach hinten über die Lehnen der Vordersitze klettern mussten. Allein das wäre schon ein Grund gewesen, gar nicht erst einzusteigen. Sie hielt ihre Augen geschlossen und versuchte, ein wenig zu schlafen, was ihr aber nicht gelang. Immer wieder schreckte sie hoch und stellte zum zigsten Male frustriert fest, dass es kein böser Alptraum war, sondern dass sie wirklich heil und unversehrt, wenn auch geschwächt und elend, in den USA angekommen waren.

Seit sie das Flugzeug in London betreten hatten, schwieg Patty beharrlich, gab nur kurze, mürrische Antworten, wenn sie gefragt wurde und weigerte sich, mehr als irgendnötig zu essen. Jetzt war sie beinahe eingenickt. Schwer sank ihr Kopf gegen die Rückenlehne. Das ungewohnte Klima, die anstrengende Reise – oh, wenn sie doch endlich tief und fest schlafen könnte, eine ganze Nacht lang!

Ihre Schwester hingegen war wieder einmal ganz angetan von allem Neuen in ihrem Leben und das nervte Patty am meisten. Wie konnte sie dauernd zum Fenster hinausglotzen, um von Zeit zu Zeit mit einem Ruf der Entzückung auf irgendwelche hässlichen Felsen oder Bäume zu zeigen? Immerhin war Jean jetzt eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin. Patty spürte, wie sie erneut anfing wütend zu werden – nicht nur auf ihre Schwester, auch auf die ganze Situation in der sie feststeckte und aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Sie verspürte großes Verlangen, einfach mit ihrem Fuß auszuholen und Jean damit kräftig zu treten.

Rachel hockte auf dem Beifahrersitz, die Straßenkarte auf dem Schoß und starrte schläfrig zur Frontscheibe hinaus. Es war bereits nach ein Uhr mittags. Seit über vier Stunden rollten sie nun über die penetrant gleich aussehende Ebene hinweg, wo jeder Fels und Hügel, jeder Wald und Strauch sich in gewissen Abständen zu wiederholen schien. Hin und wieder kamen sie an einsamen Tankstellen oder Ortschaften vorüber, die aus einer Handvoll Häuser bestanden. Mehr schien es hier nicht zu geben. Es erschreckte Rachel beinahe etwas, als ihr bewusst wurde, wie einsam und verlassen hier alles war, im Vergleich zu ihrer gewohnten Umgebung. Matthew stimmte ein neues Lied an, was ihm einen gereizten Blick seiner Frau einbrachte.

„Kannst du nicht endlich diesen Singsang einstellen?!“ Rachel richtete sich ächzend auf und streckte ihre Glieder, so gut es in dem engen Wagen möglich war. „Mir tut alles weh von dem elendigen Sitz dieser Schrottkarre!“ Ungehalten krachte ihre Faust gegen die Verkleidung der Beifahrertür. „Wozu musste dieser Fehlkauf überhaupt sein?! Wozu brauchst du ein solches Auto?! Erstens ist es gebraucht und zweitens gefällt es mir nicht. Diese Geländekübel erinnern mich immer an meine schreckliche Tante Minnie aus Irland – sie ist Bäuerin!“

„Du kannst ja aussteigen und zu Fuß gehen oder mit dem Bus nachkommen“, schlug Matthew ungerührt vor. „Außerdem“, seine Gesichtszüge nahmen einen verträumten Ausdruck an, „habe ich mir schon lange vorgestellt, mit meinem eigenen Jeep über einen amerikanischen Highway zu düsen!“

„Und? Erfüllt dieses stinkende Metallgehäuse auf vier Rädern deine Erwartungen?“ Spöttisch runzelte Rachel die Stirn. „Tu’ mir bloß einen Gefallen: Halte dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung! Im Übrigen lässt sich deine plötzliche Leidenschaft für amerikanische Autos wohl auf deine häufigen Kinobesuche in den letzten beiden Jahren zurückführen? Soweit mich die Eintrittskarten, die du regelmäßig im Mülleimer vergraben hast, informiert haben, bist du Westernfilmen ja regelrecht verfallen!“

Eine Sekunde verschlug es Matthew die Sprache. Dass sie so gut über seine, wie er bisher geglaubt hatte, heimlichen Gepflogenheiten Bescheid wusste, hatte er nicht geahnt. Wütend über seine eigene Dummheit, die Eintrittskarten nicht gleich im Kamin verbrannt zu haben, stieß er hervor: „Oh, entschuldige bitte! Ich habe ja völlig vergessen, dass ich am Ende noch dein Geld verschwende! Hättest du eine bessere Idee gehabt, wie wir von Salt Lake City nach Summersdale kommen? Vielleicht im eigenen Privatjet?“

„Ich sage ja nicht, dass wir kein Auto brauchen“, lenkte Rachel ein, „aber wenn, dann doch wohl eines, das wir nach unseren Wünschen beim Händler bestellen! Das fängt schon bei der Farbe an! Schwarz! In dieser staubigen Gegend und bei den von dir erwähnten Durchschnittstemperaturen ist das eine Zumutung! Und gegen ein bisschen mehr Komfort hätte ich auch nichts einzuwenden…für meinen Standard jedenfalls.“ Sie seufzte. „Aber wir können das Ding ja immer noch verkaufen und uns dafür ein geeigneteres zulegen. Ich hätte gerne einen Cadillac. Was hältst du davon? Der sieht sehr schick aus!“

Matthew schaffte es gerade noch, ein Grinsen zu unterdrücken und erwiderte stattdessen überschnell: „Aber selbstverständlich!“

In diesem Augenblick erklang von hinten eine zornige Stimme: „Ach, das sind doch jetzt sowieso nur sinnlose Diskussionen, die zu nichts führen! Bis wir da sind, entscheidet ihr euch doch noch zehnmal um! Hauptsache, wir kommen endlich an!“

Stöhnend und mit missmutig verzogener Miene räkelte Patty sich auf dem Rücksitz, wobei sie ihrer Schwester einen unsanften Tritt gegen den Schenkel versetzte. Bisweilen musste man eben gewisse Verlangen auch ausleben, nachdem sie dieses nun lange genug unterdrückt hatte.

Jean schreckte aus ihrem Schlaf hoch. „Sind wir schon da?“

„Nein, schlaf weiter“, blaffte Patty sie an. „Bei der Karre geht’s nicht so schnell!“

„Erzähl uns doch mal, wie die Stadt aussieht“, bat Jean ihren Vater munter, ohne ihre Schwester zu beachten. Sie kannte diese Launen schon und machte sich nichts daraus. „Wie groß ist sie? Gibt es dort Museen, wo ich hingehen kann? Und haben sie eine Bibliothek? Das ist das allerwichtigste!“ Sie beugte sich nach vorn.

„Was ist los? Ich dachte, du wolltest schlafen?“, bemerkte Rachel unwirsch. „Für deinen kulturellen Wissensdurst hast du noch früh genug Zeit!“

„Ich will viel lieber wissen, ob es dort gute Modegeschäfte gibt!“, mischte Patty sich nun in das Gespräch ein. „Alles andere ist doch sowieso vollkommen gleichgültig!“

„Sie hat nicht ganz unrecht“, wandte Rachel sich an ihren Mann. „Erzähl uns doch ein wenig etwas! Besonders ausführlich hast du uns bislang ja nicht teilhaben lassen, außer, dass die Stadt Summersdale heißt und du dort in der Klinik arbeiten wirst.“

„Ja…also…“ Sichtlich in Verlegenheit gebracht, rang Matthew um die passenden Worte. „Die Klinik“, begann er nach kurzer Überlegung hastig, „ist natürlich nicht mit unserer in London zu vergleichen! Sie hat eine wesentlich überschaubarere Größe, ist aber trotzdem sehr modern ausgestattet und…“

„Matt!“, unterbrach Rachel ihn. „Die Klinik kann von mir aus lila mit froschgrünen Fenstern sein! Wie ist die Stadt? Ist sie klein oder groß? Ein Provinznest oder wird einem auch etwas geboten? Und ich schließe mich voll unserer Tochter an: Gibt es vernünftige Geschäfte? Ich kann nicht ein ganzes Jahr lang in denselben Kleidern herumlaufen!“

Plötzlich zornig schlug Matthew mit der flachen Hand auf das Lenkrad. „Himmel nochmal! Falls es dir entgangen ist, hatte ich während meines Besuchs nur drei Tage Zeit! Ich bin überhaupt nicht dazu gekommen, mich derartig unwichtigen Dingen zu widmen! Am ersten Tag habe ich mir die Klinik angesehen und die anderen beide Tage war ich damit beschäftigt, eine Bleibe für uns zu finden!“ Spöttelnd fügte er hinzu: „Schließlich bin ich als dein Mann gewöhnt, dass du in keinem Motel absteigst!“

Kopfschüttelnd überging Rachel den letzten Satz. „Schön, dann erzähl uns eben von dem Haus, das du uns organisiert hast. Schließlich wollen wir wissen, wo wir ein Jahr lang wohnen werden.“

„Das hat die letzten sechs Monate auch niemanden interessiert“, rutschte es ihrem Mann heraus. „Außerdem wird eure Geduld noch lange genug ausreichen.“

Patty seufzte genervt. „Gut. Was ist mit der Schule, in die ich gehen soll? Gibt es wenigstens dazu eine genauere Erläuterung? Ich hoffe bloß, sie hat einen ähnlichen Standard zu bieten, wie das Mädcheninternat in London!“

Ihr Vater stieß ein missfälliges Grunzen aus. „Das hier ist keine Gegend, in der die High Society absteigt! Die Schule hat einen sehr ordentlichen Eindruck auf mich gemacht mit netten Lehrern. Mit zweien und dem Direktor habe ich bereits gesprochen.“

„Das freut mich für dich.“ Düster starrte Patty zum Seitenfenster hinaus. Es wurde nicht besser, im Gegenteil. Ihr Leben war zerstört, sie musste in einem Provinznest eine Schule besuchen, vermutlich noch zwischen einfältigen Landkindern und Dummköpfen. Bei der erstbesten Gelegenheit würde sie ausreißen und nach London zurückfliegen, das schwor sie sich!

„Ich bin schon gespannt auf die neue Schule!“, rief Jean übermütig und rutschte ungeduldig auf ihrem Sitz hin und her. „Bestimmt haben ein paar Mädchen hier Pferde und ich kann endlich reiten lernen!“

„Das war ja klar!“ Patty kochte innerlich. „Du kannst ja auch gleich hierbleiben und unter die Kuhhirten gehen, das passt doch zu dir! Du immer mit deinem dämlichen Fimmel für Pferde!“

Ein wenig gekränkt blinzelte Jean ihre kleine Schwester an. „Es muss sich ja nicht jeder so unbeliebt machen wie du, mit deinem eingebildeten Getue!“

„Jetzt hört doch auf, euch zu streiten!“ Matt drückte demonstrativ einige Male auf die Hupe. „Es wird schon für jede von euch hier etwas geben, was euch gefällt!“

„Glaub’ das bloß nicht! Mir genügt schon allein der Gedanke an diese sogenannte Schule, in die ich gehen muss!“, rief Patty trotzig und warf sich gegen die Rückenlehne. „Wahrscheinlich laufen da nur so Trampel und Einfaltspinsel herum wie deine andere Tochter! Das ist ja wohl weit unterhalb meines Niveaus!“

Eine lange Minute herrschte Schweigen im Wagen und nur das unaufhörliche Dröhnen des Motors machte es erträglich. Rachel seufzte und fischte in ihrer Handtasche nach einem Spiegel, um den Sitz ihrer Frisur zu überprüfen.

„Siehst du“, sagte sie verständnislos, während sie an ihrem Pony zupfte, „jetzt sind wir genauso klug wie vorher. Das ist typisch dein Vater – er rückt mit der Wahrheit immer erst heraus, wenn er nicht mehr anders kann!“

Sie ahnte noch nicht, welche Wirkung dieser Satz zum jetzigen Zeitpunkt auf ihren Mann hatte, der beharrlich schweigend, geradezu stoisch seinen neuerworbenen Jeep weiter über den Highway lenkte.

Am frühen Nachmittag entdeckte Rachel zu ihrer Erleichterung das Schild an der Straßenkreuzung, nachdem sie schon geglaubt hatten, daran vorbeigefahren zu sein.

„Da, da steht Summersdale! Seht ihr?“ Ungeduldig deutete sie mit dem Finger darauf. „Gleich sind wir da!“ Lächelnd wandte sie sich zu ihren beiden Töchtern um. „Habt ihr gehört?“

Patty hatte sich wieder auf dem Rücksitz ausgestreckt und gab nur ein kurzes, mürrisches „Lass mich in Ruhe!“ zurück, während Jean den Hals reckte, um möglichst bald schon etwas zu entdecken.

Rachels Laune besserte sich mit jeder Minute. „Wieviele Meilen sind es denn nun noch?“

Matthew bog nach rechts, in die schmälere Asphaltstraße ab, die von da an nicht mehr als Highway gekennzeichnet war, sondern lediglich als Interstate.

„Nun, ich schätze, etwa zehn bis Summersdale“, antwortete er zögernd und starrte mit unbewegter Miene zur Frontscheibe hinaus. Prüfend ruhten Rachels schiefergraue Augen auf ihm. Er spürte es.

„Und weiter?“, hakte sie prompt nach, ein wenig triumphierend, ihn durchschaut zu haben. „Liebling! Vor seiner Frau darf man doch keine Geheimnisse haben!“

„Na…ja…“ Matt versuchte ein verzerrtes Lächeln. „Es ist nichts Dramatisches.“ Irgendwann musste er ja mit der Beichte der Tatsachen anfangen. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. „Es ist bloß…das Haus liegt nicht direkt in Summersdale.“

Verblüfft wiederholte Rachel: „Nicht direkt in Summersdale?“

Mit einem Schlag war Patty wieder hellwach. Sie beugte sich nach vorn. „Heißt das, es gibt dort auch ein Villenviertel?“ Gespannt tippte sie ihrem Vater auf die Schulter. „Sag schon, Paps!“

Matthew sah ein, dass er nun beim besten Willen nicht länger ausweichen konnte – ob ihm vor den Folgen graute, spielte dabei keine Rolle. Er allein hatte sich dafür verantwortlich zu machen. Ein kurzer Seitenblick auf seine Frau genügte, um ihm klar zu machen, dass er ihre Geduld schon überstrapaziert hatte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihm einer ihrer Wutausbrüche erspart blieb.

„Ach, weißt du, Summersdale ist keine allzu schöne Stadt und auch recht laut, aber ein Stück südöstlich davon gibt es eine kleine Ortscha…“ Er schaffte es gerade noch, sich zu korrigieren: „…ein kleines Städtchen namens Silvertown. Dazu gehört unser Haus. Es ist wirklich ganz reizend und hat genau die richtige Größe für uns vier. Als ich es zum ersten Mal gesehen habe wusste ich sofort – das ist es, eine Art Lebenstraum, der in Erfüllung geht!“ Ohne Pause fügte er erklärend hinzu: „Die Entfernung bis Summersdale ist kaum nennenswert und es fährt dreimal am Tag ein Bus für die Schüler.“

„Ein Bus?!“, wiederholte Patty entsetzt. Ihr Leben lang war sie mit keinem Bus gefahren, schon gar nicht zur Schule! Damit ruinierte sie sich ja ihre sämtlichen Kleider!

Matthew tat, als habe er sie nicht gehört. „Ich kann jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit und du, mein Liebling, findest bestimmt auch bald Anschluss und eine nette Beschäftigung.“

„Das heißt“, fasste Rachel schroff zusammen, wobei sie jedes Wort betonte, „du hast für uns ein kleines Kuhdorf irgendwo in dieser staubigen, eintönigen Pampas ausgesucht?!“ Ihre Gesichtszüge unter dem weißen Puder wurden blass.

„So würde ich es nicht direkt nennen!“ Noch stand sie unter Schock, begriff noch nicht das ganze Ausmaß – das war Matthews Chance. „Du kannst dich immer noch aufregen, wenn du es gesehen hast! Aber zuerst will ich euch die Stadt zeigen, einverstanden?“

* * *

Auf der Brüstung, welche die Veranda zum Innenhof abgrenzte, saß ein junges Mädchen mit braunen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und ließ ihre Beine baumeln. Sie biss ein Stück von einem großen, gelben Apfel ab und blinzelte gegen die hochstehende, grelle Nachmittagssonne. Auf den Koppeln grasten einige Pferde und die Stille, die über der Waldschneise lag, erfüllte das Mädchen immer wieder aufs Neue mit Bewunderung für ihr Zuhause. Leise schwang die Haustür hinter ihr auf und gemächliche Schritte traten zu ihr.

„Na?“

Das Mädchen drehte sich lächelnd zu ihrem Vater um. „Was meinst du?“, wollte sie wissen, weiter auf ihrem Apfel kauend. „Wann werden sie da sein?“

Ein Schmunzeln trat auf das Gesicht ihres Vaters. „Irgendwann heute, nehme ich an, aber du musst dich schon noch ein bisschen gedulden!“

„Glaubst du, dass seine Töchter und seine Frau genauso nett sind, wie Doktor van Haren?“

„Oh, ganz bestimmt!“ Ihr Vater tätschelte ihr kurz die Wange. „Was ist? Hast du deine Schularbeiten schon erledigt?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein, um die kümmere ich mich später. Ich gehe jetzt Kitty holen und reite ein wenig aus. Vielleicht sind sie ja schon da!“

Mit einem Kopfschütteln strich ihr Vater sich über das eckige, markante Gesicht. „Selbst wenn, dann werden sie erstmal ihre Ruhe wollen und sich ein wenig von der langen Reise erholen! Du wirst sie wohl kaum vor dem Fest kennenlernen und ich im Übrigen auch nicht – falls es dich beruhigt.“

Seine Tochter seufzte und sprang mit einem Satz von der Brüstung. „Vielleicht doch! Sie wollen bestimmt gleich die Pferde sehen!“

Bedenkliche Falten bildeten sich auf der Stirn des Ranchbesitzers. „Nicht jedes Mädchen ist so verrückt nach Pferden wie du, Amy. Und vergiss nicht, dass die beiden aus einer Großstadt kommen, sie haben womöglich noch nie etwas mit Pferden zu tun gehabt.“

„Ach, Blödsinn!“, winkte seine Tochter überzeugt ab. „Jedes Mädchen will reiten! Das weiß ich ganz bestimmt! Und wenn sie erst einmal da sind, dann habe ich endlich Freundinnen, die nicht so weit weg wohnen, wie die anderen Mädchen!“

Ihr Vater schüttelte lächelnd den Kopf und beobachtete seine Tochter, wie sie über den Innenhof zu einer der Koppeln davonrannte.

„Hoffentlich“, murmelte er leise, zu sich selbst. „Ich wünsche es dir wirklich!“

Er wusste, dass die Abgeschiedenheit und die Entfernung bis zur Stadt nicht einfach für sein einziges Kind waren. Sie lebten hier schon so lange und zu Anfang schien es sie nicht gestört zu haben. Jedoch jetzt, da sie anfing zu wachsen, eine junge Frau zu werden, begann auch die Sehnsucht in ihr zu erwachen, mehr Menschen um sich haben zu haben, Freundinnen, die mit ihr in Zeitschriften blätterten und von Filmstars schwärmten, mit denen sie die Platten der angesagten Bands und Musiker hören konnte. So eine Person gab es hier weit und breit nicht. Die Kinder der umliegenden Ranches waren entweder viel älter oder aber jünger als seine Tochter und wohl auch deshalb war sie so besonders aufgeregt, dass dieser englische Arzt mit dem außergewöhnlichen Namen hier in die Nähe zog – weil er zwei Töchter mitbrachte, von denen die größere genauso alt war wie Amy.

* * *

Silvertown entpuppte sich als kleiner, verschlafener Ort mit knapp dreitausend Einwohnern, für den die Bezeichnung „Städtchen“ schon fast übertrieben schien. Es lag irgendwo inmitten der weiten, blühenden Ebene zwischen Shoshone und Arco im Süden Idahos und erweckte den Anschein, als sei es aus völlig unerfindlichem Grund genau an dieser Stelle aus dem Boden gestampft worden. Sanfte Hügel, die jetzt im Frühjahr mit saftigem Gras bedeckt waren, umgaben es nach allen Seiten und betteten es schützend zwischen ihre Anhöhen. Seine Blütezeit hatte der Ort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt, als riesige Rinderherden daran vorbei, in Richtung der großen Schlachthöfe im Nordwesten getrieben worden waren. Jetzt lebte es hauptsächlich vom Tourismus und den Arbeitsplätzen im knapp zwölf Meilen entfernten Summersdale. Ein glücklicher Zufall, der dem Städtchen sein Überleben gesichert hatte, während andere seiner Art längst in sich zusammenfielen – verlassen und von den meisten Menschen vergessen, bis auch das letzte Haus, das einst mit Mühe und Schweiß errichtet worden war, einstürzte und der Witterung zum Opfer fiel.

Der Straßenzug, der von West nach Ost im südlichsten Teil durch die Stadt führte, war der ganze Stolz Silvertowns und seiner Bürger, denn es handelte sich um die ehemalige, zur Gründerzeit errichtete Hauptstraße. Sie befand sich bis auf ein paar einzelne Gebäude noch in ihrem original historischen Zustand. Sanft schlängelte sich die mit Sand und Rollsplitt aufgefüllte Straße an den im Norden angrenzenden Wohnblocks und Neubaugebieten vorbei, während entgegengesetzt, hinter den letzten beiden Häuserreihen, die Prärie begann.

Gemächlich rollte der schwarze Jeep auf Silvertown zu. Zwischen den ersten Wohnhäusern entlang war die Straße geteert, ehe sie plötzlich scharf nach links abbog. Geradeaus, hinter einigen niedrigen, sichtversperrenden Bäumen begann die historische Altstadt, während der Verkehr gezwungen wurde, diese zu umfahren.

Matthew entdeckte vor dem großen Supermarkt eine freie Parklücke. Er trat aufs Gaspedal, um einem grünen Chevrolet zuvorzukommen, der ebenfalls den Parkplatz anvisierte. Mit offenem Mund verfolgte Rachel die Sandstraße, soweit sie diese hinter dem grünen Geäst der Bäume erkennen konnte.

„Was ist denn das? Soll ich etwa im nächsten Hollywoodwestern die Hauptrolle übernehmen?“

Irritiert blickte Jean um sich. „Wieso? Was war denn?“

Patty verdrehte die Augen. „Sperr einfach deine Augen auf, dann musst du nicht dauernd nachfragen!“

„Jetzt seid doch endlich friedlich!“, kommandierte Matthew, allmählich von dem ständigen Gezanke seiner Töchter redlich entnervt und lenkte seinen Wagen geschickt zwischen die beiden anderen Autos. „Kommt mit! So etwas habt ihr mit Sicherheit noch nie gesehen! Ich zeige euch jetzt etwas ganz Besonderes! Ihr werdet begeistert sein!“

Mit unübersehbarer Eile sprang er aus dem Wagen. Rachel warf ihrer jüngeren Tochter einen langen, Böses ahnenden Blick zu, dann folgte sie der Aufforderung ihres Mannes mit Widerwillen.

„Wenn es dein unverzichtbarer Wunsch ist…ich würde mich lieber in unserem neuen Haus zuerst ein wenig frisch machen. Die Fahrt in diesem Blechkasten war schließlich kein reines Vergnügen!“

„Nachher, mein Schatz, nachher“, versprach Matthew schnell und hakte ihren Arm bei sich unter. „Jetzt kommt erst einmal mit!“

Er führte sie über die wenig befahrene Straße, eine schmale Gasse hindurch, in der schreiend und kreischend eine Horde Kinder spielte und dann um das Eck eines hohen, braunen Holzgebäudes. Im nächsten Moment tat sich vor ihnen die leicht kurvige, ruhige Sandstraße auf. Sie erinnerte tatsächlich an einen Film, wie sie ihn alle aus dem Kino kannten.

Die Gebäude waren fast ausschließlich aus Holz errichtet. Dazwischen stachen einzelne, rote Klinkerbauten heraus. Zur linken Seite hinab befanden sich hauptsächlich die Geschäfte mit den typischen, falschen Fronten, auf denen ihre Bestimmung in bunten Farben aufgemalt war. Nach rechts lag dagegen eine Art Wohnviertel mit kleinen, gut hundert Jahre alten Häusern, die erhalten geblieben und liebevoll im alten, traditionellen Stil hergerichtet waren.

Häufig sprossen zwischen dem Sand und Splitt Unkraut und kleine Wildsträucher, die aber niemanden weiter zu stören schienen, sondern sorglos vor sich hin wucherten. Gerade das Grün verlieh der Stadt eine persönliche Note, ja, etwas Wahrhaftiges, das in den reinen Filmstädten mit ihren Außenfassaden fehlte. Nur wenige Bürger kamen um diese Tageszeit auf den breiten Holzbohlen vor den Gebäuden entlang. Diese dienten als eine frühe Form der Gehsteige, um zumindest stellenweise den Morast von den Schuhen fernzuhalten, in den sich der Sand bei Regen verwandelte.

„Jetzt sieht es zwar aus, als sei es bloß eine Straße“, sagte Matthew in die Stille hinein und er konnte seine heimliche Begeisterung nicht länger verbergen, „aber wenn am ersten Mai die Touristensaison beginnt, könnt ihr euch nicht vorstellen, was hier los ist! Dann kommen sogar Stars von Film und Fernsehen hierher! Natürlich nur solche, die in Western mitspielen!“

Rachel schwieg und betrachtete den Straßenzug eingehend von rechts nach links und wieder nach rechts hinab.

„Grausam“, sagte sie auf einmal. „Einfach furchtbar!“ Verächtlich legte sie den Kopf schief. Ein höhnischer Blick traf ihren Mann. „Hoffentlich passen die Leute hier nicht zu der Straße. Ich kann mir nämlich sehr gut vorstellen was passiert, wenn erst einmal diese Art von Touristen Einzug hält, die sich hier wohl fühlen! Dann wimmelt es wahrscheinlich von Möchtegern-Revolverhelden! Seit dieser ganzen Westernmanie kann man ja sogar in London Cowboyhüte kaufen. Matt! Es wird höchste Zeit für dich aufzuwachen – wir leben im Jahr 1965! Wieso befassen sich die Leute heutzutage noch mit Dingen, die längst vorbei sind und auch niemals wiederkommen werden?“ Rachel machte eine gespannte, lauernde Pause, doch ihr Mann schürzte lediglich die Lippen und wandte den Blick von ihr ab. Sie hob die Brauen. „Kommt, lasst uns gehen. Nicht, dass wir noch in Gefahr laufen, versehentlich über den Haufen geschossen zu werden.“

Während Patty der Aufforrderung dankbar nachkam, hatte Jean weder Rachel, noch Matthew bei ihrem verhaltenen Zank zugehört. Ihr Herz schlug schneller. Fasziniert betrachtete sie die alten Gebäude und sie spürte, wie die Anziehungskraft, die von ihnen ausging, auch vor ihr nicht Halt machte. Welche Geschichten diese Häuser erzählen könnten! Gleich links, das erste Gebäude neben dem sie standen, war ein Saloon. Als Türen besaß er lediglich zwei halbhohe, typische Schwingklappen, wie sie es aus den Hollywoodfilmen kannte und unter dem Balkon baumelte ein riesiges Holzschild an zwei dicken Eisenketten, das dem Besucher seine Funktion verriet: „Big Bear Saloon“.

Neben dem Eingang, im Schatten, den der überstehende Balkon spendete, lehnten zwei Männer an der braunen Holzwand. Sie waren jung, kaum über zwanzig, und sprachen leise miteinander. Beide trugen Bluejeans und Cowboystiefel und einen dazu passenden Hut mit breiter Krempe und verziertem Band. Der vordere, der ihnen den Rücken zuwandte, zog genüsslich an einer Zigarette, während sein Gesprächspartner die Daumen lässig in den vorderen Gürtelschlaufen seiner Hose eingehängt hatte.

Ohne es zu merken, betrachtete Jean ihn unverhohlen. Er war groß und auffallend schlank und besaß strohblondes, leicht gelocktes Haar. Er sah recht gut aus, wobei seine schmalen, weichen Gesichtszüge an die eines Lausejungen erinnerten. Als er laut auflachte, zeigte er eine Reihe gerader, schneeweißer Zähne und plötzlich bemerkte er Jeans unverhohlen neugierige Blicke. Sein Lachen verwandelte sich zu einem breiten Grinsen und er tippte sich mit zwei Fingern zum Gruß an die Krempe seines Hutes.

Unwillkürlich musste Jean ebenfalls lächeln. Etwas an ihm gefiel ihr. Er erinnerte sie daran, wie sie heimlich mit ihren beiden besten Freundinnen und den Jungs aus der Stadt im Park umhergetobt hatte – bis zu dem Tag, an dem Rachel sie dabei erwischte. Das war nun bestimmt schon drei Jahre her. Seitdem verbrachte sie ihre Freizeit nur noch mit Mädchen gleichen Alters und nur noch mit solchen, die Rachel als angemessen empfand. Mit irgendwelchen Kindern von der Straße hatte sie sich nicht zu umgeben – das war ihr seither strengstens untersagt und die Jungs waren ohnehin merkwürdig geworden. Sie wollten sich wie Rebellen und Helden benehmen und taten die Mädchen als „Kinder“ ab. Jean konnte das nicht verstehen. Was war in sie gefahren? Sie waren ebenso erst sechzehn Jahre alt, doch dieser junge Amerikaner dort, keine zehn Schritte von ihr entfernt, schien anders zu sein, ganz anders. Nur äußerlich hatte er sich zu einem jungen Erwachsenen entwickelt, in seinen blauen Augen dagegen blitzte unverkennbar der Schalk – sie konnte sich seinem übermütigen, gutgelaunten Grinsen und der unschuldigen Ausstrahlung nicht entziehen.

In diesem Augenblick drehte Rachel sich um, da ihr auffiel, dass das vierte Mitglied ihrer Familie den Anschluss verloren hatte. Erschrocken zuckte Jean zusammen. „Wie bitte? Hast du mit mir gesprochen? Ich meine…ich wollte fragen: Was tun wir jetzt?“

Mit einem Wimpernschlag hatte ihre Mutter die Situation erfasst. Missbilligend zogen sich ihre Brauen zusammen. Ein eisiger Blick traf den jungen Mann.

„Dieser Umgang dürfte kaum der richtige für dich sein“, raunte sie scharf. „Und jetzt komm endlich!“

Jean fühlte, wie sie errötete und senkte beschämt den Kopf. Sie wusste, dass ihre Mutter es nicht ausstehen konnte, ja, geradezu hasste, wenn sie sich mit Personen abgab, die ihr nicht gut genug erschienen. Deshalb und nur deshalb hatte sie ihr das Spiel mit den Jungs im Park verboten – keiner von ihnen stammte aus der oberen Gesellschaftsschicht Londons. Verschüchtert, ohne sich noch einmal umzusehen, ließ Jean sich von ihrer Mutter zum Jeep zurück dirigieren, während Matt einige Schritte dahinter folgte.

Seine Begeisterung hatte einen gehörigen Dämpfer und sein Mut einen gewaltigen Rückschlag erlitten. In weitem Abstand folgte er seiner Familie zurück zum Wagen. Seine zuvor zumindest im Ansatz noch vorhandene Hoffnung, Rachel könnte sich vielleicht mit den Gegebenheiten abfinden, schwand mit jedem seiner Schritte und er ärgerte sich darüber. Die Minute der Wahrheit rückte unaufhaltsam näher und schon jetzt graute ihm vor dem, was ihm in Kürze bevorstand. Wortlos stiegen sie wieder in den schwarzen Jeep.

„Jetzt fahr endlich zu unserem neuen Haus“, kommandierte seine Frau unwirsch. „Du bist vielleicht noch als einziger bei Laune, beim Anblick deiner zur Wirklichkeit gewordenen Kinoträume!“

Mit einem tiefen Seufzer startete Matthew den Motor. Absichtlich langsam fuhr er die Teerstraße weiter hinab zum östlichen Ende Silvertowns. Sie ließen den Ort hinter sich und folgten der einspurigen Landstraße, immer weiter in die endlose Ebene hinaus. Etwa fünf Minuten später bremste Matt unvermittelt ab und bog nach rechts in einen für Unwissende kaum erkennbaren Feldweg ein.

Irritiert starrte Rachel ihn an. „Würdest du vielleicht die Güte besitzen und uns verraten, wohin du uns entführst?“

„Vielleicht bringt er uns in eine Höhle, irgendwo da draußen in der Wildnis!“, unkte Patty von hinten und wurde im selben Moment unsanft zur Seite geschleudert, als der Jeep ein Schlagloch erwischte.

„Nun…der Weg führt zu unserem Haus.“ Wie von einer großen Last befreit, atmete Matt tief durch – es war endlich ausgesprochen.

Der Wagen rumpelte über den regendurchweichten, unebenen Boden, der an einigen Stellen mit rauen Steinen übersät war, wodurch die Radfederung strapaziert und die Insassen gehörig durchgerüttelt wurden.

„Zu unserem Haus?“, wiederholte Rachel mit eigenartigem, ungläubigem Gesichtsausdruck. Sie verstand noch immer nicht recht.

„Es hat früher einem Siedlerehepaar gehört“, erklärte Matthew schnell, um sie nicht weiter zu Wort kommen zu lassen. „Als sie verstarben, kaufte die Stadt das Haus. Nun stand es geschlagene fünfzehn Jahre leer und entsprechend sieht es von außen natürlich aus. Das soll dich aber nicht irritieren! Wir müssen noch ein wenig an Reparaturkosten investieren, aber bis auf das Dach werden sie sich in Grenzen halten. Natürlich habe ich auch die alten Möbel rausgeworfen und neue gekauft. Sie sind auch schon geliefert worden und auf die richtigen Zimmer verteilt. Es wird euch gefallen – bestimmt!“ Ein schlechter Lügner bist du, Doktor van Haren.

„Siedlerehepaar!“, echote Patty empört von der Rücksitzbank. „Das mag ja vielleicht das richtige für Jean sein, aber wie kannst du mir so etwas zumuten?! Ein Haus, in dem womöglich schon die Spinnweben von den Decken fallen oder der Boden durchbricht, wenn ich mich traue, das obere Stockwerk zu betreten! Hoffentlich hat es wenigstens einen Swimmingpool. Bei der Hitze, die hier wohl im Sommer herrscht, ist das ja das Mindeste!“

Matthew musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzulachen. Wenn seine kleine Tochter doch nur eine blasse Ahnung von dem Leben hier draußen, weit weg von jeder größeren Metropole hätte! Aber sie besaß leider ausschließlich Ahnung von den aktuellen Modetrends und den neuesten Meldungen aus den gehobenen Londoner Kreisen – ganz ähnlich seiner Frau. Sie waren sich einfach sehr ähnlich, für seinen Geschmack zu ähnlich.

Der Weg führte über einen Hügel, von dessen Kuppe aus die Sicht weit über das dahinterliegende Land reichte. Außer vereinzelten, kleinen Wäldchen und Sträuchern schien bis zum weit entfernten Horizont nichts mehr zu kommen, nur noch Präriegras.

„Wo soll denn hier ein Haus sein?“ Verwirrt blickte Jean sich nach allen Seiten um. „Ich sehe keins!“

„Aber ich…“ Rachels Gesicht hatte sich verfinstert. Ihr zorniger Blick wanderte zuerst zu der runden Ansammlung Sträucher, niedriger Tannen und Gestrüpp, in dessen Mitte die Spitze eines kleinen Windrads herausragte und dann zu ihrem Mann. Vorsichtig legte dieser den zweiten Gang ein und ließ den Jeep den sanften Hügel auf der anderen Seite hinabrollen.

„Ich hätte es wissen müssen!“ Unbeherrscht bearbeitete Rachel die Ablage hinter der Frontscheibe mit den Fäusten. „So eine Entscheidung darf man dich nicht alleine treffen lassen! Es kommt nur Blödsinn dabei heraus! Ich hätte dich gar nicht erst alleine hierher kommen lassen dürfen!“

Der unkenntlich gewordene, von Präriegras überwucherte Pfad bog scharf links ab, wo sich eine schmale Lücke zwischen den Sträuchern auftat.

„Ist das nicht eine unglaubliche Lage?“, rief Matt, sichtlich begeistert und strahlte über das ganze Gesicht. Er stellte den Motor ab. „Das ist es! Was sagt ihr?“

Zunächst geschah überhaupt nichts. Rachel und Patty beäugten wortlos und schockiert zugleich die einfache, kleine Holzhütte zu ihrer Linken und den halbverfallenen, alten Schuppen daneben. Direkt rechts von ihnen stand ein rostiges Eisengestänge, an dessen oberster Spitze ein schmutzig-weiß gestrichenes Windrad befestigt war, dessen Flügel sich quietschend und scheppernd im flauen Spätnachmittagswind drehten. Die Jahre und die Witterung hatten das Holz des Hauses dunkel und spröde werden lassen und es schien, als könnte es seine weit zurückreichenden Erinnerungen mit tiefer, sanfter Stimme erzählen. Das vergilbte Bild einer längst vergangenen Zeit schwebte über seinem steinernen Schornstein und die Spuren seiner früheren Bewohner und Erbauer schienen, wie von Geisterhand, eben erst verwischt worden zu sein.

Der runde, sandbedeckte Platz, der geschützt zwischen den wuchernden Sträuchern und Tannen lag, maß etwa fünfhundert Meter im Durchmesser. Zwischen Haus und Schuppen befand sich ein kleiner, mit Unkraut zersetzter Garten, dessen halbvermoderter und an allen vier Seiten eingefallener Holzzaun darauf wartete, erneuert zu werden. Das über zwei Meter hohe Gestrüpp, das die Grundstücksgrenze markierte, wuchs so dicht und zahlreich, dass von außen niemand hindurchsehen, geschweige denn, an anderer Stelle als der Einfahrt hineingelangen konnte.

Als Matt mit einem Mal die klappernde Autotüre aufdrückte und ausstieg, schrak Rachel aus ihrer Erstarrung hoch. Von einer Sekunde auf die nächste verwandelte sich ihre Sprachlosigkeit in überschäumenden Zorn. Eilig kletterte sie aus dem Jeep und lief ihrem Mann hinterher, der in Richtung Hütte zu verschwinden drohte.

„Von wem hast du dir dieses Ding da andrehen lassen? Siedlerhütte! Dass ich nicht lache! Eine Bruchbude ist das – mehr nicht!“ Sie stieg hinter ihm die beiden Stufen unter die offene, überdachte Veranda hinauf. In der Mitte der Längsseite befand sich die Haustüre, während rechts und links in selbem Abstand je zwei Fenster angebracht waren. Im hellen Sonnenlicht spiegelte sich der graue Staub auf den Scheiben und im völligen Gegensatz dazu stachen die neuen Vorhänge in zartem Gelb dahinter hervor.

„Sieh es dir doch erstmal von innen an“, bat Matt, wobei er versuchte, sachlich zu klingen. Er steckte einen verrosteten Schlüssel in das untauglich aussehende Schloss – die einfache Holztüre schwang, leise in ihren Angeln quietschend, auf.

„Aha!“, machte Rachel. „Einbrecher brauchen also nur anzuklopfen – dann öffnen sich ihnen unsere hier untergebrachten Reichtümer von selbst!“

„Na ja…das...das werde ich reparieren lassen“, stammelte Matt verlegen. Wenn er sich richtig entsinnen konnte, hatte er das Schloss bei seinem Besuch vor einem halben Jahr tatsächlich nicht getestet, sondern die Türe nur jedesmal zugezogen. Wie leichtsinnig er doch bisweilen sein konnte, wenn seine Gedanken wieder völlig woanders umherschwirrten und sich nicht auf das konzentrierten, was er gerade eben tat. Seltsam, dass ihm so etwas nur zu Hause passierte und nie in der Klinik.

„Oh, mein Gott!“ Patty und Jean waren einige Meter neben dem Wagen stehengeblieben, um sich nach allen Seiten umzuschauen.

„Glaubst du, es gibt hier giftige Schlangen oder so etwas?“, fragte Jean, während ihr Blick an dem Windrad hängenblieb, das sie irgendwie faszinierte.

„Pff!“, stieß ihre kleine Schwester hervor. Sie war damit beschäftigt, ihr schickes, rot-geblümtes Kleid vom Staub der Fahrt zu befreien. „Und selbst, wenn! Du wirst dich doch sicherlich bald den Eingeborenen angeschlossen haben und dann weißt du dich zu wehren!“

Jean schnappte beleidigt nach Luft und setzte zu einer Erwiderung an, doch ihre Schwester tippelte bereits auf Zehenspitzen über den Hof, in Richtung des alten Hauses, in dem ihre Eltern verschwunden waren. Eigentlich war es auch gleichgültig, ob sie etwas erwiderte – Patty hielt sich ohnehin für den Nabel der Welt und keine Aussage ihrer Schwester für beachtenswert. Jean seufzte trübsinnig. Wie das wohl werden sollte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, hier draußen, im Nichts, nur umgeben von Natur und völlig ohne den gewohnten Tumult des Großstadtlebens?

Das Erdgeschoß bestand aus drei Räumen: Dem Wohnzimmer, einem kleinen Schlafzimmer daneben und im hinteren Teil die Küche. Rechterhand, vor dem großen, steinernen Kamin, führte eine schmale, zwei Mal im rechten Winkel abknickende Treppe ins Obergeschoß hinauf.

„Die Möbel sind ganz neu“, erklärte Matthew noch einmal, nur um irgendetwas zu sagen und um seiner Frau zumindest einen positiven Punkt nennen zu können. „Und ich habe extra eine Innenarchitektin engagiert, die alles neu streichen hat lassen in den Farben, die im Moment gefragt sind und so weiter und so weiter. Natürlich ist jetzt alles nach den paar Monaten ein wenig eingestaubt…“ Sein Zeigefinger glitt über die Platte des Esstischs unter den Fenstern neben der Hautür und hinterließ einen schmalen Streifen in der dicken Schmutzschicht.

„Du wolltest sagen“, vollendete Rachel herausfordernd, „dass ich das schon alles sauber machen werde!“ Ihr Unmut flammte erneut auf. „Matthew Cleavon van Haren!“ Sie sprach ihn immer nur dann mit vollem Namen an, wenn sie ihren Zorn kaum noch beherrschen konnte. „Du erwartest von mir – von mir! – dass ich nicht nur hier wohnen soll, hier, in dieser ekelerregenden, widerlichen Bruchbude, in der ich nicht weiß, wo überall die Parasiten und Flöhe zu finden sind! Nein! Du gehst auch noch, wie selbstverständlich, davon aus, dass ich die Hausfrau für dich spielen werde!“ Wütend schlug sie mit der Faust auf die Lehne des dunkelroten Ledersofas, das vor dem Kamin stand. „Mein ganzes Leben lang hat niemand etwas Derartiges von mir verlangt und ich werde hier und heute mit Sicherheit nicht damit anfangen! Ich bestehe darauf, dass wir diesen grauenhaften Ort auf der Stelle verlassen! In Summersdale gibt es ganz sicher ein entsprechendes Haus, das meinem Status gerecht wird!“ Sie wirbelte auf dem Absatz herum und wollte zur offenstehenden Haustüre hinausstürmen. Stattdessen rannte sie jedoch mit Patty zusammen, die dort stehengeblieben war.

„Komm!“ Unsanft packte sie ihre Tochter am Arm. „Wir fahren!“

„Wohin denn jetzt schon wieder?“ Entnervt wanderte Pattys Blick von Rachel zu ihrem Vater und wieder zurück. Sie kannte die regelmäßigen Streitereien zwischen ihren Eltern nur zu gut und meistens fielen sie ihr schon gar nicht mehr groß auf.

„Patty hat recht“, stimmte Matthew mit einer erschöpften Handbewegung zu. „Wir bleiben hier! Ich habe dieses Haus für uns ausgesucht und deshalb werden wir hier auch wohnen! Außerdem meinte die Architektin, dass die Bausubstanz noch sehr gut sei! Also, mach’ dir bitte keine Sorgen bezüglich deiner Sicherheit!“ Er trat mit dem Fuß gegen die alte Holztüre, sodass sie in ihr rostiges Schloss donnerte.

„Vorsicht!“, mahnte Rachel sarkastisch. „Sonst fällt dieses Brett noch im Rahmen auseinander!“

Resigniert ließ Patty sich auf das Sofa vor dem Kamin fallen. Sie verdrehte die Augen.

„Ich will nicht mehr!“ Vielleicht half es, wenn sie nur laut genug jammerte. „Mir tut alles weh von dieser ausgedienten Seifenkiste namens Auto und der schrecklichen Holperei hierher! Ich bin müde und ich habe Kopfschmerzen!“

„In Summersdale gibt es bestimmt ein schönes Hotel, wo du dich erholen kannst“, versicherte Rachel eilig und legte ihrer jüngeren Tochter die Hände auf die Schultern.

„Ich fange schon mal an, die Koffer auszuladen!“, rief Matt, bereits nach draußen laufend, wo er seine zweite Tochter vorfand, die sich auf eine der Stufen vor der Veranda gesetzt hatte und ihn abwartend anschaute. Jean schien wenig Lust zu verspüren, sich in den Familienzwist einzumischen.

Mit einem entrüsteten Aufschrei rannte Rachel ihm hinterdrein. „Die Mühe kannst du dir sparen!“ Sie erwischte gerade noch den Griff ihrer Reisetasche, die Matthew aus dem Kofferraum heben wollte.

„Unser Schlafzimmer befindet sich gleich oben rechts“, erwiderte er, ohne sie anzusehen und entriss ihr die Tasche. „Links ist das Bad und geradeaus noch ein Schlafzimmer. Hier.“ Er drückte seiner Frau den nächsten Koffer in die Hand.

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ Wütend ließ Rachel die Gepäckstücke auf die Erde fallen.

„Dein Mann“, antwortete Matt mit überlegener Ruhe und sah ihr dabei fest in die zornig blitzenden, grauen Augen.

Niemand zwingt mich, hierzubleiben, auch du nicht!“

„Schön, dann geh!“ Matt deutete auf die Lücke zwischen den Büschen und zur Prärie hinaus. „Wenn du ein gutes Tempo vorlegst, kannst du wieder in Silvertown sein, bevor es dunkel wird.“

Einen Moment herrschte Schweigen und knisternd, wie Strom geladene Luft, hingen die ungehaltenen Emotionen zwischen ihnen. Rachel überlegte fieberhaft.

„Ein Jahr ist doch keine Ewigkeit und wir können auch noch anbauen, wenn dir das alles zu eng ist und von mir aus auch nochmal alles komplett sanieren! Das spielt doch keine Rolle. Geld spielt in unserem Leben doch niemals eine Rolle…“

„In Ordnung“, lenkte Rachel plötzlich ein und lächelte leicht gequält.

Völlig perplex hielt Matthew in seiner Bewegung inne. „Bitte?!“ Er hatte mit einem nie wieder endenden Streit, einem großen Zerwürfnis, womöglich Scheidung gerechnet.

„Ich sagte, für heute bleibe ich! Ich habe keine Lust zu laufen! Schon gar nicht durch diese Gegend, in der ich mich nur verirren kann und wo mich am Ende noch ein Berglöwe zum Abendessen vernascht!“

„Oho!“

„Bilde dir nichts darauf ein!“, erteilte Rachel seiner aufsteigenden Freude einen unsanften Dämpfer. „Ich bleibe nur unter mehreren Bedingungen: Erstens, ich kaufe mir ein eigenes Auto und zweitens: Wir stellen eine Haushälterin ein und zwar morgen! Abgesehen davon werde ich einen Architekten suchen, der aus diesem…diesem Ding da vielleicht etwas zaubern kann!“

„Von mir aus.“ Zufrieden setzte Matthew seine Arbeit, das Gepäck auszuladen, fort. „Aber wirf dein teuer geerbtes Geld nicht unnötig zum Fenster hinaus – für ein Jahr rentiert es sich kaum, wenn du dir einen Swimmingpool bauen lässt!“

Währenddessen saß Patty noch immer auf dem kalten Ledersofa und starrte regungslos vor sich hin. Ihr war sterbenselend zumute und am liebsten wäre sie auf der Stelle tot umgefallen. Ihr Kopf dröhnte und sie war zu müde, um noch einen klaren Gedanken fassen zu können. Ihre Augen betrachteten den kleinen Wohnraum. Direkt vor ihr befand sich der in die Wand eingearbeitete, aus groben Steinen errichtete Kamin und darüber hing, an zwei dicken Nägeln, ein verbogenes, untaugliches Winchester-Gewehr. Die dunkle, mit kalter Asche gefüllte Kaminöffnung widerte sie an und sie spürte schreckliches Heimweh in sich aufsteigen. Sie sehnte sich nach ihrem großen, rosa-weiß tapezierten Zimmer mit dem flauschigen Himmelbett und dem angrenzenden, beinahe ebenso großen Bad. Dann gab es da noch den begehbaren Kleiderschrank, der immer gut bestückt war mit neuen, schicken Kleidern der Saison, von denen sie bisweilen auch welche besaß, die sie überhaupt nie trug. Es handelte sich jedoch um ausgefallene, schicke Einzelanfertigungen und nur das zählte. Jetzt hing ein Großteil von ihnen noch immer dort, unberührt und unbenutzt, weil sie nicht alle hatte mitnehmen können. Das mit Efeu eingerankte Schulgebäude erschien vor ihren Augen und sie dachte an die Geburtstagsparty, die sie vor drei Tagen versäumt hatte. Ein Jahr, ein ganzes, langes Jahr musst du es hier aushalten und jetzt auch noch diese Bruchbude! Eine unerträgliche Vorstellung! Lautlos sank Patty in sich zusammen. Sie stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen.

Wenn ihr Vater doch wenigstens nicht so stur wäre und sie nach Summersdale, in ein Hotel gehen ließe, bis sie ein vernünftiges und angemessenes Haus gefunden hätten! Hoffentlich fand ihre Mutter einen Ausweg, sie hatte bisher immer einen gewusst. Beim Anblick der ausgetretenen, schiefen Holzbohlen des Fußbodens schauderte Patty. Sie hasste dieses Land und alles, was dazu gehörte, jetzt noch viel mehr als zuvor. Keinen Tag länger als irgendnötig würde sie hier verbringen, das schwor sie sich und wenn es darin endete, dass sie heimlich ausreißen und den nächsten Flieger zurück nach London nehmen musste!

„Ist dir nicht gut?“ Die Hand ihrer Schwester legte sich auf ihre Haare und zerzauste ihre Frisur. Unwirsch stieß Patty sie fort. Sie hörte, wie mit lauten Geräuschen die Koffer auf der Veranda vor dem Eingang abgestellt wurden.

„Alles bestens! Das siehst du doch!“

„Du brauchst es nicht an mir auszulassen! Ich kann auch nichts dafür! Außerdem…“ Jean lächelte. „Ich finde es hier richtig abenteuerlich!“

„Das denke ich mir, dass es dir hier gefällt! Du bist ja auch ein Trampel!“ Patty fuhr vom Sofa hoch. „Eins sag ich dir: Das Schlafzimmer oben nehme ich! Das da hinten kannst du haben – oben können wenigstens keine Wölfe und Bären einsteigen!“

Die Sonne war hinter den Hügeln und der fast dreißig Meilen entfernten, hoch in den Himmel ragenden Felsenwand im Westen untergegangen, während die Dämmerung schnell aus dem feuchten Gras herauf kroch.

Jean van Haren hatte das Deckenlicht in ihrem Schlafzimmer angeknipst. In den vergangenen sechs Stunden war sie damit beschäftigt gewesen, ihre Koffer auszupacken und es sich in dem Schlafzimmer hinter dem Wohnraum etwas gemütlich zu machen. In dem verhältnismäßig winzigen Raum am östlichen Ende der Holzhütte fanden gerade das Bett, ein Kleiderschrank, eine kurze Spiegelkommode, sowie ein Schreibtisch mit Stuhl Platz. Jean verzog das Gesicht, als sie sich prüfend auf das schmale Holzbett mit der erschreckend harten Matratze setzte. Natürlich war es völlig anders als ihr bisheriges Leben. Nichts erfüllte den Standard, den sie alle gewohnt waren, aber Jean störte das nicht im Geringsten. Inmitten dieser Wildnis und Abgeschiedenheit fühlte sie sich wie in einem Abenteuerfilm. Es war herrlich! Hier konnte sie in Ruhe Bücher aus der Bibliothek verschlingen, ohne, dass es jemandem auffallen würde. Sie lächelte und legte sich auf dem Bett zurück.

Sicherlich, auch sie vermisste den Komfort ihrer Villa in London, die Geschäftigkeit der Großstadt und die Selbstverständlichkeiten, die ihnen täglich zugute kamen. Dort hatte jeder von ihnen ein eigenes Badezimmer für sich besessen – hier mussten sie sich nun ein einziges teilen. Das konnte bei ihrer Mutter und ihrer Schwester ja heiter werden, nachdem jede schon allein mindestens eine halbe Stunde am Morgen darin verbrachte!

Vom Wohnraum herüber drangen die streitenden, lauten Stimmen ihrer Eltern durch ihre Zimmertür. Das junge Mädchen seufzte. Der Kampf war noch lange nicht ausgefochten, auch, wenn es zunächst den Anschein erweckt hatte. Rachel wusste jetzt, dass sie ihren eigenen Weg gehen musste, wollte sie das Bild ihrer heilen Welt und gut situierten Familie wahren, in der sie in Wahrheit zwar gar nicht lebten, aber die ihr des Rufes wegen so ungeheuer wichtig war. Vermutlich stritt sie genau deshalb soeben mit Matt und natürlich wegen dieser unzumutbaren Umstände, in die er sie gebracht hatte. Jean konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter länger als notwendig hier in der Hütte verweilen würde. Es passte auch gar nicht zu ihr, sich den Wünschen ihres Mannes unterzuordnen.

Müde fielen Jean ganz von selbst die Augenlider zu und sie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht augenblicklich auf der flauschigen, weiß-geblümten Daunendecke einzuschlafen.

Ein eigenartig schepperndes, dröhnendes Poltern hallte mit einem Mal laut und eindringlich durch das Holzhaus. Erschrocken fuhr Jean hoch und es dauerte einige Sekunden, bevor sie erkannte, woher das merkwürdige Geräusch entsprang. Achtlos ließ sie die rosa Seidenbluse, die sie eigentlich zu den anderen Kleidungsstücken in den Schrank hatte hängen wollen, auf den Boden fallen. Mit wenigen Sprüngen erreichte sie die Tür und rannte neugierig in das angrenzende Wohnzimmer, wo die Haustür nun weit offenstand.

„Nett, dass Sie extra bei uns vorbeischauen!“, hörte sie die Stimme ihres Vaters soeben sagen, hörbar erfreut. „Kommen Sie doch herein.“

Jean blieb neben dem Kamin stehen. Im Hauseingang erblickte sie einen großen, kräftigen Mann. Er musste fast zwei Meter messen und sein Bauch besaß einen solch gewaltigen Umfang, dass in Jean sofort der Zweifel aufkam, ob er ohne Probleme durch den Türrahmen passen würde. Der dunkelgraue Anzug und der Binder wollten nicht recht zu seiner Erscheinung passen, was der lange, schwarze, an den Enden gezwirbelte Schnurrbart und die kurzgeschorenen Stoppelhaare nicht verbesserten. Er betrat polternd, in Cowboystiefeln, den Wohnraum und deutete eine galante Verbeugung an.

„Jean!“ Matthew winkte. „Komm einmal her!“

Nach kurzem Zögern folgte das Mädchen der Aufforderung ihres Vaters, den fremden Mann jedoch keine Sekunde aus den Augen lassend. Von Natur aus zurückhaltend, benötigte sie stets allen Mut, um auf fremde Menschen zuzugehen.

Das runde, breite Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, wobei der Bart schwungvoll nach oben kippte. „Ah, der Nachwuchs!“ Erfreut ergriff er ihre dünne Hand, die vollkommen zwischen seinen fleischigen, feuchten Fingern verschwand. „Stevie Bentley, Bürgermeister von Silvertown“, stellte er sich vor. „Im Namen aller Bürger unseres Bezirks heiße ich Sie auf das Herzlichste bei uns willkommen!“

„Vielen Dank!“, strahlte Matthew. „Mit so viel Aufmerksamkeit haben wir gar nicht gerechnet!“

„Sie werden noch mit mehr nicht rechnen“, lachte der Bürgermeister schallend. „Hoffentlich gefällt es Ihnen, sofern Sie überhaupt schon Zeit hatten, sich ein bisschen einzugewöhnen?“

„Oh, es ist großartig!“, versicherte Matt eifrig. „Die Landschaft ist nicht zu vergleichen mit dem, was wir aus London gewohnt sind!“

„Wir sind ja auch eines der meistbesuchten Gebiete Idahos“, erklärte Stevie Bentley mit stolzgeschwellter Brust.

„Dann habe ich mich ja richtig entschieden, für meine Frau und unsere beiden Töchter.“ Matt legte seinen Arm demonstrativ um Rachels Taille, die sich ein gezwungenes Lächeln abrang. „Apropos – wo steckt denn der Rest unserer Familie?“

Rachel nutzte die Gelegenheit, sich aus seiner Umarmung zu lösen und eilte zur Treppe. „Patty! Patty! Komm doch mal herunter!“

„Ich kann nicht!“ Die Antwort ertönte aus dem Badezimmer. „Ich mache mir gerade eine Maske!“

Rachel zuckte entschuldigend die Achseln. „Junge Mädchen! Sie hören es!“

Stevie Bentley winkte ab. „Nicht weiter schlimm! Ich lerne sie ja dann bald kennen!“

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Einladend deutete Matt auf die Couchgarnitur.

„Vielen Dank!“ Stevie Bentley lehnte ab. „Ich muss leider gleich weiter. Ich bin eigentlich nur gekommen, um Sie einzuladen!“

„Einladen?“, echote Rachel und es klang beinahe ein wenig entsetzt.

„Ein neuer Bewohner, besser gesagt, eine neue Familie, die sich bei uns niederlässt, braucht selbstverständlich einen entsprechenden Empfang“, klärte Stevie Bentley sie nun mit wichtigem Nicken auf, wobei sein Bart zu Jeans Belustigung im Takt mitwippte.

„Wirklich?“, entfuhr es Rachel gelangweilt.

„Natürlich, natürlich!“, versicherte der Bürgermeister prompt. Er schien den Tonfall ihrer Stimme völlig falsch zu deuten. „Sie müssen schließlich alle wichtigen Leute der Gegend und Ihre neuen Nachbarn kennenlernen! Das Begrüßungsfest für Sie findet morgen Abend ab sieben auf der Arkin Ranch statt!“ Er grinste breit. „Diese Überraschung wollte ich Ihnen unbedingt noch heute überbringen, damit Sie nicht anderweitig etwas planen. Aber kommen Sie schon etwas zeitiger hinüber, dann können wir uns in Ruhe noch ein wenig unterhalten, bevor sie von allen in Beschlag genommen werden!“

Das war eine unerwartete Ankündigung – selbst für Matthew. Er bedankte sich überschwenglich für die Einladung, die er selbstredend mehr als gerne annahm und brachte den Bürgermeister noch hinaus zu seinem Wagen, als dieser sich zum Gehen wandte.

Jean schaute ihnen durch die offene Haustüre nach, als sie ihre Mutter neben sich leise wispern hörte: „Manche Rufe haben ein ungeheuer gewaltiges Echo…“

Rachel warf den Kopf zurück, ihre grauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie murmelte einen unverständlichen Fluch und Jean war ganz froh, es nicht verstanden zu haben. Das war auch nicht nötig. Sie begriff sehr wohl, dass ihre Eltern sich über ihren Aufenthaltsort für das kommende Jahr noch längst nicht einig geworden waren. Es war eine vorübergehende, scheinheilige Kompromissbereitschaft von Seiten ihrer Mutter, um den perfekten Schein zu wahren, mehr nicht.

Die erste Nacht in der Blockhütte wollte nicht vorübergehen – und ohne Schlaf schienen die Minuten noch viel langsamer voranzuschreiten. Patty seufzte und warf zum mindestens fünfzigsten male einen Blick auf den Wecker: Gleich halb zwei Uhr. Die Federn der ungewohnt harten Matratze stachen ihr in den Rücken und durch das einen spaltbreit geöffnete Fenster trug der kalte Nachtwind das monotone Quietschen des sich drehenden Windrades herein.

Womit habe ich das verdient? Warum darf ich nicht zu Hause sein? Eine Träne der Wut und Verzweiflung rann über ihre Wange, in ihr dunkles, zerzaustes Haar. Immerhin lebten sie in einer modernen Zeit, wo auch vierzehnjährige Töchter schon mitreden und selbst Entscheidungen treffen durften! Sie gehörte hier nicht her, wollte auch gar nicht hier sein und sie tat sich selbst entsetzlich leid. Sie bekam immer ihren Willen, immer! Und jetzt musste sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Niederlage einstecken, die sie absolut nicht akzeptieren konnte.

Am nächsten Morgen marschierte Patty übel gelaunt und mit grimmigem Gesicht zum spartanischen Frühstückstisch hinab. Noch immer glaubte sie, das Quietschen des Windrades zu hören und sie konnte nicht genau sagen, welcher Teil ihres Körpers am meisten schmerzte. Zu allem Überdruss schien ihre große Schwester durchaus gute Laune zu haben, denn sie plapperte während des Frühstücks in einem fort und nur sinnloses Zeug. Danach verschwand sie auf eine Erkundungstour in der Wildnis. Patty lehnte es ab, sie zu begleiten. Niemand würde sie zwingen, plötzlich zu Fuß zu gehen und schon gar nicht in diese öde Landschaft hinaus! Was sollte sie dort schon Großartiges finden?

Den Vormittag nutzte sie stattdessen, um ihre restlichen Kleidungsstücke und persönlichen Gegenstände aus den Koffern zu räumen und im Schrank nach besten Möglichkeiten zu verstauen. Danach war ihr langweilig. Was sollte sie unternehmen hier draußen, weit entfernt von jeder menschlich-vernünftigen Zivilisation? Keine Freundinnen, mit denen sie stundenlang telefonieren konnte, keine Einkaufszentren, wo sie mit ihnen herumbummeln konnte und auch kein Café, in dem sie für den Rest des Tages mit ihnen verschwinden und die Leute beobachten konnte. Wenn ihr Zuhause dann doch einmal gar nichts eingefallen war, was sie mit ihrer freien Zeit anstellen konnte, so hatte sie zumindest in eine Ballettstunde gehen können. Zwar fand sie diese Art von Sport nicht gerade vergnüglich, denn es war eine ungeheure Anstrengung, aber ihre Mutter bestand darauf, um „Haltung und Geist zu straffen“. Patty seufzte. Nichts war hier wie Zuhause, gar nichts! Wenigstens besaß diese Bruchbude – unerwarteterweise – elektrischen Strom und damit einen funktionstüchtigen Fernseher, ihr einziger, winziger Trost. Dieser sollte voerst Pattys wichtigste Beschäftigung werden.

Kurz nach halb ein Uhr, nachdem sie nicht zum Mittagessen erschienen war, steckte ihre Mutter den Kopf zur Türe ihres Zimmers herein und verkündete gutgelaunt: „Dein Vater und ich fahren nach Summersdale, zum einkaufen! Jean kommt auch mit. Dann können wir beide uns ein paar neue Kleider für heute Abend besorgen, was meinst du?“

„Was soll es da schon groß an besonderen Geschäften geben? Männerhosen und Leinenkleider im Schnitt eines Mehlsacks oder wie?“ Mürrisch wandte Patty sich ab und beugte sich zum Fenster hinaus, wo die Sonne angenehm warm hereinschien.

„Vielleicht lernst du gleich ein paar Mädchen kennen, die in deine Klassen gehen werden“, versuchte Rachel, sie ohne viel Geduld anzutreiben.

„Ach! Das ist doch nicht die richtige Gesellschaft für mich! Aber nimm ruhig Jean mit! Die passt hervorragend in diesen Haufen!“ Trotzig vergrub Patty das Kinn in ihren Händen. „Lass mich in Ruhe!“

„Na, schön. Wie du willst.“ Achselzuckend schlug Rachel die Türe ins Schloss. Die Schritte ihrer Stöckelschuhe verhallten und gleich darauf hörte Patty den Motor des Jeeps laut aufheulen. Nicht lange und das Geräusch wurde leiser, bis es keine Minute später verstummt war.

Kälte kroch über ihren Rücken herauf und ein Gefühl der Angst überfiel sie. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie jetzt ganz allein hier draußen in dieser Wildnis war, vollkommen allein und auf sich gestellt. Wenn nun ein wildes Tier oder sonst etwas Gefährliches aufkreuzte? Fieberhaft überlegte sie, welches wohl der sicherste Ort in dieser schrecklichen, baufälligen Hütte sein könnte und sie entschied, dass dies die Küche wäre. Wenn sie sich richtig erinnerte, führte eine Hintertür ins Freie, was bedeutete, dass ihr im Notfall zwei Fluchtmöglichkeiten zur Verfügung standen.

Vorsichtig schlich Patty die Treppe hinab in den Wohnraum, wo sie sicherheitshalber stehenblieb, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich alleine war. Jedes Knacken des Holzes ließ sie zusammenzucken und sie horchte angestrengt, ob nicht irgendwo doch eine unbekannte Gefahr auf sie lauerte. Während sie so dastand, am Ende der Stufen, drang mit einem Mal ein Poltern an ihr Ohr. Jemand klopfte an die Tür! Regungslos hielt Patty den Atem an und horchte angestrengt, doch das Pochen kam nicht wieder. Dafür erklang plötzlich eine rufende, männliche Stimme von draußen: „Hallo! Ist jemand zu Hause?“

Entsetzt fuhr Patty herum. Wer, um Himmels Willen, konnte etwas von ihnen wollen?! Durch das Fenster, rechts neben der Haustür entdeckte sie unter den Stufen des Vorbaus ein goldbraunes Pferd mit schwarzen Beinen. Ein Mann stand daneben und blickte um sich, als suche er jemanden.

„Hallo!“, rief er jetzt noch einmal, diesmal langgezogen. „Ist denn niemand da?“

Pattys Herz raste und ihre Gedanken kreisten wild durcheinander. Was sollte sie tun? Hinausgehen? Sie kannte den Kerl nicht und ihre Mutter hatte ihr ein Leben lang eingeschärft, fremden Männern gegenüber vorsichtig zu sein. Wer konnte ihr garantieren, dass die seltsame Gestalt mit dem Pferd nicht ein entflohener Häftling oder ein gesuchter Verbrecher war, der sie womöglich als Geisel benutzen wollte? Aber vielleicht brauchte er ja auch ihre Hilfe und am Ende trug sie an einem schrecklichen Unglück die Schuld, weil ihr Mut sie im Stich gelassen hatte?

Noch während sie herumwirbelte, in der verzweifelten Hoffnung nach einem Ausweg, fiel Pattys Blick auf das rostige, unbrauchbare Gewehr über dem Kamin und endlich erkannte sie ihre Rettung. Mit zitternden Händen hob sie die Waffe von ihrer Halterung herab. Sie war schwerer, als das Mädchen erwartet hatte. Ungeschickt drückte sie sich den Kolben an den Oberarm, wie sie glaubte, es im Fernsehen, in den Westernserien ihres Vaters schon beobachtet zu haben. Es gelang ihr, sich soweit zu beruhigen, dass sie wenigstens ein mutiges Gesicht zu dieser verzwickten Situation machen konnte, auch wenn sie innerlich zitterte. Nach kurzem Zögern riss Patty die Haustüre auf und trat langsam hinaus unter das Vordach.

„Hey!“, rief sie unfreundlich und fand, dass es sich bereits erschreckend amerikanisch anhörte. „Sie da, auf dem Pferd!“

Erstaunt zügelte der Reiter seinen Wallach, den er bereits zu einer Wendung hatte ansetzen lassen, um wieder davonzureiten. Als er sich jetzt zu ihr herumdrehte, glaubte Patty, in ihm den jungen Mann mit dem rotblonden, lockigen Haar vom Vortag vor dem Saloon in Silvertown zu erkennen.

Entflohener Häftling! Von wegen! So dämlich kannst auch nur du sein, Patricia Lorena van Haren! Daran sind allein dein Vater und diese Bruchbude schuld!

Mit einem amüsierten, geradezu unverschämten Grinsen hob der Reiter kurz seinen hellbraunen Cowboyhut vom Kopf und meinte: „Na, da sieh einer an! Ich dachte schon, es seien alle ausgeflogen!“

„Sie haben aber schnell unsere Adresse herausgefunden!“ Die Waffe in ihrer Hand gab Patty ein Gefühl von Sicherheit. Misstrauisch blinzelte sie den jungen Mann im hellen Sonnenlicht an. „Aber ich muss Sie enttäuschen, meine Schwester ist in Ihre Filmstadt gefahren. Dort können Sie nach ihr suchen.“

„Trey Stockley“, stellte dieser sich mit gespielter Erschrockenheit vor. „Das nur, damit Sie meinen Namen wissen, wenn Sie mich unbeabsichtigt beerdigen müssen, junges Fräulein!“ Sein Pferd begann, ungeduldig mit dem Huf zu scharren und er tätschelte es beruhigend am Hals. „Ich stimme dir vollkommen zu: Aus irgendeinem Grund, der mir noch verborgen geblieben ist, scheinen wir der englischen Lady nicht zu gefallen!“

Sein witzelnder Tonfall weckte den Zorn in Patty, der im Moment ohnehin an der Oberfläche brodelte. Er schien sie nicht einmal für ernst zu nehmen!

„Was mit Ihnen passiert, liegt allein in Ihrer Hand!“ Verächtlich rümpfte sie die Nase. „Musst du übrigens nicht zu deinen Rindviechern zurück, damit sie nicht abhauen…Cowboy?“

Er sah tatsächlich wie einer aus: Der Hut, die beige Jeanshose, die Stiefel und die braune Lederjacke.

„Ach, die kennen mich! Die wissen, dass bei mir brav dageblieben wird!“ Er zwinkerte übermütig und pfiff leise durch die Zähne. „Ehrlich gesagt wäre mir wesentlich wohler, wenn Sie mit dem Gewehr nicht auf mich, sondern auf den Boden zielen würden. Ich meine nur, falls sich ein Schuss löst. Ich weiß nicht, ob Ihre Schwester unbedingt mein Grab ausheben möchte.“

Wütend hob Patty die Waffe wieder ein wenig höher, denn allmählich wurden ihre Arme lahm, von dem schweren Gewicht.

„Hoffentlich sind Sie sich darüber im Klaren, dass das vielleicht Ihre letzte Möglichkeit gewesen ist, sich über mich lustig zu machen?“

„Oh, Sie missverstehen mich völlig! Ich habe sogar gewaltigen Respekt vor kleinen Mädchen mit großen Gewehren!“ Nachdenklich kratzte er sich das glattrasierte Kinn. „Komisch. Jetzt ist es mir doch tatsächlich entfallen!“

„Was ist Ihnen entfallen?“, fragte Patty prompt und der Zorn über sein triumphierendes Grinsen ließ sie rot anlaufen. Sie wusste nicht recht weshalb, aber er machte sie wahnsinnig mit seiner ironischen Art!

„Ihre fabelhafte Vorstellung hat mich ganz aus dem Konzept gebracht, weshalb ich eigentlich hergeschickt worden bin.“ Scheinbar zutiefst entsetzt über seine Vergesslichkeit starrte er Patty aus seinen blitzenden, hellblauen Augen an.

„Dann brauchen Sie meine wertvolle Zeit ja nicht weiter unnötig zu verschwenden! Außerdem werden Sie von Ihren vierbeinigen Freunden bestimmt schon sehnsüchtig erwartet!“ Patty grinste boshaft. „Rechts neben dem Windrad ist der Ausgang. Nur als kleiner Tipp, damit Sie sich nicht verirren!“ Sie liebte ihre Schlagfertigkeit, mit der sie jedes Duell gewinnen konnte. „Ach ja, als kleiner Ratschlag: Rechts ist hier drüben!“ Sie deutete ihm mit dem Gewehrlauf eifrig in die besagte Richtung.

„Dann seien Sie bloß vorsichtig, damit Ihnen nicht noch eine Horde meuternder Indianer begegnet und es auf Ihre wertvolle Winchester abgesehen hat!“, rief der Cowboy, nun doch ein wenig verstimmt, während er sein Pferd aus dem Stand angaloppieren ließ und es geschickt durch den schmalen Durchlass in der Hecke lenkte, hinaus in die Prärie.

„Verwöhnte Ziege“, murmelte er noch, doch das konnte Patty nicht mehr hören.

Erleichtert blickte sie ihm nach und wartete, bis sie sicher sein konnte, dass er nicht zurückkam. Der Hufschlag verstummte.

Das musste einer dieser Verrückten sein, von denen ihre Mutter berichtet hatte, einer von denen, die sich für Rinderhüter hielten und sich auch dementsprechend benahmen; die noch die Zeit von vor hundert Jahren zurückholen wollten, anstatt dem Fortschritt mit Maschinen den Vorrang zu gewähren. Wütend wandte Patty sich ab. So eine Nervensäge! Der Lauf des Gewehrs schlug mit einem dumpfen, lauten Knall gegen die Holzbohlen vor der Haustüre und hinterließ dort eine tiefe Schramme. Genervt packte sie die Waffe mit beiden Händen und trug sie, den Kolben nach oben, weit von sich gestreckt ins Haus zurück. Nur weg damit, bevor wirklich noch etwas passierte! Sie hatte ja keine Ahnung, wie man mit einem solchen Ding umzugehen hatte.

Mit einiger Mühe gelang es ihr, das Gewehr an seinen ursprünglichen Platz zurückzubefördern und sie ärgerte sich maßlos über ihr eigenes, idiotisches Benehmen. Hätte sie sich ruhig verhalten, wäre er vermutlich einfach wieder verschwunden! Jetzt erzählte er bestimmt überall herum, was ihm hier widerfahren war und wie kindisch sie sich benommen hatte.

Die Brücke zur Sonne

Подняться наверх