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Ostern kam und ging...

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Ostern kam und ging und bald darauf war Rachel wieder mit ihren eigenen Aktivitäten beschäftigt. Niemand kümmerte sich großartig um den anderen, wie es eben zuvor und in all den zurückliegenden Jahren auch schon der Fall gewesen war. Es änderte sich nichts daran, wie der eine mit dem anderen umging, nur war es inzwischen an Jean, sich von ihrer Familie immer mehr abzunabeln und ohne, dass es überhaupt jemandem groß aufzufallen schien. Matthew verbrachte fast immer sieben Tage die Woche in der Klinik und Patty hatte unter ihren Freundinnen einige gefunden, die gerne mit ihr in die größeren Städte in der weiteren Umgebung fuhren. Meistens fanden sich dafür ältere Geschwister, die bereits ein Auto oder zumindest einen Führerschein besaßen. Ebenso verhielt es sich mit entsprechenden Partys, über die Patty stets bestens informiert war.

Das Verhältnis zwischen Jean und ihrer Schwester glich nur noch einer oberflächlichen Bekanntschaft. Wenn sie gemeinsam in der Hütte anzutreffen waren – was ohnehin sehr selten der Fall war – wechselten sie belanglose Worte miteinander und Jean war froh, den schnippischen, besserwisserischen Bemerkungen ihrer Schwester bald wieder entkommen zu können.

Die ersten Sonnenstrahlen des frühen Sommers brachten schon bald wärmere Temperaturen und luden dazu ein, die Pferde zu satteln und hinauszureiten in die Weiten der Prärie. Jeans reiterliche Fähigkeiten waren mittlerweile so weit fortgeschritten, dass sie in Amys Gegenwart auf Lady, dem brävsten Pferd auf der Ranch, auch ausreiten durfte.

Laut rufend rannte eine kleine Gestalt über den Ranchhof. Ausnahmsweise trug sie saubere Bluejeans und ein dunkelrotes, gebügeltes Hemd unter ihrer Lederjacke. Dazu passend steckte in den Schlaufen der Hose ein hellbrauner Ledergürtel und ein Cowboyhut in derselben Farbe hing an einem Lederband um ihren Hals auf die Schultern hinab. Als sie am Bunkhouse der Cowboys vorbeischoss, das offene, braue Haar wild hinter sich her fliegend, erklang unerwartet an der Ecke ein lauter Schlag. Trey stöhnte mit schmerzverzerrtem Gesicht und der Sattel, den er eigentlich hatte aufräumen wollen, fiel ihm aus der Hand, auf die nasse Erde.

„Entschuldige!“, keuchte Amy außer Atem. Sie merkte kaum, dass ihr die Wange vom Zusammenprall mit dem großen, schlaksigen Cowboy wehtat.

Vorwurfsvoll rieb der junge Mann sich das Kinn. „Da biegt man nichtsahnend ums Hauseck und wird über den Haufen galoppiert!“

„Jeden Moment kann der Bus mit den ersten Touristen für diese Saison ankommen!“

Verständnislos zuckte Trey die Achseln. „Und deshalb setzt du das Leben deiner Mitmenschen aufs Spiel?! Die werden sich seit dem letzen Jahr nicht viel verändert haben.“ Er hob seine Hände zur Aufzählung: „Ausländer, Besserwisser, Nervensägen, Möchtegern-Helden, Leute, die beim Reiten ihren angefutterten Speck loswerden wollen und hysterische Tanten, die schon beim bloßen Anblick eines Gewehrs aus den Stiefeln kippen. Wobei mir die ersten noch die liebsten sind – die verstehen mich nicht und ich verstehe ihr Gequatsche auch nicht. Das schont die Nerven!“ Er machte zu all dem eine äußerst wichtige Miene und Amy musste lachen.

„Und sie sichern dir deinen Job!“ Sie ließ ihn stehen und rannte weiter, zum Pferdestall: „Jean! Jean!“, schrie sie aus Leibeskräften und bog ungebremst in die Stallgasse ein.

Erschrocken machte das andere junge Mädchen einen rettenden Satz beiseite, wobei ihr beinahe der Arm voll Pferdeputzutensilien, mit denen sie eben in Richtung Scheune unterwegs war, zu Boden fiel. Erstaunt schaute sie die Rancherstochter an.

„Ist was passiert?“

„Noch nicht! Aber wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir das Beste!“ Aufgeregt schob Amy ihre Freundin zum offenen Stalltor hinaus. „Los, los! Mach’ schon! Ich hab’ den Bus vom Hügel aus schon kommen sehen!“

„Lass mich doch zuerst meinen Kram verräumen!“, rief Jean und sammelte die Striegel wieder zusammen. „Sonst schimpft Dan wieder, wenn wir alles liegenlassen!“

Auch das doppelflüglige Scheunentor stand weit offen, sodass der helle Schein des Tageslichts bis fast in den letzten Winkel des alten, großen Gebäudes fiel. Außer Atem lehnte Amy sich an einen der breiten, schweren Holzstämme, die das Dach der dämmerigen Scheune abstützten. Sie beobachtete die englische Arzttochter dabei, wie sie den Deckel einer Holzkiste öffnete und die Putzsachen fein säuberlich hineinlegte und nebeneinander ordnete. Die Scheune war durch eine Decke geteilt: Im oberen Teil lagerte das Heu und Stroh und hier unten befand sich sämtliches Zubehör für die Pferde. Obwohl die Scheune eine große Grundfläche maß, hatte es ständig den Anschein, als platze sie jeden Moment aus allen Ecken und Enden.

„Wenn deine Mutter und deine Schwester dich so sehen könnten!“, gluckste sie und verdrehte die Augen.

„Lieber nicht!“, winkte Jean entsetzt ab. „Sie würden mich sofort nach London zurückschicken, damit ich wieder bessere Manieren lerne!“

„Meine Mutter wäre sehr stolz auf mich“, sagte Amy, plötzlich sehr leise und in sich gekehrt.

„Deiner Mutter hat es hier wohl nicht gefallen?“, fragte Jean vorsichtig. Sie hatten noch nie über die Tatsache gesprochen, dass Amy mit ihrem Vater alleine auf der Ranch lebte.

„Doch, ich glaube schon, dass es ihr hier sehr gut gefallen hätte…es kann einem hier nur gefallen.“

„Hmm.“ In Gedanken vertieft schloss Jean den Deckel der Kiste.

„Du wunderst dich vielleicht, warum mein Vater nicht mehr geheiratet hat“, fasste Amy jetzt Jeans ummantelte Frage in klare Worte. Ein eigenartig steifes Lächeln spielte um ihre Lippen, das die unendliche Traurigkeit und Melancholie verbergen sollte, die ihr Innerstes erfüllten. „Weißt du, ich hätte meine Mutter so gerne kennengelernt, aber sie ist an Krebs gestorben, als ich drei Jahre alt war. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Früher, besser gesagt, bis zu ihrem Tod lebten wir alle zusammen in Seattle. Daddy arbeitete als Rechtsanwalt und er war sehr erfolgreich und überall angesehen. Sein großes Ziel sah er immer darin, eines Tages Richter zu werden.“ Sie hielt kurz inne, ehe sie leise fortfuhr: „Aber nachdem meine Mutter gestorben war, hat er alles zurückgelassen: Seinen Beruf, seine Freunde, sein Zuhause… Dafür hat er sich seinen Kindheitstraum erfüllt, nämlich, eine Ranch zu kaufen. Lange Jahre musste er dafür kämpfen und schuften, um sie am Leben zu erhalten. Er war auch maßgeblich daran beteiligt, Silvertown zu dem zu machen, was es heute ist.“ Amy lächelte stolz. „Daddy und ich – wir würden niemals von hier fort gehen!“

Es tat Jean plötzlich leid, so neugierig gewesen zu sein und sie wollte sich entschuldigen.

„Ach, Unsinn!“, winkte das andere Mädchen energisch ab und setzte sich vor sie auf den staubigen, harten Boden. Ernst blickte Amy ihrer Freundin in die Augen. „Was hast du in London gemacht? Du hast mir nie davon erzählt, wie es dort aussieht und wie ihr gelebt habt. Ich meine, warst du dort glücklich?“

Die Frage traf Jean unvorbereitet und sie brauchte einige Minuten, um die wirren Überlegungen in ihrem Kopf zu sortieren. Seit vielen Wochen hatte sie nicht mehr eine Sekunde an ihre Villa, an ihr Zuhause gedacht, hatte es fast völlig aus ihrer Erinnerung gestrichen; es existierte einfach nicht mehr. London – um was handelte es sich bei diesem Namen doch gleich? Richtig, um eine langweilige, riesige, anonyme Metropole, irgendwo viele tausend Meilen entfernt. Das, was dort gewesen war, kam ihr so absurd, so unwirklich vor. Sie konnte nicht glauben, dass sie einmal dort gelebt haben sollte, in einer Villa, in einer lauten, stinkenden Stadt. Die Mädchen, mit denen sie ihre Zeit verbracht hatte und von denen jede immer nur damit beschäftigt gewesen war, der anderen überlegen zu sein – wie hatte sie sie nur ertragen? Das allerwichtigste waren teure Kleider und der Besuch edler Restaurants und Cafés gewesen, in denen sich nur die gehobene Gesellschaft die Klinke in die Hand gab, aber sonst? Womit hatten sie ihre Zeit sonst totgeschlagen? Sie erinnerte sich nicht.

„Genauso habe ich dich eingeschätzt, als wir uns kennengelernt haben“, nickte Amy und Jean zuckte erschrocken zusammen. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie ihre Überlegungen laut ausgesprochen hatte.

„Ich war nie so, ich habe es mitgemacht und über mich ergehen lassen“, realisierte Jean sehr klar und erwachsen. „Patty ist das, was du gesehen hast. Sie ist so, wie sie sich gibt, genau wie meine Mutter.“

„Und dein Vater?“

Jean musste kurz überlegen. „Mein Vater?“ Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Er redet nie viel und ich glaube, er versteht mich besser als er zugibt.“

Eigentlich bin ich mehr Paps’ Kind, schon immer gewesen. Wieso ist mir das bloß nie aufgefallen?

Dabei musste sie lächeln. Immer hatte ihre Mutter es geschafft, sich in den Vordergrund zu spielen, jeden Tag. Ihre Meinung, ihre Ansichten waren entscheidend, sonst nichts. Ihr Vater war dabei stets untergegangen.

Während Jean nun an Amys Arm über den Hof, zum Ranchhaus hinüberspazierte, wurde ihr mit einem Mal bewusst, was es bedeutete, sich an einem Ort Zuhause zu fühlen. Sie atmete den warmen Wind ein, spürte die strahlende Sonne in ihrem langen, braunen Haar. Es hatte nichts mit Luxus oder einer riesigen Villa zu tun, auch, wenn sie nichts anderes in ihrem Leben bisher gelernt hatte. Ihren Instinkt konnte das nicht täuschen. Es zählte etwas völlig anderes: Allein die Menschen, die einen umgaben, machten einen Ort zu dem Heim, das einen unbezahlbaren Wert besaß – eben ein Zuhause.

* * *

Leise prasselte der Regen seit nunmehr einem halben Tag gegen die Scheiben im Wohnraum der Arkin Ranch. Der Radio lief im Hintergrund und die Sendung wurde immer wieder durch aktuelle Durchsagen zur Schlechtwetterfront unterbrochen, die auch noch die kommenden beiden Tage über das Gebiet hinwegziehen sollte.

„Igitt!“, sagte Jean und beobachtete die Tropfen, wie sie langsam am Glas herabliefen. „Das hört ja überhaupt nicht mehr auf! Wenn dein Vater sich nicht beeilt, wird er noch mitsamt dem Pickup weggeschwemmt!“

„Ach, verflixt!“ Zornig schlug Amys flache Hand auf die Tasten des Spinetts, das scheppernd und protestierend einen hässlichen Misston von sich gab. „Warum muss bei dieser bescheuerten Note bloß ein Kreuz davorstehen?! Jetzt übe ich seit einer halben Stunde nichts anderes als diese vier Takte!“ Entmutigt pfefferte sie das Liederbuch beiseite.

„Warte doch mal!“ Jean hob es auf. „Wie wäre es, wenn ich dazu singe? Vielleicht hilft dir das!“

„Du kannst doch überhaupt nicht singen!“

„Vielen Dank!“ Schmollend wandte Jean sich ab. „Dann üb’ doch alleine weiter!“

Von der Haustüre her ertönte ein zaghaftes, dreimaliges Klopfen. Erstaunt wechselten die beiden Mädchen einen Blick.

„Erwartet ihr Besuch?“, fragte Jean.

„Nein, aber vielleicht hat Trey wieder mal was angestellt!“

Neugierig liefen die beiden Mädchen hinaus, ins Treppenhaus. Amy griff nach dem Türknauf, öffnete – und stutzte. Das war nicht Trey, der da unter dem Vorbau stand.

„Hallo!“, sagte die tropfende Gestalt unter dem langen, grauen Wachsmantel. „Entschuldigt bitte die Störung. Ich habe die Ranch zufällig gefunden und…“

Mit großen Augen betrachteten die zwei Freundinnen einige Sekunden lang den jungen Mann, über dessen nasses Gesicht der Regen lief, weil sein Hut so durchtränkt war, dass er das Wasser nicht mehr abzuweisen vermochte. Ein wenig verunsichert ob der Störung stand er vor ihnen, während sich rings um ihn langsam eine Pfütze bildete. Sein Anblick verschlug Amy und Jean zunächst die Sprache. Sie wechselten einen kurzen, abstimmenden Blick. Irgendeine von ihnen musste jetzt die Initiative ergreifen und den Mund aufmachen.

„Hallo! Können wir Ihnen helfen?“ Es klang zögernd. Amy hatte den jungen Mann noch nie zuvor gesehen. „Wollen Sie vielleicht hereinkommen und sich trocknen?“

Der Fremde schob sich den Hut ein Stück aus dem Gesicht und schüttelte sich, wie es ein Hund tat, der die Feuchtigkeit in seinem Fell loswerden wollte. Wasser spritzte nach allen Seiten und er versuchte ein zuversichtliches Lächeln aufzusetzen. Sein goldbraunes, viel zu langes Haar, das sich in wilder Naturkrause unter der Hutkrempe lockte, stand nach allen Himmelsrichtungen ab. An seiner schlanken Gestalt klebten nichts weiter als durchnässte und ausgewaschene Bluejeans, ein T-Shirt und darüber der ausgediente, triefende Ledermantel, der ihm viel zu groß war. In der Hand hielt er einen ausgebeulten, bis an den Rand vollgestopften Rucksack.

Wie ein Landstreicher, durchzuckte es Amy. Ihr Blick wanderte über ihn hinweg und blieb an seinen schmalen, jedoch kantigen Gesichtszügen hängen. Freundliche, haselnussbraune Augen schauten sie an. Er mochte kaum älter sein als Trey, vielleicht dreiundzwanzig, jedoch zu dessen hochgewachsenem, schlankem Körperbau, einen guten halben Kopf kleiner.

„Entschuldigen Sie!“ Hastig nickte er den beiden Mädchen zu. „Mein Name ist Alec Galbraith und ich bin auf der Suche nach Arbeit!“

Wie er so dastand, fast verschüchtert und völlig durchtränkt vom kübelnden Regen, tat er Amy leid. Sie konnte ihn nicht wegschicken, jedenfalls nicht in seinem derzeitigen Zustand. Das würde auch ihr Vater einsehen.

„Sehen Sie den Mann dort hinten, in dem gelben Regenumhang?“ Sie deutete zur Scheune hinüber, wo einige der Cowboys die neuen Stacheldrahtrollen zu kleinen Häufen stapelten. „Das ist unser Vormann. Er kann Ihnen auf jeden Fall erstmal ein Zimmer geben, damit Sie sich aufwärmen können!“

Gottfroh, nicht gleich fortgejagt worden zu sein, strahlte der junge Mann sie an. „Vielen Dank, Miss! Vielen Dank!“ Er trat drei Schritte rückwärts und fiel dabei fast die beiden Stufen zur Veranda hinab. Hochroten Kopfes wandte er sich um und marschierte durch den matschigen Sand, wo die Regentropfen in den Pfützen ihre Kreise zogen, zu Dan hinüber. Lange blickten die beiden Mädchen ihm nach.

„Komischer Kerl“, fand Jean. „Sieht aus, wie ein Zigeuner!“

„Aber nett“, entgegnete Amy nachdenklich. „Sogar sehr nett!“

Verständnislos schüttelte Jean den Kopf. „Wie willst du das beurteilen? Du hast ihn vor zwei Minuten das erste Mal gesehen!“

„Er ist nett! Das weiß ich! Hast du seine Augen nicht bemerkt?“

„Das, was ich bemerkt habe, war ein Haufen lumpiger Klamotten, die außerdem auch noch völlig nass sind“, erwiderte Jean seufzend. Sie verstand nicht, was plötzlich in ihre Freundin gefahren war. „Komm jetzt! Wenn Dan ihn einstellt, können wir ja noch herausfinden, ob du recht hast!“ Jean zupfte an Amys Bluse. „Lass uns weiter üben! Ich singe und du spielst, sonst klappt das nie!“

Nur widerwillig ließ die Rancherstochter sich aus dem Türrahmen zerren, damit Jean diese schließen konnte. Noch immer hing ihr Blick an dem jungen Mann, der inzwischen mit dem Vormann in ein Gespräch verwickelt war. Diese wunderschönen, sanften Augen und dieses Lächeln! Er war nicht unbedingt sonderlich gutaussehend. Seine Nase schien zu schmal, sein Mund ein wenig schief – und dennoch…wenn es nicht sein Aussehen war, was war es dann? Warum spürte sie plötzlich dieses eigenartige Ziehen in ihrer Magengegend? Weshalb konnte sie so fest davon überzeugt sein, ihm vertrauen zu können?

Seine Augen, dachte Amy, es müssen seine Augen sein!

* * *

Längst war der Klinikalltag in Summersdale für Matthew zur Routine geworden. Er genoss die ruhigere, bedachtere Arbeitsweise, wie er sie aus London nicht kannte und er hätte sich daran gewöhnen können, wäre da nicht der ständige Druck gewesen, dem er sich selbst aussetzte. Wenn er zurückkehrte nach England, dann nur, um die Stelle des Chefarztes anzutreten und dazu erwartete die Klinikleitung gute Zeugnisse von ihm, sehr gute sogar. Sie mussten besser sein, als die jedes seiner Mitbewerber und dann – ja, dann würde er im obersten Stock, hinter dem riesigen Schreibtisch sitzen, die jungen Assistenzärzte einweisen, ihnen Ratschläge erteilen und sie zu fähigen, verantwortungsbewussten Medizinern ausbilden.

Diese Woche war Matt zum Schichtdienst eingetragen und somit konnte er vormittags zunächst ausschlafen und hinterher eine Runde joggen gehen, was ihm die normale Arbeitszeit selten vergönnte. Mit bester Laune und schon im blauen Jogginganzug kam er die Treppe der Blockhütte herunter geeilt.

„Rachel! Liebling!“, rief er und beim Anblick des üppig gedeckten Frühstückstisches meldete sich sein Hunger. Aus der Küche klirrte das unsanft ineinandergestellte Geschirr. Matt kümmerte sich nicht weiter darum, ob seine Frau sich nun zu ihm setzen würde oder nicht. Er hatte es sich abgewöhnt, danach zu fragen und sich schlecht gelaunte Antworten einzufangen.

In bester Stimmung griff er nach dem Glas frischgepressten Orangensafts. Da wurde die Klapptür zur Küche mit Schwung aufgetreten und Rachel stolzierte auf hohen Pfennigabsätzen herein. Auf den ersten Blick erkannte Matthew, dass er heute lieber die Zügel annahm und sich am Riemen riss, sollte er nicht wert auf einen Streit legen.

Mit zusammengekniffenen Lippen ließ Rachel sich ihm gegenüber am rechteckigen Tisch nieder und schenkte sich eine Tasse heißen, dampfenden Kaffee ein. Beim Anblick ihres zufrieden lächelnden Mannes, der sich jetzt eines der noch warmen, frisch aus dem Ofen kommenden Brötchen aufschnitt, runzelte sie missmutig die Stirn.

„Nicht wahr – meine hausfraulichen Fähigkeiten haben sich sehr zu deinen Gunsten verbessert, seitdem wir hier sind?“

„Oh ja“, bestätigte Matthew mit vollem Mund. „Ich glaube, wir werden Louisa in Ruhestand schicken, sobald wir wieder zwischen Marmor und Zement leben! Es sei denn, wir legen unser Geld in einer anderen Immobilie an.“ Eigentlich hatte er etwas ganz anderes sagen wollen, es war ihm nur so herausgerutscht.

Mit lautem Scheppern stellte Rachel ihre Kaffeetasse so heftig ab, dass der Inhalt überschwappte und sich über den Tisch ergoss, doch das war ihr gleichgültig. Sie lächelte gereizt.

„So? Wie ich deiner Aussage wohl entnehmen soll, liebäugelst du anscheinend mit Plänen bezüglich örtlicher Veränderungen, wenn du erst einmal in Rente bist?“

„Daran denke ich doch jetzt noch nicht“, widersprach Matthew schnell. „Meine Karriere fängt doch gerade erst an!“

„Wir haben auch im Augenblick wichtigere Dinge zu besprechen.“ Schlagartig wurde Rachel sehr ernst. Mit einer Serviette begann sie, den übergeschwappten Kaffee vom Tisch zu wischen. „Ist dir aufgefallen, dass unsere jüngste Tochter sich völlig von uns zurückgezogen hat?“

„Nein, ehrlich gesagt nicht.“ Matt schluckte und holte hörbar Luft. „Sie ist doch ohnehin die ganze Zeit mit dir unterwegs.“

Eine Sekunde starrte Rachel ihn verständnislos an. „Mit mir? Wie kommst du darauf? Ich habe seit Wochen nicht viel mehr von ihr gesehen, als dass sie abends zum Schlafen hierherkommt – wenn überhaupt.“

„Hmm“, machte Matt und schürzte die Lippen. Ihre Kommunikation schien noch schlechter zu sein, als früher in der Villa und er selbst war viel zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, als dass es ihm jemals aufgefallen wäre, dass eine seiner Töchter sich kaum noch in der Hütte blicken ließ. Er überlegte, wann er Patty das letzte Mal zu Gesicht bekommen hatte, doch es fiel ihm beim besten Willen nicht ein.

„Ich mache mir ernsthaft Gedanken.“ Rachels Stimme klang fordernd und bissig. „Ich habe gestern mit ihrer Klassenlehrerin gesprochen. Sie sagt, dass Patty regelmäßig zu spät kommt oder die Schule ganz schwänzt!“

„Ach, jetzt komm schon!“ Beschwichtigend hob Matt die Arme. „Sie ist jung und in einem Alter, in dem junge Leute eben ihre Grenzen austesten! Lass sie doch! In ein paar Monaten gehen wir sowieso zurück nach England, was soll’s?“

„Was es soll?!“ Rachels Stimme überschlug sich. „Sie ruiniert sich ihren Ruf! Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was sie so alles treibt, wenn wir nicht wissen, wo sie sich aufhält!“

Beruhigend schüttelte Matt den Kopf. „So schnell bricht sich niemand den Hals – auch unser kleines, verwöhntes Töchterchen nicht!“

„Ich meine damit keine Halsbrüche!“ Rachel war aufgesprungen. Ihre Faust krachte auf den Tisch. „Sie treibt sich mit Jungs herum und sie hat angefangen zu rauchen! Möchtest du dir vorstellen, was sie sonst noch alles anstellt? Ich lieber nicht, nach allem, was mir ihre Lehrerin erzählt hat!“

„Ach so?“, machte ihr Mann und biss nachdenklich in ein Stück Apfelkuchen. „Von was war denn die Rede, wenn ich das erfahren darf?“

„Unsere Tochter genießt inzwischen den Ruf der Schulmatratze! Und ich glaube kaum, dass ich dich darüber aufklären muss, was das zu bedeuten hat, oder?“

Ein wenig verdutzt starrte Matthew zu ihr hinauf, während Rachel immer noch über dem Tisch lehnte, sich beinahe drohend vor ihm aufbauend. Er würgte den Bissen hinunter.

„Patty wird doch erst fünfzehn! Sie hat doch noch keine Ahnung!“

„Derart blauäugig kannst auch nur du sein! Weil du dich mit deinem überschwänglichen, väterlichen Einsatz ja auch so ausführlich darum kümmerst, was deine Töchter den ganzen Tag lang treiben!“

„Ich soll mich darum kümmern, ja?“ Langsam schob Matt den Stuhl zurück. Mit einem leisen Schlag landete seine Serviette auf den Tisch. „Und wie wäre es, wenn du dich deiner Töchter annehmen würdest?! Falls es dir entgangen sein sollte: Ich habe einen anstrengenden Job zu erfüllen! Du dagegen treibst dich ja nur mit deinem Modeverein herum!“

„Fängst du etwa schon wieder damit an, mir meinen Modeverein schlechtreden zu wollen?!“ Wutentbrannt gingen die beiden aufeinander los, wie zwei wilde Tiere und Matt zögerte nicht lange, noch eins draufzusetzen: „Das einzige, was dir in deinem Leben überhaupt von Bedeutung ist, sind Geld und dein Name! Nur darum machst du dir Sorgen, nicht um unsere Tochter! Nein, du machst dir nur darum Gedanken, dass sie deinen geheiligten Namen in den Dreck ziehen könnte!“

„Es ist dir wohl völlig entfallen, dass dies auch dein Name ist!“, entgegnete Rachel überlegen und warf mit einer heftigen Bewegung den Kopf zurück. „Außerdem lebst du ja auch nicht schlecht auf die Kosten des Vermögens, das mein Vater mir hinterlassen hat!“

Matt musste die Augen schließen, um sich beherrschen zu können. „Hör endlich auf damit! Dieses leidige Thema steht mir bis sonstwo!“

„Und weißt du, warum? Weil es die Wahrheit ist! Du kannst nicht damit leben, dass mir das Vermögen allein gehört!“

„Stell dir vor: Dass ich keinen Cent davon erben würde, war mir schon vor unserer Hochzeit klar! Du und dein Vater – ihr habt mehr voneinander, als euren Mitmenschen lieb sein kann!“

„Vater war der gütigste Mensch, den ich jemals gekannt habe!“, brauste Rachel auf und schlug erneut mit der Faust auf den Tisch, diesmal fester. Einer ihrer Fingernägel brach ab, sie registrierte es nicht. „Es ist doch wohl selbstverständlich, dass er Angst um seine Tochter hatte!“

„Natürlich“, stimmte Matthew großmütig zu. „Es ist ja auch ganz selbstverständlich, dass bis zu dem Tag, an dem er endlich unter der Erde verscharrt wurde, seine Lieblingsbeschäftigung darin bestand, seinen Schwiegersohn zu tyrannisieren!“ Gespielt entsetzt schlug er die Hände ineinander und drehte die Augen gen Decke. „Ach, Matthew, mein Sohn!“, flötete er mit verstellter Stimme. „Wirst du denn überhaupt jemals fähig sein, meiner Tochter den nötigen Lebensstandard zu bieten? Einen Arzt hatte ich mir nun wirklich nicht als zukünftigen Schwiegersohn vorgestellt!“ Matts Fäuste donnerten krachend auf die Tischplatte. „Nein! Ich hatte mir auch keinen solchen Schwiegervater vorgestellt und erst recht keine Frau, die ihm, je länger ich mit ihr verheiratet bin, ähnlich wird wie ein Zwilling!“

Empört stieß Rachel einen Schrei aus: „Niemand wagt es, ungestraft so über meinen Vater zu sprechen!“

„Oh doch! Ich! Ich wage es! Und ich wage sogar noch viel mehr! Hätte ich damals nämlich schon erkannt, was ich heute weiß, dann hätte ich dich irgendeinem Wirtschaftsboss oder Finanzheini überlassen, von dem dein Vater immer geträumt hat! Vielleicht wärst du dann zur berühmten Londoner Modeschöpferin aufgestiegen und hättest die Firma nicht an den erstbesten, reichen Konzernchef verhökert, der mit den nötigen Scheinchen unter deiner Nase gewedelt hat! Also, tu’ nicht so scheinheilig! So viel kann dir das Lebenswerk deines werten Herrn Vaters nicht bedeutet haben!“

„Gut, dass du mir jetzt endlich die Augen geöffnet hast! Dann weiß ich ja, was ich als nächstes zu tun habe!“

„Das freut mich für dich, aber lass mich dabei bitte aus dem Spiel!“

Ohne Rachel die Chance zu geben, etwas zu erwidern, lief er mit großen Schritten zur Haustür und ließ sie hinter sich offenstehen. Er rannte zur Einfahrt hinaus, quer über die Grasebene. Immer schneller trugen seine Beine ihn den Hügel hinauf, bis er völlig außer Atem stehenbleiben und verschnaufen musste. Schon nach wenigen Sekunden jedoch trieb der Zorn ihn weiter und erst, als er den Waldrand erreichte, merkte er, wie er sich innerlich wieder ein wenig beruhigte.

* * *

An diesem Donnerstagnachmittag brannte die Sonne besonders heiß und stechend auf den Landstrich zwischen der Silver Range und dem Snake River herab. Der Hochsommer drängte seinem Höhepunkt entgegen und ließ manchen der Männer sehnsüchtig vom weit entfernten Wintereinbruch träumen. Die vor wenigen Wochen noch grünen Weiden der Prärien hatten sich in ödes, eintöniges Braun verwandelt, das nur von den immergrünen Laubbaumwäldchen durchbrochen wurde. Über den Sandflächen, nahe der im Norden liegenden Felsen, flimmerte ein dünner Streifen Hitze dicht über dem Boden und das Bett des schmalen Flüsschens lag bis auf ein schmales Rinnsal ausgetrocknet.

Träge grasten die Rinder der großen, über gut eine Meile verteilten Herde die dürren Halme ab oder lagen müde von den niederbrennenden Sonnenstrahlen mit fast geschlossenen Lidern im Halbschlaf. Der schwüle Wind trug ihr Muhen und Kauen weit über die stille Ebene hinweg, fast bis hinüber nach Silvertown.

Gegen Mittag frischte die Brise von Westen her auf und brachte endlich die ersehnte Abkühlung. Erschöpft nahm Trey sich den verstaubten, grauen Hut vom Kopf und wischte mit dem Ärmel seines Hemds über die mit Schweißperlen bedeckte Stirn. Von dem langgestreckten, grasbewachsenen Hügel aus hatte er einen weiten Blick über die Herde und das Land und erleichtert stellte er fest, dass die Rinder heute ausgesprochen ruhig und gehfaul waren.

Plötzlich vernahm er Hufgetrappel hinter sich und eine Stimme rief: „Na, deinen schlauen Job möchte ich auch Mal kriegen! Eben habe ich wieder eins dieser verflixten Viecher eingefangen! War schon auf dem Weg in Richtung Canyon!“

„Oho!“ Gespielt bemitleidend verzog Trey das Gesicht. „Dabei sind die lieben Tierchen heute doch so brav und anständig!“

Alec dirigierte seine Fuchsstute neben den goldfarbenen Wallach mit den vier schwarzen Beinen.

„Schläfst du, während du hier aufpassen sollst?“ Er schmunzelte. „Aber, wenn ich das richtig sehe, gibt’s jetzt erstmal Pause!“ Er deutete auf einen noch weit entfernten Punkt in der östlichen Prärie, der schnell näher kam und dabei eine große Staubwolke aufwirbelte.

„Das ist Joey mit unserem Mittagessen“, mutmaßte Trey und grinste zufrieden. „Hoffen wir, dass der Wagen es noch bis zu uns herüber schafft. Mit der Ölpumpe stimmt was nicht.“

„Hoffentlich muss ich mich nicht mit den aufgewärmten Bohnen von gestern begnügen.“ Alec trieb seine Stute an.

Trey wollte ihm schon folgen, als er hinter sich eine Bewegung wahrnahm. Im Sattel umdrehend, zügelte er seinen Wallach.

„Hey!“, rief er dem anderen Cowboy nach. „Nervensägen im Anmarsch!“

Nicht weit entfernt preschten zwei Pferde in vollem Galopp heran, das eine weiß, das andere braun-gescheckt. Ein wenig irritiert blickten die beiden jungen Männer den schnell näherkommenden Tieren entgegen.

Im Vorbeijagen schrie Amy ihnen zu: „Nicht schlafen! Mein Vater hat euch zum Arbeiten eingestellt!“ Schon waren sie und Jean vorüber und galoppierten nebeneinander den Hügel hinab, rechts an der Herde vorbei.

„Ich glaub’s ja nicht!“, brüllte Trey ihnen lachend nach und stieß einen Pfiff aus, woraufhin sein Goldbrauner mit den schwarzen Beinen augenblicklich in die Höhe stieg, um danach anzugaloppieren. Alec verstand. Die beiden jungen Männer gaben ihren Pferden die Zügel frei und nahmen die Verfolgung auf. Die beiden Mädchen hatten einigen Vorsprung gewonnen und ihre Pferde waren eben erst aus dem Stall gekommen und ausgeruht, während sich die Tiere der beiden Cowboys schon seit den Morgenstunden im Einsatz befanden. Nahe der Stelle, wo der Pickup abgestellt werden würde, zügelten Trey und Alec ihre Pferde und ließen die beiden Mädchen entkommen.

„Tja…“ Trey grinste anerkennend. „Das nennt sich Schicksal! Zuerst bringt man ihnen das Reiten bei und dann beweisen sie einem, dass sie besser sind als du!“

„Reiten beibringen?“, wiederholte Alec, wobei er verständnislos die Augen aufriss. „Wer? Du?“

„Natürlich!“, versicherte Trey mit ernstem Gesicht. „Alles, was die kleine Engländerin kann, hat sie sich doch von mir abgeschaut! Chris’ theoretische Sandplatzrunden tragen höchstens dazu bei, dass sie beim ersten Galopp nicht gleich davonfliegt!“

Im nächsten Augenblick grinste er verschmitzt und trieb sein Pferd wieder an, ehe Alecs Stiefel ihn am Oberschenkel treffen konnte.

* * *

Genüsslich zog der junge Mann an seiner Zigarette und lehnte sich mit dem Rücken an die raue Holzwand der Scheune. Er streckte die Beine aus und gähnte. Ein anstrengender Tag lag hinter ihm und er war froh, es endlich geschafft zu haben. Die Sonne schien warm auf sein Gesicht und er war kurz davor einzudösen, als eine fröhliche Stimme plötzlich über ihm sagte: „Hallo Alec! Hast du Feierabend?“

Erstaunt schlug er die Augen auf und blinzelte. „Ja, für heute bin ich fertig! Im wahrsten Sinne des Wortes!“ Er spickte die Asche seiner Zigarette in den Sand.

„Dan ist sehr zufrieden mit deiner Arbeit, was ich so gehört habe!“

Es klang beiläufig, doch Amys große, dunkle Augen beobachteten seine Reaktion genau. Nach kurzem Zögern setzte sie sich neben ihn.

„Oh, vielen Dank!“ Alec schob sich den verbeulten Hut aus der Stirn. „Ich gebe mein Bestes, obwohl ich – ehrlich gesagt – solch harte Arbeit nicht unbedingt gewohnt bin!“

„Warst du denn vorher noch nie auf einer Ranch angestellt?“ Neugierig blinzelte Amy ihn an. Sie fühlte keine Skrupel, ihn so direkt danach zu fragen und er spürte das. Während er sprach, musste sie ihn unentwegt betrachten. Ihr Herz klopfte wie wild. Was löste er nur für Gefühle in ihr aus? Sie waren fremd und neu und doch ganz einzigartig schön. Am liebsten hätte sie den Arm ausgestreckt und ihn berührt, doch sie unterdrückte dieses zwanghafte Bedürfnis und faltete ihre Hände stattdessen in ihrem Schoß.

„Nicht wirklich.“ Alec zuckte die Schultern. „Dafür war ich so ziemlich alles andere: Autowäscher, Zeitungsausträger, Regaleinräumer im Supermarkt…alles, was du dir vorstellen kannst. Irgendwie nichts Vernünftiges und nichts, wofür man hätte etwas Großartiges lernen müssen. Idiotenarbeit eben.“

„Was ist schon etwas Vernünftiges?“ Amy seufzte. „Jeder muss doch für sich selbst herausfinden, was ihm gefällt und was nicht.“

Langsam wandte er den Kopf. Ihr unschuldiges, hübsches Gesicht, das ihn mit solch unerschütterlichem Vertrauen betrachtete, verwirrte ihn. Was wollte sie wirklich von ihm? Nur mit ihm plaudern? Vermutlich. Vielleicht war ihr langweilig. Sie schien ihm so naiv, fast weltfremd und voll überschwänglicher Liebenswürdigkeit zu sein und dabei so unbeschreiblich, hinreißend süß. Wäre sie nur nicht die Tochter seines Arbeitgebers gewesen…

„Na ja…“ Er zögerte. „Vernünftig im Sinne, was die Gesellschaft darunter versteht. Ich war noch nie wie die anderen.“

„Wo kommst du her?“

Sie konnte aber auch hartnäckig sein! Er schmunzelte. „Geboren bin ich in der Nähe von Amarillo, Texas. Aber als meine Eltern starben – da war ich acht – kam ich in ein Heim. Irgendwann bin ich von dort abgehauen, ich glaube, das war mit siebzehn und von da an habe ich mir eben meinen Lebensunterhalt mit allem verdient, was ich gerade tun konnte, bin von hier nach dort gereist, zu Fuß, per Anhalter oder mit dem Bus. Irgendwo landet man immer, wie du siehst!“

Amy hatte ihm schweigend zugehört und als er jetzt den Blick hob, lächelte sie zurückhaltend.

„Und du?“, wollte Alec wissen. „Welche Pläne hast du für deine Zukunft?“

„Ich?“ Sie lachte leise auf. „Eigentlich gar keine. Man macht doch meistens umsonst Pläne und das Leben spielt ganz anders. Ich warte einfach ab, was das Leben mit mir so vorhat.“ Und auf seine verblüffte Miene hin, fügte sie hastig hinzu: „Ich bin nicht dafür geeignet, irgendwann zu studieren oder einen Beruf zu lernen. Bei Jean ist das etwas anderes – sie besitzt Ehrgeiz, unglaublichen Ehrgeiz sogar und sie hat genaue Vorstellungen von dem, was ihr wichtig ist, auch, wenn sie es vielleicht nicht umsetzen kann. Aber ich? Ich weiß nicht. Vielleicht übernehme ich einfach nur die Ranch.“

Alec grinste. „Dann sieh zu, dass du eines Tages Cowgirl wirst! Wir könnten weibliche Verstärkung gebrauchen!“

„Vielleicht. Mal abwarten, was Daddy dazu meint! Ich glaube kaum, dass ich ihn dafür begeistern kann!“

Der junge Mann drückte seine Zigarette im Sand aus. „Dann hoffe ich für dich, dass schon bald ein Märchenprinz vorbeikommt und dich in sein Schloss entführt! Das heißt, eigentlich muss er sich ja von dir auf die Ranch entführen lassen!“

„Oh!“ Amy lächelte geheimnisvoll und gleichzeitig ein wenig unbeholfen. „Den Prinzen kenne ich schon! Er weiß es nur noch nicht!“

Die Überzeugung in ihrer Stimme ließ ihn erstaunt innehalten. Er wollte etwas erwidern, doch Amy sprang bereits auf und lief ohne ein weiteres Wort über den Hof, zum Wohnhaus hinüber. Verwundert ließ sie ihn zurück. Was sie mit dieser Aussage wohl meinte? Er schüttelte den Kopf – ein verrücktes, kleines Mädchen, diese Amy Arkin! Aber süß, einfach bezaubernd. Wenn sie nur ein bisschen älter gewesen wäre, zwei, drei Jahre, dann…er verbot sich den Gedanken rasch, denn sie war es nicht. Sie war ein sechzehnjähriges Kind und er war ein junger, vernünftiger Mann – zumindest glaubte er das von sich. Da verstand es sich von selbst, dass er seine Finger von ihr ließ. Er hatte ohnehin nicht vor, zu lange hierzubleiben. Zu viele Monate an ein und demselben Flecken Erde lagen ihm nicht.

Schade, dachte er. Zu schade, dass ich nicht mehr miterleben werde, wie sie sich entwickelt und was sie nach der Schule wirklich tun wird.

Die Brücke zur Sonne

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