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Aus den Lautsprechern...

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Aus den Lautsprechern des schwarzen, neu erworbenen Radios spielte von der Fensterbank her leise Glenn Miller durch den Wohnraum, während Matt am rechteckigen Esstisch vor einem Stapel von exakt siebzehn Tageszeitungen, medizinischen Fachblättern und Zeitschriften saß. Der Nachmittag in Summersdale war äußerst erfolgreich verlaufen und hatte seinen Geländewagen auf die erste harte Probe gestellt: Nämlich die, ob der Kofferraum mitsamt dreiviertel der Rücksitzbank zum Verstauen sämtlicher Einkäufe ausreichen würde. Die Hütte entsprach natürlich längst nicht Rachels Ansprüchen und deshalb war ihr Eigentum nun auf fast das Doppelte dessen, was bei ihrer Ankunft vorhanden gewesen war, angewachsen. Außerdem hatte es sich Rachel nicht nehmen lassen, sofort einen Architekten zu engagieren, der sich um einen Umbau, den Anbau eines weiteren Raumes zum Zweck eines begehbaren Kleiderschranks und der Erneuerung des Badezimmers und des Dachs, sowie dem Einbau einer Zentralheizung kümmern würde. Matt beschloss, sich diesbezüglich vollkommen herauszuhalten und einfach Scheuklappen aufzusetzen. Es war schließlich nicht sein Geld, was sie hier unnötig verschwendete. Er war lange genug mit ihr verheiratet, um zu wissen, dass alles Reden nichts nützte, wenn sich Rachel einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte und im Grunde war er ja froh, dass sie immerhin seit dem Vormittag nichts mehr von einem Umzug nach Summersdale hatte verlauten lassen. Wozu sollte er sich also einmischen? Hauptsache, sie ließ ihn in Frieden und er konnte für das kommende Jahr in dieser Abgeschiedenheit leben, wie er es sich immer erträumt hatte. Es war ja sowieso nur für ein Jahr und aus seiner Sicht viel zu kurz. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte London vermutlich für immer den Rücken gekehrt, aber ihn fragte niemand und er zählte in dieser Familie ohnehin nur am Rande, ganz zum Schluss, wenn seine Frauen ihre Wünsche befriedigt hatten.

Dadurch, dass die meisten ihrer Kleider in London hatten zurückbleiben müssen, war auch ein Besuch des teuersten Modegeschäfts in Summersdale unvermeidbar gewesen. Für die bevorstehende Feier war Rachels Wahl auf ein lachsfarbenes Kostüm mit Blazer und knöchellangem, schwingendem Rock gefallen und jetzt stand sie im oberen Stockwerk im Badezimmer vor dem Spiegel, um sich entsprechend herzurichten. Schließlich wollte sie gleich von vorn herein einen guten Eindruck hinterlassen und den hier ansässigen Hinterwäldlern klarmachen, welchen Status sie besaß.

Matthew rückte seine Fliege zurecht und warf einen bedenklichen Blick auf seine Armbanduhr, die ihm sagte, dass es gleich halb sieben war und sowohl von seiner Frau, als auch von seiner jüngsten Tochter hatte er bisher nichts gehört und gesehen – aber diese Situation war ihm ja hinlänglich bekannt.

In dem – wie alles in diesem Haus – viel zu kleinen Badezimmer schlüpfte Patty widerwillig in ihr hellblaues, mit Blumendruck verziertes Cocktailkleid, während Rachel ihrem Make-up den letzten Schliff verlieh. Das Schminkkästchen war mit allem gefüllt, was ihr Herz erfreuen konnte: Von Wimperntusche über mindestens zehn verschiedene Lippenstifte, Nagellacke bis hin zu Puder, Rouge und Grundierungen in verschiedenen Ausführungen und Farbnuancen – für jeden Anlass und jedes Kleid das passende. Rachel schminkte sich täglich. Es gab wohl niemanden, der sie je im Morgenmantel und ohne frisiertes Haar gesehen hatte, abgesehen von Matthew und das auch nur deshalb, weil sie als Ehepaar zwangsläufig ein Schlafzimmer miteinander teilten.

„Dieses Fest wird bestimmt nicht abgesagt werden, nur weil ich nicht dabei bin“, fand Patty und setzte sich mit mürrischer Miene auf den Rand der Badewanne.

„Vergiss es.“ In aller Seelenruhe zog Rachel ihren Lidstrich nach. „Das wird heute mein Abend! Außerdem ist es doch schade, wenn du nie Gelegenheit findest, das Kleid anzuziehen! Es war zu teuer, um nur im Schrank zu hängen.“ Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild. „Sei so gut und kümmere dich darum, dass deine Schwester halbwegs ordentlich aussieht! Ich möchte nicht, dass sie wieder herumläuft, als gehöre sie nicht zur Familie!“

„Aus ihr wirst du auch mit dem teuersten Kleid keine Schönheit basteln!“

„Ich habe dir gesagt, was ich von dir erwarte!“, kommandierte Rachel gereizt und machte den Platz vor dem Spiegel frei. „Los! Jetzt frisier’ dir noch die Haare und dann hilf deiner Schwester. Unpünktlichkeit wirft immer ein schlechtes Licht auf die Erziehung eines Menschen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Das hat mich schon mein Vater gelehrt – und der musste es wissen!“

Patty machte sich daran, ihr rotbraunes, leicht welliges Haar ziepend und zwickend mit der Bürste immer wieder durchzukämmen, um es zuletzt mit Haarspray ein wenig zu toupieren.

„Ich hasse es!“, entfuhr es dem Mädchen plötzlich verzweifelt. Sie kämpfte mit den Tränen. „Ich will zurück nach Hause!“

„Schon gut. Mach’ dir keine Sorgen.“ Beruhigend streichelte Rachel ihrer Tochter kurz, fast hastig die Wange. „Ich werde auch nie mit diesen Leuten hier zurechtkommen. Du hättest heute in der Stadt dabei sein sollen! Man braucht nur zu sehen, wie sie sich geben und kleiden! Ein verrücktes Volk, diese Amerikaner, zumindest die, die in dieser Gegend hausen und ausgerechnet hierher musste es deinen Vater verschlagen! Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt…“

„Ich auch!“, stimmte Patty eifrig zu und dachte an den zurückliegenden Nachmittag und ihre erste Begegnung mit ‚diesem verrückten Volk’.

Als hätte Rachel ihre Gedanken erraten, erzählte sie kopfschüttelnd: „Du wirst es nicht für möglich halten, aber heute sind uns sechs oder sieben Cowboys entgegengeritten kommen, als wir von der Stadt zurückfuhren. Richtige Cowboys, verstehst du? Wie aus einem Kinofilm! Das heißt, ich glaube sogar, eines davon war ein junges Mädchen. Entsetzlich!“

Patty schwieg und sie versuchte mit Grauen, sich innerlich auf das bevorstehende Fest einzustellen. Auf einmal beugte Rachel sich zu ihr hinab. Sie blickte ihrer Tochter fest in die Augen – schiefergrau traf auf grün und das Mädchen schluckte. Die Macht und der Wille, die von ihrer Mutter ausgingen, jagten ihr immer wieder großen Respekt, ja, manchmal sogar ein wenig Angst ein. Rachel bekam, was sie wollte – immer und völlig gleich, mit welchen Mitteln sie es erreichte. Verschwörerisch legten sich ihre Hände auf die dünnen Schultern ihrer Tochter. Der Griff wirkte eisern, unnachgiebig, fast herrisch und Patty versteifte sich unwillkürlich.

„Du darfst dich nicht an den Ansichten deines Vaters stören – er war schon immer ein hoffnungsloser Träumer. Schon, als ich ihn geheiratet habe und deshalb…“ Sie seufzte. „Nun ja, deshalb wollte ihn dein Großvater eigentlich auch nicht in der Familie haben.“ Sie schüttelte den Kopf und verhinderte, dass Patty ihr ins Wort fiel. „Du musst nur ganz klar unsere Meinung vor deinem Vater vertreten – und vor den anderen!“

„Natürlich!“, versicherte Patty überzeugt.

„Und“, fuhr Rachel leise fort, „du darfst niemals vergessen, wer du bist! Mein Vater hat mich sein Leben lang eines gelehrt: Was auch immer wir tun, wir müssen uns dabei vollauf bewusst sein, dass wir eine van Haren sind, alter, niederländischer Adel. Man kann ein Filmstar oder ein Millionär werden, aber als van Haren wird man nur geboren und darauf musst du stolz sein! Diese Ehre kann sich niemand erkaufen!“ Sie unterbrach sich und ein eigenartiges, kaltes Lächeln spielte um ihre vollen, roten Lippen. „Daran musst du auch immer denken, mein Mädchen! Du weißt, dass wir van Harens seit Jahrhunderten eine anerkannte, erfolgreiche Familie sind und wir können es noch bis in das nächste Jahrtausend hinein sein!“

„Ich schwöre dir, dass ich alles dafür tun werde, damit wir es bleiben“, erklärte Patty würdevoll und fühlte sich mit einem Mal unglaublich geehrt. Sie stammte aus einem alten Adelsgeschlecht. Wer konnte da schon mithalten?

„Es ist dir doch nicht gleichgültig, in welchem Umfeld du ein Jahr deines Lebens verbringst?“, fragte Rachel plötzlich, lauernd.

Irritiert schüttelte Patty den Kopf. „Nein, natürlich nicht!“

„Gut.“ Ihre Mutter nickte. „Du kennst das Problem und ich werde eine Möglichkeit finden, es zu lösen und zwar schneller, als es manchen Menschen lieb sein wird!“

Im grellen Licht der Scheinwerfer des schwarzen Jeeps waren die Unebenheiten auf dem schmalen Sandweg gut zu erkennen, doch zur Sicherheit hielt Matthew das Tempo gedrosselt. Auf der Asphaltstraße, die in linker Richtung nach Silvertown führte, bog er entgegengesetzt ab und trat aufs Gaspedal.

„Du scheinst ja genau zu wissen, wohin wir fahren müssen“, bemerkte Rachel herausfordernd, wobei sie ihren Lippenstift aus der Handtasche fischte.

„Es ist nicht schwer zu finden“, entgegnete Matt ruhig und konzentrierte sich auf die Straße.

Stumm saß Patty auf der Rückbank und starrte zum Seitenfenster hinaus, während ihre ältere Schwester leise eine Melodie vor sich hin summte. Sie schien aufgeregt, ja, geradezu erfreut zu sein, auf diese Feier gehen zu dürfen.

„Musst du meine Nerven schon wieder mit deinem falschen Gejodel strapazieren?“, blaffte sie Jean einige Sekunden später an, die überrumpelt verstummte. „Es ist ja schön, wenn du glücklich bist, in deinem Alter endlich einmal zu erfahren, was eine Party ist“, fuhr Patty keifend fort. Sie genoss es jedesmal, wenn sie ihrer zwei Jahre älteren Schwester hineinwürgen konnte, dass sie in vielerlei Hinsicht schon wesentlich besser informiert war als diese. „Wenn du dich mal anständig anziehen würdest und ein bisschen auf dich achten, würde dich vielleicht auch endlich mal ein Junge ausführen.“

„Patty!“, ermahnte Rachel sie, noch immer mit dem Lippenstift beschäftigt. Jean hingegen schwieg verletzt und starrte für den Rest der Fahrt regungslos zum Fenster hinaus. Sie kannte die Bosheiten ihrer kleinen Schwester zur Genüge und hatte keine Lust, sich davon den Abend verderben zu lassen. Was konnte sie dafür, dass sie nicht die Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte?

Draußen war es bereits dunkel. Nur ganz weit im Westen, über den weithin sichtbaren Gipfeln des bereits zu Oregon gehörigen Columbia Plateaus, erhellten die Sonnenstrahlen den Abendhimmel und schenkten ihm eine tiefe, leuchtend-rote Farbe. Je länger Patty nachdachte, desto unerträglicher kam ihr dieses ganze Leben vor. Sie träumte von der riesigen Bibliothek und dem freundlichen, gerade an solchen Abenden, herrlich gemütlichen Kaminzimmer in ihrer Villa in London. Da war das leise plätschernde Flüsschen, der säuberlich kurz gehaltene Rasen, wo sich kein einziger Halm Unkraut fand und auf dem sie im Sommer so gerne barfuß lief, weil er sich anfühlte, wie ein Meer aus Federn. Der Garten in seinen verschiedensten, genaustens aufeinander abgestimmten Grüntönen und die aus Marmorfliesen gearbeitete Terrasse unter dem Balkon – wie wundervoll sie doch dort lebten!

Das Schlagloch, gleich zu Beginn des ungeteerten Weges, in den ihr Vater jetzt einbog, warf Patty unsanft gegen die Außenverkleidung und riss sie aus den ersten, schönen Gedanken, seitdem sie in diesem Land angekommen waren. Falsch, dachte sie, gelebt hatten muss es heißen!

„Kannst du nicht aufpassen?“, fauchte sie zornig. „Meine ganze Frisur ist verrutscht!“

„Gleich sind wir da. Dort hinten, am Wald“, rief Matthew, um den ausbrechenden Zoff im Keim zu ersticken. „Es wird bestimmt interessant werden, all unsere neuen Nachbarn kennenzulernen!“

„Sehr interessant, bestimmt!“ Rachels Stimme klang zynisch. „Ich bin ja schon so wahnsinnig gespannt! Ich habe noch nie einen ehemaligen Revolverhelden getroffen. Wahrscheinlich kann er mir das Fest mit Abenteuergeschichten aus dem Wilden Westen versüßen! Und du kannst ja dann mit den Inhalten der neuesten Kinostreifen mitmischen!“

Matthew fiel nicht sofort eine passende Antwort ein, aber er hielt es sowieso für angebracht, den Mund zu halten. Wenn sich seine Frau in einer derartig reizbaren, bissigen Stimmung befand, sollte niemand es wagen, sie zu veranlassen, ihre scharfe Zunge in Gebrauch zu nehmen, auch er nicht.

„Was ist denn das?“ Verblüfft beugte Jean sich nach vorn, um besser erkennen zu können. Fasziniert starrte sie auf das, was sich vor ihnen auftat: Der Waldrand, auf den der Weg eben noch zugeführt hatte, war mit einem Mal auf gut einer Meile verschwunden. Dafür stand – wie ein einsamer Wachposten zwischen den auseinandergerissenen Bäumen – ein Windrad, so riesig, wie sie es noch nie gesehen hatte. Es erhob sich bis über die Wipfel der Baumkronen und die weiße Farbe seines Gerüsts schimmerte grell im Licht der Autoscheinwerfer.

Matthew bremste ab. „Jetzt im Dunkeln ist es schlecht zu erkennen“, meinte er bedauernd.

„Ich sehe genug“, entgegnete Rachel kalt.

„Die Arkin Ranch liegt in einer Waldschneise“, fuhr Matthew ungerührt fort. „Sie wird nach hinten breiter, wie ein Wassertropfen. Ein Sturm hat das Loch vor vielen Jahren hineingerissen und Ende des letzten Jahrhunderts wurde dort die Ranch gegründet.“

„Wirklich?“ Gereizt verzog Rachel das Gesicht. „Von wem hast du denn diese Erkenntnisse? Etwa vom werten Herrn Bürgermeister?“ Triumphierend stellte sie fest, dass ihr Mann nichts mehr entgegnete und zwinkerte Patty aufmunternd zu.

„Und du“, sie deutete mit dem Zeigefinger auf Jean, „benimmst dich heute Abend bitte so, dass ich mich danach nicht für uns schämen muss!“

„Ja, Mom.“ Jean senkte ihren Blick in den Schoß. „Ich bemühe mich.“

„Das höre ich bedauerlicherweise jedesmal! Ich möchte nur wissen, woher du dieses ungeschickte Wesen hast.“

Ihre ältere Tochter erwiderte nichts, sondern starrte regungslos zum Fenster des Wagens hinaus. Sie fuhren unter einem breiten Torbogen hindurch, der sich quer über den Weg spannte. Die auf dem gebogenen, breiten Holz herausgeschnitzten Buchstaben verrieten den Namen des Anwesens: Arkin Ranch. Dadurch, dass jeder Buchstabe mit weißer Farbe nachgezeichnet war, konnten sie die Worte auch im Dunkeln erkennen. Jede Ranch, ganz gleichgültig in welchem Gebiet, besaß einen solchen oder ähnlichen Eingangsbogen. Er stellte eine Art Ehrenkodex dar, wie diese sich präsentierte und jeder Besitzer bemühte sich, ihn ganz individuell nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

Der Weg führte zunächst direkt am linken Waldrand entlang, ehe er eine sanfte Rechtsbiegung an einer alten, großen Scheune vorbei machte. Gleich im Anschluss stand ein langes, ebenerdiges Holzgebäude mit vielen Fenstern an jeder Längsseite und zwei großen Toren an den Breitseiten – der Pferdestall. Dahinter befand sich ein kurzer, rechteckiger Pferch und in etwa zehn Metern Abstand dazu ein ebenerdiges, kleines Holzgebäude mit dem typischen, überdachten Vorbau. Vor den beiden Stufen waren Holzpfähle mit aufgeschraubten Querbalken zum Anbinden der Pferde in den Boden gerammt worden und einige Stühle sowie eine schlichte Bank standen neben der geschlossenen Haustüre. Aus den Fenstern des Erdgeschoßes strahlte Licht in die Nacht hinaus.

Im rechten Winkel zu diesem Gebäude thronte, genau an der gegenüberliegenden Seite der Einfahrt, das einstöckige Ranchhaus. Es war von weißer Farbe, die jedoch aufgrund der Witterung in einzelnen, bräunlichen Fetzen abblätterte. Es besaß ebenfalls eine überdachte Veranda, die über zwei Stufen erreicht werden konnte. Rechts davon drückten sich zwei niedrige Vorratshütten in den Windschatten, von den Cowboys lediglich witzelnd „Abstellkammern“ genannt.

Links des Ranchhauses, auf der freien Fläche neben dem Garten, hatte sich bereits eine Art Parkplatz gebildet, wo die eintreffenden Gäste neben– und hintereinander ihre Wagen abstellten und Matt beschloss, es ihnen gleichzutun.

Am Arm ihres Mannes schwebte Rachel die beiden Stufen zum Vorbau hinauf. „Na, denn!“ Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. „Lass uns feiern. Ah!“ Sie lachte geziert auf. „Mister Bentley! Wie schön, Sie wiederzusehen!“

Die Haustür war von innen geöffnet worden und als erstes trat ihnen der Bürgermeister Silvertowns entgegen, an diesem Abend im Nadelstreifenanzug und mit schwarzer Fliege. Sein roter Kopf glühte, während er ihnen nacheinander überschwänglich die Hände schüttelte.

„Wie schön, dass Sie da sind! Wir haben gerade von Ihnen gesprochen! Kommen Sie, kommen Sie! Der Hausherr möchte Sie doch auch endlich kennenlernen! Sie wissen ja überhaupt nicht, wieviel schon über Ihre Ankunft gesprochen wurde! Es kommt ja auch nicht alle Tage vor, dass sich eine echte, alt-eingestammte, englische Familie in unsere Gegend verirrt!“

Eingeschüchtert hielt Jean sich hinter ihren Eltern versteckt, während ihre jüngere Schwester selbstbewusst und voll strahlender Schönheit den Raum augenblicklich für sich gewann. Sie kokettierte mit dem Bürgermeister, als wäre sie mindestens einundzwanzig und hätte man ihr das junge Alter nicht angesehen, wäre sie bereits an diesem Abend eine wahre Konkurrenz für ihre eigene Mutter gewesen. Vermutlich hingen die beiden auch deshalb so sehr aneinander, weil sie sich so ähnlich waren, nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung, auch charakterlich standen sie sich sehr nahe.

Jean seufzte. Es war wie immer, wenn sie sich nicht dazugehörig fühlte zu diesen schönen, von allen anderen bewunderten Menschen. Sie selbst blieb immer wie die adoptierte Tochter, die irgendwie nicht recht hineinpasste ins Bild. Sie kam zu sehr nach ihrem Vater, nicht nur vom Äußeren. Wie in Trance spürte Jean, dass die Pranke des Bürgermeisters sie an der Schulter vorwärtsschob, hinein in das Ranchhaus. Ohne ihr Zutun traten ihre Beine über die niedrige Schwelle in das quadratische Treppenhaus. Verbrauchte, stickige Luft, Zigarettenrauch und Stimmengewirr schlugen ihr entgegen. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.

„Es sind zwar noch längst nicht alle da“, drang der sonore Bass Stevie Bentleys an ihr Ohr, „aber bei uns ist immer was los, aber das werden Sie schon noch feststellen!“

„Ah! Guten Abend! Da sind Sie ja!“, sagte plötzlich eine hellere, auffallend gefühlsbetonte Männerstimme neben ihnen, die Jean den Blick heben ließ. Zu ihren Eltern war ein Mann mit Bauchansatz und Doppelkinn, kaum größer als sie selbst, getreten. Sein langes, eckiges Gesicht mit den beiden tiefen Furchen neben den Mundwinkeln wirkte auf den ersten Blick ernst, fast griesgrämig, doch sobald er lächelte, verwandelte es sich auf unbeschreibliche Weise, da erschien dieser ihr fremde Mann schlagartig vertrauenserweckend und freundlich. Sein Haar war von dunklem, erdigem Braun, kraus und dick und mit einzelnen grauen Strähnen durchzogen. Er mochte höchstens Mitte fünfzig sein, obwohl er wesentlich älter wirkte.

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte er und reichte zuerst Rachel, dann Matthew die Hand. „Ich bin Ben Arkin. Schade, dass ich nicht hier war, als Sie mit Mister Bentley bei Ihrem ersten Besuch die Ranch besichtigt haben. Mein Vormann und meine Tochter haben mich aber hoffentlich würdig vertreten?“

„Du hast mir gar nichts von diesem entzückenden Häuschen berichtet“, warf Rachel ihrem Mann vor, ehe dieser dazu kam, etwas zu erwidern. „Aber Sie müssen wissen, Mister Arkin, Matt hat mit seiner Arbeit immer unbeschreiblich viel Stress und er trägt selbstredend große Verantwortung. Da vergisst er wichtige Punkte manchmal einfach zu erwähnen!“ Sie strahlte den Ranchbesitzer gütig an.

Entgeistert ruhte Matthews Blick einige Sekunden auf ihr, als wüsste er nicht, was er von diesen scheinheiligen Schwindeleien halten sollte. Was er soeben hatte erwidern wollen, war ihm mittlerweile entfallen.

„Nicht wahr, Liebling?“, flötete Rachel da und er rang sich zu einem Lächeln durch.

„Äh…ja…natürlich! Vielen Dank übrigens noch für die Einladung.“

„Ach was, keine Ursache! Das ist bei uns so üblich“, wehrte Ben Arkin ab. Erst jetzt wandte er sich den beiden jungen Mädchen zu. „Der Nachwuchs, wie ich annehme?“

„Ja, ja“, antwortete Matthew hastig, um seiner Frau zuvorzukommen. „Das sind unsere beiden Töchter – Jean und Patricia.“

„Jean Frances und Patrica Lorena“, fügte Rachel mit Nachdruck hinzu, um ihrer Korrektheit den genügenden Ausdruck zu verleihen.

Ben Arkin begrüßte die Mädchen und während er sie lächelnd aus seinen braunen Augen betrachtete, fühlte Jean, dass eine merkwürdige Verwandlung mit ihr geschah. Es war, als bohrte sein Blick ein winziges, millimetergroßes Loch in die stählerne Wand, die sie um sich errichtet hatte. Etwas von seiner entgegenkommenden, warmen Ausstrahlung, die mit einer geradezu drängenden Höflichkeit einherging, ergriff von ihr Besitz und ganz von selbst erwiderte sie sein Lächeln.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen“, hörte Jean sich leise sagen und spürte im selben Moment, wie Rachels eisiger Blick sie traf.

„Wie alt bist du?“, wollte der Ranchbesitzer ungeniert wissen.

„Sechzehn“, gab Jean bereitwillig Auskunft.

„Und ich bin vierzehn“, fügte Patty ungefragt hinzu und nahm ihre Schultern noch mehr zurück, damit ihre ohnehin bereits üppige Oberweite noch deutlicher zum Vorschein kam. „Aber die meisten Leute sagen, dass ich viel erwachsener aussehe als meine Schwester.“

„Interessant.“ Ben Arkins linke Augenbraue zuckte und er wandte sich von den Mädchen ab. Er streckte sich, um besser nach links hinein, in den großen Wohnraum sehen zu können, in dem das Fest stattfand und die Gäste sich bereits über das üppige Buffet hermachten.

Geradeaus, gegenüber der Haustüre, wand sich die Treppe ins Obergeschoß hinauf und links dahinter gelangte man in die Küche. Rechts, vor den ersten Stufen, war die doppelflüglige Türe verschlossen; dahinter lag das Arbeitszimmer des Ranchbesitzers und an den Garderobenhaken an der Wand daneben stapelten sich die Jacken und Hüte. Jean blickte sich um. Alles war in dem hier üblichen, schlichten Stil eingerichtet und hatte doch eine ansprechende, heimelige Wirkung auf den Betrachter. Sie konnte nicht leugnen, dass es ihr hier gefiel.

„Amy!“, rief Ben Arkin jetzt laut. „Komm doch mal her!“

Er winkte heftig mit dem Arm und wenige Sekunden später hüpfte ein junges Mädchen schallend lachend aus dem Wohnraum heraus. Sie trug ein bodenlanges, gelbgeblümtes Kleid und flache, weiße Schnürschuhe. Ihre dunkelbraunen, langen Haare wurden von einem unsichtbaren Haarnetz zu einem hoch oben angesetzten Nest zusammengehalten. Ihre ein wenig rundlich gebaute, kräftige Figur fiel in dem Kleid nicht weiter auf, im Gegenteil. Sie wirkte ausgesprochen elegant, dabei jedoch sehr kindlich-unschuldig und Jean erschien ihre eigene Aufmachung auf einmal unpassend, ja, geradezu lächerlich. Eine Dame sollte sie heute Abend spielen! Sie, die sich völlig hilflos und überfordert vorkam zwischen all den fremden Menschen, die überhaupt nicht mehr wusste, wie es nun richtig war, sich zu verhalten! Sollte doch Patty sich als die Dame von Welt ausgeben, die Rolle lag ihr doch perfekt. Sie selbst gehörte nicht wirklich dazu – weder zu der einen Seite, noch zu der anderen. Sie stand irgendwo dazwischen und wusste nicht genau, wer sie sein wollte. Natürlich, sie war das Kind ihrer Eltern, mit denselben Vorzügen und Privilegien gesegnet und aufgewachsen wie Patty. Trotzdem hatten sie sich beide in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. Patty ging in dieser Welt auf, während Jean immer noch nach etwas suchte, was sie dort nicht fand und das sie gar nicht benennen konnte. Es war diese Unruhe in ihr, die sie manchmal fast zur Verzweiflung trieb.

Amys rundes, hübsches Gesicht mit den roten Pausbacken und großen, dunklen Augen lächelte zurückhaltend. Sie war fast einen Kopf kleiner als Jean und verkörperte eine entwaffnende Natürlichkeit, die sie an die Straßenkinder erinnerte, mit denen sie früher so gerne gespielt hatte.

„Ja, Daddy?“ Sie stellte sich neben den Ranchbesitzer und musterte neugierig und unverfroren die Neuankömmlinge.

„Das sind die van Harens, die draußen das alte Blockhaus der Porters gekauft haben“, stellte Ben Arkin sie gegenseitig vor. „Und das ist Amy, meine Tochter.“

Höflich begrüßte das Mädchen die Gäste. Bei Jean verharrte sie einen Moment und die beiden musterten einander abschätzend. Jeans Herz schlug schneller und fühlte sich unwohl und verunsichert.

„Hallo!“ Die Rancherstochter streckte ihr die Hand entgegen. Ihre Augen funkelten interessiert. „Dein Vater hat mir schon viel von euch erzählt! Ich habe mich schon sehr darauf gefreut, dass ihr endlich da seid!“

Eine Sekunde überrumpelte das gleichaltrige, amerikanische Mädchen sie mit dieser Aussage. Verwirrt erwiderte sie den Gruß: „Äh…ja…hallo. Jean…ich meine, ich heiße Jean.“ Noch nie in ihrem ganzen Leben war sie sich so hilflos vorgekommen.

„Schön! Wie ich sehe, verstehen sich die beiden schon prächtig“, mischte sich zu ihrer Erleichterung Ben Arkin in diesem Moment ein. „Ich würde vorschlagen, Sie vertrauen Ihre Töchter für den Rest des Abends Amy an und kommen dafür mit mir! Ich werde Ihnen gleich einmal Ihre neuen Nachbarn und einige Bürger Silvertowns vorstellen!“

„Eine ausgezeichnete Idee!“, versicherte Rachel zur immer größer werdenden Verwunderung ihres Mannes und versetzte ihm einen auffordernden, unauffälligen Stoß mit dem Ellenbogen.

„Natürlich! Eine ausgezeichnete Idee!“, echote er zerstreut.

„Das sagte ich bereits!“

Die schrille, durchdringende Stimme ihrer Mutter zerriss den schützenden Dunst um Jeans Wahrnehmungen und brachte sie in die Welt der Realität zurück. Der mahnende, kalte Blick, den Rachel ihr zuwarf, erinnerte sie daran, was ihr bevorstand. Sie hasste diese Veranstaltungen und Partys, wusste sie doch nie richtig Small-Talk zu halten und war sie doch immer diejenige, die in irgendeiner Ecke stand, während ihre Mutter und ihre Schwester sich vor Gesprächs- und Tanzpartnern kaum retten konnten.

„Es ist herrlich, dass endlich jemand in meinem Alter in der Nähe wohnt“, sagte Amy in das eingetretene Schweigen hinein und strahlte die anderen beiden Mädchen ehrlich erfreut und ahnungslos an.

Spöttisch zog Patty die Stirn kraus. „Tut mir leid für dich, dass du keine Freundinnen hast!“

„Patty!“, zischte Jean entsetzt und spürte, wie sie peinlich berührt rot anlief. Wie konnte ihr Schwester nur?!

„Doch, doch, die habe ich schon!“, versicherte Amy schnell und noch immer lächelnd. „Nur wohnen die alle in Silvertown oder bis in Summersdale und haben natürlich nicht die Möglichkeit, andauernd den weiten Weg bis zu mir herauszukommen.“

„Ach so?“ Schnippisch warf Patty die Haare zurück.

Amy schaute sie aus ihren großen, braunen Augen nachdenklich an. „Kommt, ich zeige euch noch schnell unseren Stall und die Pferde, bevor es richtig losgeht!“, schlug sie nach einer langen Minute vor und riss die Haustüre auf. „Na, kommt schon!“

„Also, ihr entschuldigt mich bitte!“ Patty strich sich durch das Haar und schielte im Augenwinkel nach dem nächsten Spiegel. „Ich habe nun wirklich nicht vor, mein Kleid zu ruinieren.“ Sie grinste ihre Schwester herausfordernd an. „Aber geh du ruhig mit! Du wolltest doch sowieso reiten lernen!“

Jean fiel keine passende Erwiderung ein und sie verspürte auch keine Lust, sich jetzt schon wieder und dazu noch vor fremden Menschen mit ihrer Schwester zu streiten. So lächelte sie Amy höflich an und folgte ihr hinaus ins Freie. Obwohl Jean eine zum Cocktailkleid passende Jacke trug, fröstelte ihr in der kalten, zugigen Nachtluft. Neugierig und aufgeregt folgte sie der kleinen Rancherstochter, die angefangen hatte, unaufhörlich zu reden und wie ein junges Fohlen neben ihr her zu hüpfen.

„Was ist das denn eigentlich?“ Mit ihrem Kinn deutete Jean hinüber zu dem einstöckigen Holzgebäude, aus dem noch Licht aus den Fenstern fiel und an dem sie vorhin schon vorbei gekommen waren.

„Das ist das Bunkhouse“, erklärte Amy. „Dort sind die Männer untergebracht.“

„Die Männer?“, wiederholte Jean verständnislos.

Amy stieß ein kurzes, vergnügtes Lachen aus. „Na klar, die Männer!“

„In Ordnung und was tun sie da – die Männer in diesem Bunkhouse?“

„Na, wohnen natürlich! Im Sommer haben wir meistens acht bis zehn, die für uns arbeiten, im Winter weniger, je nachdem, wie das Jahr verlaufen ist. Aber seitdem in der ganzen Welt Westernfilme geschaut werden, ist der Tourismus eine echte Goldgrube, sagt Daddy immer! Vielleicht kommt dieses Jahr zum Stadtfest sogar Robert Mitchum als Stargast! Ist das nicht aufregend?“

„Robert Mitchum“, wiederholte Jean und Rachels Gesicht erschien vor ihren Augen. „Das erzählst du besser nicht meiner Mutter!“

„Wieso? Mag deine Mutter keine Schauspieler?“

„Doch, schon, aber keine, die in Westernfilmen spielen.“ Bedauernd hob Jean die Achseln. Sie kam sich auf seltsame Art und Weise völlig zweitklassig vor. Das hier, das waren Menschen, die hart für ihr Brot arbeiteten und sie? Was taten sie schon? Gut, ihr Vater war Arzt, aber ansonsten? Womit waren all der Luxus, in dem sie lebten, denn gerechtfertigt? Das Geld hatte ihr Großvater verdient und ihre Mutter gab es aus, mehr nicht. Sie brauchten nichts zu leisten, um sich alles gönnen zu können, was ihr Herz begehrte. Schnelle Schritte, die sie von hinten einholten, riss sie aus den Überlegungen.

„Ihr sollt euch beeilen!“ Patty schnitt ihrer älteren Schwester den Weg ab. „Mom schickt mich, dich zu holen, das Fest geht gleich los!“

„Wir schauen nur noch schnell die Pferde an!“ Jean scheuchte sie mit einer Handbewegung zur Seite. „Sag ihr, wir sind gleich da!“

„Komm doch kurz mit!“ Amy strahlte auf ihre natürliche Art zu Patty hinüber, bekam jedoch lediglich ein verächtliches Stirnrunzeln als Antwort.

„Weißt du schon, dass im Sommer Robert Mitchum in die Stadt kommt?“ Etwas Besseres fiel Jean spontan nicht ein, um die Situation zu retten, die Patty begonnen hatte, mit ihrer Überheblichkeit kaputtzumachen.

„Wen interessiert das schon? Der sieht ja noch nicht mal gut aus!“

„Zu uns in die Stadt kommen immer Hollywood-Stars!“, rief die Rancherstochter, als müsste sie Silvertown verteidigen. Zufrieden stellte Patty fest, dass Amys Stimme nun endlich ein wenig verärgert klang. Mitleidig legte sie den Kopf schief.

„Mach’ dich doch nicht lächerlich! Wir verkehren im vornehmsten Kino Londons! Da hat sogar die Queen eine Lounge reserviert und da darf bei Gott nicht jeder beliebige Knilch von der Straße hinein!“

„Eure Königin ist mir völlig gleich“, ereiferte sich das andere Mädchen. Ihre anfängliche Begeisterung für die Neuankömmlinge wich allmählich Verärgerung.

Bevor die beiden noch weiter in Zank geraten konnten, mischte Jean sich müde ein: „Lass uns doch bitte noch kurz die Pferde ansehen, ja?“

„Pff!“, machte ihre jüngere Schwester abfällig und warf den Kopf zurück. „Ich gehe wieder rein.“

„Tu’ das“, seufzte Jean und schloss für eine Sekunde die Augen. Wie peinlich! Weshalb musste ihre Schwester nur ständig so tun, als wäre sie etwas Außergewöhnliches? Konnte sie sich nicht einmal so benehmen, wie normale Menschen auch?! Amy erwiderte nichts mehr, sondern hastete davon. Jean lief ihr nach.

Das Tor zur Stallgasse war verschlossen und Amy drückte es gerade so weit auf, dass sie hineinschlüpfen konnte. Im Stall war die Luft wärmer als im Freien. Der intensive Geruch von Pferdefell, Leder, Mist und Heu schlug ihnen entgegen. Die kleine Amerikanerin knipste das elektrische Deckenlicht an und für eine Sekunde hörte das regelmäßige Malmen der Pferdezähne auf, als die Köpfe der Tiere sich aufmerksam hoben. Die Stallgasse war gut vierzig Meter lang und an beiden Seiten befanden sich halbhohe, große Holzverschläge, fünfzehn an jeder Seite, in denen je ein Pferd untergebracht war.

Gleich links, in den ersten beiden Boxen standen eine große, kräftige Stute und daneben ein noch höherer Braunschecke. Mit sichtlichem Stolz trat Amy zu dem Schimmel, deren Fell mit unzähligen, winzigen, braunen Punkten übersät war.

„Das ist Kitty. Sie gehört mir ganz allein. Mein Vater hat sie mir zum zwölften Geburtstag geschenkt. Sie ist große Klasse! Wann hast du eigentlich Geburtstag?“

„Am fünfzehnten März“, antwortete Jean gedankenverloren – sie grübelte noch immer über das Benehmen ihrer Schwester. Sie schämte sich fürchterlich vor dem anderen Mädchen. Sie musste ihr irgendwie beweisen, dass sie anders war und anders dachte als Patty.

„Was?“, rief Amy da schon und es klang begeistert. „Ich habe am vierundzwanzigsten! So ein Zufall! Dann sind wir ja fast gleich alt!“ Aufgeregt hüpfte sie zu Jean hinüber, die noch immer dicht hinter dem Tor stand. „Dann gehen wir in dieselbe Schulklasse! Ab wann musst du hin?“

„Wir haben noch Schonfrist bis Anfang nächsten Monats und dann…“ Das aufschwingende Tor neben ihr unterbrach ihren Satz. Ein kräftiger Mann, gut an die zwei Meter groß, erschien in der Stallgasse. Auch er trug einen Anzug, wie es scheinbar alle heute Abend taten.

„Habe ich mir doch gedacht!“ Gespielt tadelnd schüttelte er den Kopf. „Kaum komme ich aus dem Haus, sehe ich Licht im Stall! Wer könnte das wohl noch sein, zu so später Stunde? Hoffentlich ruiniert dir nicht noch ein hungriges Maul dein Kleid!“ Er grinste.

Munter deutete Amy auf Jean. „Das ist Dan, unser Vormann. Und das ist Jean van Haren. Du weißt schon, die Tochter von…“

„Ja, ja, richtig!“ Der grauhaarige Mann Mitte fünfzig tippte sich grüßend mit zwei Fingern an den breitkrempigen, braunen Hut. „Angenehm, Miss van Haren. Ich hoffe, es wird Ihnen und Ihrer Familie bei uns gefallen.“

Schmunzelnd betrachtete er ihr Kleid. Diese Mode heutzutage! Ein halbes Kind, wie diese Engländerin offenscheinlich noch war, in solch einen Fetzen zu stecken, der kaum ihre Knie bedeckte! Na, die verwöhnten Großstädter eben. Ja, als er jung gewesen war, da hatten die Mädchen noch herrlich lange, wallende Kleider mit drei Unterröcken zu tragen gehabt! Aber je weiter dieses Jahrhundert fortschritt, desto offenherziger schien der Geschmack zu werden.

Jean bemerkte den Blick des Vormann, der noch immer an ihrem Kleid hing und sie spürte, wie sie errötete. Vermutlich fand er, dass es ihr nicht stand, wie meistens, wenn ihre Schwester in der Nähe war; dann hatten alle nur Augen und Komplimente für sie und ihre außergewöhnliche Schönheit.

„Wir sollten vielleicht wieder zurückgehen“, murmelte Jean betrübt und trat eilig an ihm vorbei, in die Nacht hinaus.

Der Vormann starrte ihr nach. Er hob den Hut an und fuhr sich mit der Hand durch das stachelige, widerspenstige Haar.

„Habe ich was Falsches gesagt?“

„Hmm.“ Amy schob die Unterlippe vor. „Keine Ahnung! Sie sind beide etwas komisch, diese Engländerinnen…“

„Ach, es sind gleich zwei?!“

Amy stieß einen verächtlichen Laut aus. „Oh ja! Die hier geht ja noch, aber die andere! Eine echte Prinzessin ist das, sag ich dir! Wart’s nur ab, bis du sie erlebst!“

Gegen halb acht Uhr trafen die letzten Gäste ein und das Begrüßungsfest konnte offiziell beginnen. Die vierköpfige Musikgruppe sorgte für ununterbrochene Beschallung, was auf der kleinen Tanzfläche im überfüllten, dichtgedrängten Wohnraum zu dauernden Rempeleien führte. Die etwa sechzig Gäste amüsierten sich großartig und weil die meisten von ihnen abgeschieden auf ihren Ranches lebten, nahmen sie jede Feierlichkeit, zu der sie sich mit den Nachbarn und Freunden treffen konnten, begeistert wahr.

Rachel fand kaum eine Minute, die sie nicht auf der Tanzfläche zubrachte. Wie bei jeder Veranstaltung zog ihr schönes, makelloses Gesicht die Männer geradezu magisch an und nachdem es ihr gelungen war, Matt mit einigen Seitenhieben, die nur er verstehen konnte, in Verlegenheit zu bringen, befand sich ihre Stimmung auf dem Höhepunkt. Das war ihr Fest und sie würde den Anwohnern dieser Holzbudenstadt schon beweisen, wen sie hier vor sich hatten!

Matthew hingegen zog es vor, sich mit Ben Arkin und einem Glas gutem Whiskey in ein ruhigeres Eck zurückzuziehen. Die beiden Männer unterhielten sich schon den ganzen Abend angeregt und verstanden sich ausgesprochen gut. Beiden war die heimliche Leidenschaft für das Kino und das neue Medium Fernsehen gemein und ihre Unterhaltung glitt von einem Thema ins nächste, sodass sie kaum merkten, wie schnell der Abend voranschritt. Hin und wieder wurden sie durch andere Gäste gestört, die sich zu ihnen gesellten, doch sie fanden immer wieder einen Moment, in dem sie ihr Gespräch in Ruhe fortsetzen konnten.

„Sie werden sich bestimmt noch ein paar Tage erholen können, bevor die beruflichen Pflichten Sie rufen“, meinte der Ranchbesitzer jetzt.

„Oh nein“, musste Matt ihn belehren. „Nächsten Montag ist mein erster Arbeitstag. In der Klinik gibt es jede Menge für mich zu tun.“

Ben Arkin nickte in stummem Respekt. „Sie sind ja noch keine zwei Tage hier! Aber Ihr Ärzte scheint diese eiserne Disziplin alle in euch zu haben.“ Und mit einem Seitenblick auf Rachel bemerkte er: „Im Gegensatz zu den eher ländlich inspirierten Damen in unserer Gegend, ist Ihre Frau eine absolute Ausnahmeerscheinung. Verstehen Sie mich bitte um Himmels Willen nicht falsch!“, fügte er hastig hinzu. „Das war jetzt keineswegs negativ gemeint!“

„Ja, ja“, machte Matt, durchaus begreifend und lächelte gezwungen. „Rachel ist eben eine ganz andere Umgebung gewöhnt.“ Einen winzigen Moment gaben die tanzenden Paare den Blick auf Jean frei, die bei Amy neben der Türe an der Tanzfläche stand und zusah.

„Dann werden Ihre Töchter wohl auch nach Summersdale in die Schule gehen?“ Und ehe Matt etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: „Sie sind beide ganz typische Engländerinnen – so, wie wir sie uns hier immer vorstellen, aber vermutlich haben Sie Zuhause auch Ihren Prototypen eines Amerikaners!“

Der Arzt seufzte, ein wenig nachdenklich. „Patty hat einen sehr eigenwilligen Kopf. Ich weiß nicht, ob ich das als typisch Englisch bezeichnen würde.“

„Ich denke, sie wird doch begeistert gewesen sein, ein Jahr im Ausland verbringen zu dürfen! Wenn ich von Amy ausgehe, träumen heutzutage alle jungen Leute davon, in der Weltgeschichte umher zu reisen!“

„Nun – sagen wir, sie benötigt eine gewisse Gewöhnungsphase“, erwiderte Matt ausweichend.

„Ach, dafür hat sie doch meine Tochter!“, warf der Ranchbesitzer zuversichtlich ein und deutete zu den beiden Mädchen hinüber, die noch immer den Tanzpaaren zuschauten. „Wie Sie sehen können, verstehen sich Jean und Amy schon recht gut!“

„Na, bei Jean sehe ich da weniger Probleme. Sie ist umgänglich und eher zurückhaltend, aber Patty…“ Zweifelnd runzelte Matt die Stirn. Die kleine, so unschuldig und kindlich wirkende Rancherstochter tat ihm bei dem Gedanken, ihr seine jüngste Tochter anzuvertrauen, jetzt schon leid. Ganz von selbst suchten seine Augen nach Rachel, die eben am Arm des Bürgermeisters an ihnen vorbeischwebte. Sie strahlte noch immer, als sei sie der glücklichste Mensch auf Erden und so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, er kam nicht dahinter, was sie damit bezwecken wollte.

„Was halten Sie von Sonntag?“, schlug Ben Arkin in dieser Sekunde vor. „Wie ich mitbekommen habe, sind Sie nachmittags bei Stevie Bentley zu einer persönlichen Stadtführung eingeladen worden. Amy könnte Ihren Töchtern währenddessen ja ein wenig die Gegend zeigen.“

Matthew zögerte. Er gab seine Mädchen nur ungern in die Obhut anderer, doch allmählich musste er begreifen, dass sie sich von abhängigen Kindern zu selbständigen Jugendlichen entwickelt hatten, insbesondere Patty und dass Jean mit ihren sechzehn Jahren allmählich lernen musste, selbst Verantwortung für sich zu übernehmen. Beide mussten sich aus seiner und Rachels Abhängigkeit freimachen, auch, wenn er es verhindern, wenn er sie noch nicht gehenlassen wollte, sondern noch bei sich behalten. Er nickte.

„Einverstanden!“

Seit über einer halben Stunde standen Jean und Amy nun schon am Rande der Tanzfläche, in der Mitte des großen Wohnraums und beobachteten die Paare. Die Musik kam kaum noch gegen das Gemurmel, Lachen und Stimmengewirr der Unterhaltungen an, während Amy fröhlich immer wieder den Takt der Lieder mitklatschte.

Jean mühte sich eine freundliche Miene ab, doch in ihrem Inneren nagte die Unsicherheit, die ihr schon die Kälte in die Hände trieb. Oh Gott, warum konnte sie nicht ein bisschen so sein wie Patty? Diese war, ebenso wie ihre Mutter, von jungen Männern und anderen Mädchen umlagert, die sie alle anzuhimmeln schienen. Jedenfalls konnte Patty zur Genüge unter Beweis stellen, welch hervorragende Tänzerin sie war. Sie lachte ununterbrochen und ließ sich von einem Tanzpartner zum nächsten übers Parkett schwingen. Dabei gab sie ein unwerfendes Bild ab und die Schönheit, die von ihrem Gesicht ausging, sprach Bände darüber, wie sie sich noch entwickeln sollte. Jean seufzte. Sie war eben bloß das fünfte Rad am Wagen und daran würde sich heute Abend auch nichts ändern.

Vor ein paar Minuten war Amy in ein Gespräch mit einer älteren Frau aus Silvertown verwickelt worden und beachtete Jean nicht mehr, was dieser auch nicht unrecht kam. Seit dem Besuch im Stall hatte sich ihre nur schleppend aufrechterhaltene Kommunikation nicht verbessert. Jean fiel nichts ein, worüber sie sich mit dem fremden Mädchen hätte unterhalten können. Sie waren so verschieden und sie wollte sie auch nicht permanent irgendwelche Dinge fragen, die ihr neu und unbekannt waren. Am Ende hielt Amy sie noch für dumm.

Eben schien die Band ein ganz besonders bekanntes Lied zu spielen, denn unter Pfiffen und Johlen einiger männlicher Gäste, wurde die Melodie immer schneller und die schweren, glänzend-polierten Stiefel erzeugten auf den Holzboden ein lautes, rhythmisches Poltern. Plötzlich spürte Jean, wie jemand ihr auf die Schulter tippte. Erschrocken fuhr sie herum. Hinter ihr stand Dan, der Vormann, der ihr vorhin im Stall schon begegnet war.

„Hey, ihr beiden!“ Er drängte sich zwischen sie und die Rancherstochter. In der linken Hand balancierte er zwei Gläser mit Bowle. „Ich dachte mir, ihr steht hier so verlassen herum, darum bekommt ihr jetzt etwas besonders Feines von mir! Hauseigenes Rezept! Sehr empfehlenswert! Ist nur ein kleiner Schuss drin – das verzeihen euch eure Väter!“

„Als echter Gentleman gehört sich das wohl auch, dass man sich um die Damen kümmert!“, bemerkte Amy lachend, mit treuherzigem Blick und nahm ihm eines der Gläser ab.

Dan schmunzelte. „Als die rechte Hand deines Vaters gehört es selbstverständlich zu meinen Aufgaben dafür zu sorgen, dass du dich amüsierst!“

Auffordernd lächelnd hielt er Jean das andere Glas mit Bowle hin und zwinkerte. „Na, kleine Engländerin? Ist das nicht ein großartiges Fest? So etwas sollte es hier öfter geben!“

„Vielen Dank.“ Jean nahm es ihm ab und lächelte nervös. Wie hatte er sie eben genannt? Dans Augen wanderten über die Tanzfläche und blieben einen Augenblick an Patty hängen, die sich elegant von einem jungen Mann im Takt der Musik herumwirbeln ließ.

„Ist das etwa die andere Engländerin?!“ Ein leiser, bewundernder Pfiff entfuhr ihm.

Jean nickte wortlos, der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer. Der Gesichtsausdruck des Mannes genügte – er schien ebenso überwältigt von der Schönheit des jungen Mädchens zu sein, wie alle anderen Gäste. Wie immer, alles drehte sich um Patty und Rachel und niemand interessierte sich weiter für sie. Es blieb ihr nur wieder die Rolle der großen, unscheinbaren Schwester, die in diese Familie irgendwie nicht hineinpasste.

Amy tippte ihr auf die Schulter. „Willst du etwas essen?“

„Essen?“ Gedankenverloren starrte Jean sie an. „Oh ja, gern.“

„Dann komm!“ Amy lächelte auf ihre eigene, einnehmende und bezaubernde Art und Jean fragte sich, ob es jemals etwas geben könnte, das diesem Mädchen die Laune verdarb. Auf eine ihr nicht zu erklärende Weise fühlte sie sich zu Amy hingezogen. Vielleicht konnten sie ja doch Freundinnen werden.

„Guten Abend ihr beiden!“, sagte in dieser Sekunde eine tiefe, lächelnde Männerstimme und die beiden Mädchen fuhren herum.

„Oh! Guten Abend, Chris!“ Mit einer eifrigen Handbewegung deutete Amy auf ihre neue Nachbarin. „Darf ich vorstellen? Das ist Jean, die Tochter von Doktor van Haren. Chris McKinley, einer unserer Cowboys.“

Er drückte Jean kurz die Hand und lächelte ihr höflich zu. „Freut mich. Seit einem halben Jahr ist die Familie, die drüben in der alten Porter-Hütte einzieht, Gesprächsthema Nummer eins! Ich hoffe, du wirst hier ein schönes Jahr erleben!“

Jean nickte ihm schüchtern zu. „Das hoffe ich auch.“

Der Cowboy lächelte höflich und nachdem von Jean kein weiterer Satz kam, wandte er sich Amy zu und begann mit ihr über deren Schimmelstute zu plaudern und fachzusimpeln.

Jean hörte nicht richtig zu. Wozu auch? Sie verstand nichts von Pferden und deshalb auch die Hälfte des Gesprächs nicht. Stattdessen gab sie vor, wieder den tanzenden Paaren zuzusehen. In Wirklichkeit jedoch wanderten ihre Augen immer wieder nach links, zu dem jungen Mann hinüber.

Chris McKinley war sechsundzwanzig Jahre alt, über einsachtzig groß und im Vergleich zu den anderen, meist schlaksigen Männern, die auf der Ranch arbeiteten, muskulöser und kräftiger gebaut. Sein pechschwarzes, kurzes Haar und seine braungebrannte Haut wollten nicht recht zu den auffällig hellbraunen Augen passen, die unter den dichten, dunklen Brauen hervorblickten. Sie schienen von derselben Farbe zu sein, wie der Sand der Prärie, hell und klar, manchmal wie Bernstein und mit einem dunkleren Rand umgeben, absolut einmalig. Seine Züge waren kantig, nicht außergewöhnlich gutaussehend und meistens spielte ein feines, kaum erkennbares Lächeln um seine zartgeschwungenen Lippen, jedoch lag in seiner Art etwas Ernsthaftes, fast Grüblerisches. Ohne sich dessen bewusst zu sein, zog seine eigenartige, schwer beschreibbare Ausstrahlung Jean völlig in den Bann: Einerseits umgab ihn etwas Geheimnisvolles, Distanziertes, schon Zurückhaltendes, andererseits jedoch war deutlich spürbar, dass er einen starken Willen besaß und genau wusste, wie er diesen durchzusetzen vermochte.

Als er sich jetzt von Amy verabschiedete, zwang Jean sich, ihren Kopf schnell beiseitezudrehen. Sie hielt es jedoch nur wenige Sekunden aus, dann blinzelte sie vorsichtig zurück nach ihrer linken Seite – der Cowboy war verschwunden. Beinahe enttäuscht nahm Jean einen großen Schluck von der Bowle.

„Oh je!“, hörte sie da Amy neben sich aufstöhnen. „Jetzt kommt auch das noch!“ Sie deutete zu dem niedrigen Podest, auf dem die Musiker saßen und das nun der Bürgermeister Silvertowns bestiegen hatte. Die Melodie brach ab und die tiefe, durchdringende Stimme Stevie Bentleys übertönte sämtliche anderen Geräusche. „Ruhe bitte! Darf ich einen Moment um Ruhe bitten!“

Tatsächlich trat in kurzer Zeit neugierige Stille im Wohnraum ein. Alle Blicke richteten sich gespannt auf den Bürgermeister, der noch einmal tief Luft holte, ehe er zu einer zehnminütigen Begrüßungsrede ansetzte, in der er weit ausschweifend alles zum Besten gab, was er bis dato über die Familie van Haren wusste. Immer wieder ging ein leises Tuscheln und Wispern durch die Zuhörer und mit einem Mal fühlte Jean sich beobachtet und wie zur Schau gestellt. Ihre Eltern warteten gleich neben dem Podest auf das knapp gefasste Ende ihres Lebenslaufs und betonten ihre Zusammengehörigkeit: Matthews Arm lag auf der beneidenswert schmalen Taille seiner Frau, während Rachel scheinbar unsagbar glücklich in die Runde lächelte.

„Da sieht man, was ein glückliches Ehepaar ist!“, hörte Jean hinter sich eine Frau flüstern und sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. „Und das dort hinten ist ihre jüngste Tochter – was für eine Schönheit, nicht wahr?“

Ach ja, dachte Jean und ihr Herz wurde von einem langen Dolch durchbohrt. Jetzt stehe ich hier, komme mir vor wie ein Fremdkörper und werde noch nicht einmal als die andere Tochter erkannt...wie immer eben, wenn Patty dabei ist. Alle haben nur Augen für sie und bewundern ihr makelloses Aussehen. Und ich? Was ist mit mir? Was kann ich dafür, dass ich nicht so aussehe wie Mom?!

Das Selbstmitleid überkam Jean, wie so häufig in solchen Momenten und überschattete für einige Minuten alle anderen Gefühle. Es war ihr unmöglich, sich auf die Worte des Bürgermeisters zu konzentrieren. Der kurze Applaus der Gäste ließ sie erschrocken zusammenzucken und sagte ihr, dass die Rede zu Ende sein musste. Stevie Bentley überließ das Podest wieder den Musikern, die sofort zum nächsten Lied ansetzten und keine Minute später war die Stimmung wieder so ausgelassen wie zuvor.

Am anderen Ende des Raums stand Patty van Haren umringt von jungen Männern und jugendlichen Vertretern ihres Alters. Auch einige Mädchen hatten sich neugierig zu ihr gesellt, um von ihr zu erfahren, wie sie lebte und wie es so war, dort drüben im „guten alten London“. Noch nie hatte Patty sich so außergewöhnlich und von Gott bevorzugt empfunden, wie an diesem Abend. Sie lachte kokett und warf die Haare zurück, während sie unbemerkt von Zeit zu Zeit ihr Aussehen in einer der Fensterscheiben überprüfte, in denen sie die Reflektion ihrer eigenen Schönheit bewundern konnte.

„Wie groß ist euer Haus in London?“, wollte eines der Mädchen nun wissen.

„Wir haben kein Haus“, berichtigte Patty, einer Schullehrerin nicht unähnlich, jedoch mit gekonnt süßlichem Unterton. „Wir bewohnen eine Villa. Das ist ein großer Unterschied!“

„Ach ja?“, fragte das Mädchen ahnungslos und runzelte die Stirn. „Ist das nicht dasselbe?“

„Nicht wirklich“, entgegnete Patty allmählich ungeduldig. Wozu sollte sie sich mit so einem Dummkopf abgeben und ihr wäre fast eine schnippische Bemerkung entfahren, hätte sich nicht in dieser Sekunde einer der Cowboys zu ihnen durch die Menge geschoben und lauthals verkündet: „Ja, sieh einer an! Welch eine Überraschung!“

Patty erstarrte, entsetzt über das, was ihr Gedächtnis ihr verriet. Sie kannte den Kerl, dem diese Stimme gehörte! Oh, Himmel hilf, ja, sie kannte ihn! Zuerst färbten sich ihre Wangen rot, dann weiß und schließlich noch röter als zuvor. Nur mit größter Vorsicht wagte sie es, den jungen Mann hinter sich anzusehen. Seine weißen Zähne blitzten, während er sie frech angrinste und seine Schadenfreude nicht verbergen konnte. Jetzt, nachdem er keinen Hut trug, leuchtete sein rotblondes Haar im Licht der Deckenlampen intensiver als sonst und die spitzbubenhafte Ausstrahlung seines Gesichtes kam noch deutlicher zur Geltung.

„Nach der ersten Abweisung bist du mir jetzt wenigstens einen Tanz schuldig!“, entschied er und nahm Patty ihr Glas weg, um es einem der Jungs in die Hand zu drücken. „Hoffentlich komme ich jetzt dazu, mich in aller Ruhe vorzustellen: Trey Stockley. Guten Abend, Patricia! Schön, dich unter anderen Umständen wiederzusehen! Junge Lady – darf ich bitten?“

Ehe sie protestieren konnte, hatte er schon seinen Arm um ihre Taille gelegt und sie auf die Tanzfläche, zwischen die anderen Paare dirigiert.

„Was soll denn das jetzt wieder?“, fragte der Junge, einzig das Glas in der Hand haltend, das ihm von seiner Auserkorenen noch geblieben war. „Kann Trey sich nicht einmal um seine eigenen Angelegenheiten kümmern?!“

„Das ist doch typisch!“, erwiderte eines der Mädchen und rümpfte die Nase. „Trey kennt doch jedes Mädchen im Umkreis von fünfzig Meilen, sagt mein Vater immer! Warum also sollte er Patty nicht auch schon irgendwo vorher getroffen haben?“

Währenddessen hatte der junge Cowboy längst angefangen, Patricia van Haren zu einem Tanz zu zwingen.

„Aber…“, stammelte Patty, völlig überrumpelt. „Das können Sie doch nicht machen!“

„Wieso nicht?“ Trey war nicht von seiner Idee abzubringen. „Ach ja, was ich dich unbedingt noch fragen wollte: Bist du noch überfallen worden? Hat womöglich ein Indianerhäuptling an deine Tür geklopft oder ein wilder Bär um Honig gebettelt? Davon gibt es eine Menge hier draußen, musst du wissen. Sie sind ganz leicht an ihrem Lätzchen zu erkennen, das sie um den Hals gebunden haben!“ Er schien seinen eigenen Witz äußerst lustig zu finden, denn er lachte laut auf.

Patty starrte ihn finster an. Sein sarkastischer Ton weckte den Trotz und vor allem den Zorn in ihr. „Danke der Nachfrage! Es ist wirklich unglaublich, was sich hier in der Gegend für Gestalten herumtreiben!“

„Oh ja!“ Trey mimte den Fassungslosen. „Dafür hat mein Gedächtnis tatsächlich wieder seinen Dienst angetreten und mir verraten, weshalb ich mir den erfreulichen Besuch bei euch angetan habe!“

„So? Interessiert das noch irgendjemanden?“

„Aber natürlich, mich!“ Er grinste frech. „Dan, das ist unser Vormann…du weißt, was ein Vormann ist? Warte, wo steckt er denn? Vorhin…“

„Ich bin bereits im Bilde, wer dieser Dan ist!“ Patty stieß einen ungeduldigen Ton hervor.

„Schön! Jedenfalls hat er mich in unser aller Namen beauftragt, eine anständige, wohlerzogene und nicht ganz unvermögende Arztfamilie, die sich in der bescheidenen Porter-Hütte niedergelassen hat, in unserem schmutzigen, einsamen Land willkommen zu heißen!“

„Seltsam, dass hier überhaupt jemandem auffällt, wenn ein Mensch sich gepflogen benehmen kann!“

„Na, na!“ Versöhnlich verzog Trey sein Gesicht zu einem gutgläubigen Schmunzeln. „Nicht gleich so empfindlich, kleine Engländerin!“

„Mein Name ist Patricia Lorena van Haren! Mir scheint, das haben hier noch mehr Leute nicht mitbekommen! Andere Titel trage ich nicht!“

„Oh ja! Verzeihung! Selbstverständlich!“ Er tat, als fiele ihm das erst jetzt wieder ein. Sie tanzten eine Weile schweigend miteinander, wobei Patty darum bemüht war, weiterhin hervorragend auszusehen, auch wenn sie innerlich kochte vor Wut.

„Übrigens“, hörte sie ihn da sagen. „Was die Sache mit dem Gewehr angeht, musst du noch jede Menge lernen…kleine Engländerin!“

Patty schnappte nach Luft und versuchte, sich von ihm loszureißen, doch er hielt sie fest. Es gab kein Entkommen, bis zum Ende des Liedes. Hätte sie doch jetzt eines zur Hand gehabt, hätte sie bloß, ihm wäre das Witze reißen schon vergangen! Wäre da nicht ihre aristokratische Einstellung gewesen und die Tatsache, dass ihre Mutter ihr zusah, sie hätte ihm hier, vor allen Leuten, eine Ohrfeige verpasst.

Die Brücke zur Sonne

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