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2. Gal Oshin

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»Junge«, begann seine Mutter und Gal wusste, dass sein schlimmster Alptraum wahr wurde.

Einen Moment lang tat er so, als würde er sie nicht hören. Er packte einen Kürbis, ein warziges, fettes Ding, und wuchtete ihn vom Karren. Staub wirbelte auf und kratzte in seiner Nase, füllte sie mit erdigem Geruch. Erst dann holte Gal tief Luft und sah sich zu ihr um. Nickte seiner Mutter zu, die klein und vertrocknet aussah, vor dem wilden Treiben auf dem Marktplatz. Vor der wogenden Menschenmenge, durch die kreischende Kinder glitten wie Stichlinge durch einen Schwarm fetter Karpfen.

»Was ist?«, knurrte Gal und richtete sich auf. Hoffte, dass sie schweigen würde, wider alle Vernunft. Doch sie sprach.

»Junge, wir können dich nicht mehr durchfüttern.« Die Worte kamen gehetzt, als hätte seine Mutter sich den Satz im Kopf zurechtgelegt, den ganzen Weg über. Den ganzen Weg von ihrem Hof bis zum Marktplatz, dem Zentrum von Hamparal, der größten Stadt, die Gal kannte. Der einzigen Stadt, die Gal kannte.

»Ihr füttert mich nicht durch«, sagte er und versuchte, das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten. Wütend zu schauen, so wütend, wie man es von einem Biest erwartete. »Ich arbeite. Ich schufte mir den Rücken krumm für Vati und dich. Was ist das für eine Scheiße, die du da laberst?«

Sie hob das Kinn. Das breite Oshin-Kinn, das seinem so ähnelte, obwohl er sie um zwei Köpfe überragte. Einen Moment lang trug sie das verschlissene Kopftuch wie die Bürgermeisterin ihren gefiederten Hut.

»Wir können den Hof auch ohne dich bestellen, Junge. Und dein Bruder sucht sich 'ne Frau, hoffentlich bald, und dann ist kein Platz mehr für dich. Sie werden Kleine haben und so. Du musst gehen.«

»Warum ich?«, fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Sie waren zu elft. Mutter, Vater, zwei ältere Geschwister und sechs jüngere.

Aber nur einer von ihnen war verflucht.

»Du weißt, warum.« Ihre Stimme war hart. Ihr Blick war härter. »Ich kann es nicht ändern. Wenn ich deinem Vater gut zurede, lässt er dich noch bis zum Herbst hier.«

Gal schwieg. Dabei hätte er eine Menge dazu sagen können. Zum Beispiel:

Klar, für die Ernte im Herbst braucht ihr mich ja noch. Aber dann kann ich gehen.

Oder:

Wenn Vati mich loswerden will, soll er es mir ins Gesicht sagen. Egal, wie scheißhässlich mein Gesicht ist.

Oder:

Es ist nicht meine Schuld, dass das Monster auf dich gezeigt hat.

Ein Monster wie das, das mitten auf dem Marktplatz stand, die Hände im Pranger, und mit stierem Blick in die Ferne schaute. Pferdeäpfel und Kohlblätter klebten auf seinem Kittel und den bloßen Armen. Es sah aus wie ein magerer Mann mit Hakennase, kaum älter als Gal mit seinen siebzehn Jahren. Aber alle wussten, dass es kein Mann, sondern ein Monster war. Ein Brandstifter.

Sie hatten ihn aus einem der Dörfer östlich von Hamparal geholt. Er stand am Pranger, weil sein Onkel ihn gestern dabei erwischt hatte, wie er ohne Feuerstein oder Glut ein Feuer entzündet hatte. Nur mit seinen Händen. Die Hände, die nun im Metallpranger steckten. Morgen würden sie ihn fortjagen. Wenn er Glück hatte. Dem letzten Brandstifter hatte man die Kehle durchgeschnitten, nachts, während er am gleichen Platz gestanden hatte wie der Mann da oben.

Gal kannte ihn vom Sehen. Einmal hatte der Kerl ein Stück Pökelfleisch bei ihm gekauft und wie alle versucht, ihm nicht in die Augen zu sehen. Nichts von dem Fluch abzubekommen, der Gal zur hässlichsten Missgeburt des gesamten Herzogtums machte.

Nun stand er da oben, voll Scheiße, und Gal war immer noch eine hässliche Missgeburt. Noch. Bald würde er eine heimatlose hässliche Missgeburt sein.

Er sah sich um. Krumme Fachwerkhäuser stachen in den bewölkten Himmel. Der Boden zu seinen Füßen war uneben und plattgetrampelt. Von den unzähligen Menschen, die an ihrem Karren und dem Stand vorbei strömten, kannte er nur wenige. Doch alle erkannten ihn. Das verfluchte Balg. Das, auf das einst ein Brandstifter gezeigt hatte, als Gal Mamas Bauch noch fett und rund gemacht hatte. Der Mistkerl hatte ihn verflucht, bevor sie ihn aufgeknüpft hatten.

Du wirst einen Dämon gebären, Weib.

Gal unterdrückte das Bedürfnis, seine Hörner zu berühren, wuchtete einen weiteren Kürbis vom Karren und stierte ein Kind böse an, das ihn aus kreisrunden Augen ansah. Es erschrak und flüchtete zurück in die Menge.

Niemand würde ihn aufnehmen, egal, wie hart er arbeitete. Er hatte nur eine Möglichkeit, und die war tödlich.

»Du willst, dass ich mich den Söldnern anschließe«, sagte er zu seiner Mutter. Bitterkeit triefte aus seiner Stimme. »Richtig?«

Sie nahm einen weiteren Kürbis aus dem Wagen. »Sie zahlen gut. Dreizehn Gulden im Monat. Ganz bestimmt. Balogs Jüngster hat dreizehn bekommen.«

»Balogs Jüngster ist tot.« Er versuchte, sich nicht zu fürchten. Redete sich ein, dass einem hässlichen, riesigen, verfluchten Mistkerl nichts Angst machen konnte. Aber die Angst scherte sich nicht darum. Wie ein Dolch bohrte sie sich durch seine Eingeweide. Er schmeckte Galle. »Er ist gefallen, kaum, dass er sich eingeschrieben hatte. Das sind sie alle. Weißt du noch, wie die Anheurer hier aufgekreuzt sind? Wie sie jedem Jungen einen Humpen Dunkles gekauft haben und erzählt haben, wie viele Gulden sie vom Herzog bekommen? Dafür, dass sie gegen den Drachenbaron kämpfen.« Beim Erntefest hatten sie sie angeworben, weil sie wussten, dass im Winter jedes hungrige Maul eins zu viel war. Weil die Eltern händeringend nach einem Weg suchten, jeden Sohn loszuwerden, der kein Stammhalter war. So wie er. »Sie sind alle tot. Nagy, Gaspar und Fodor. Und die beiden aus Onnere, die sie schon dabei hatten. Jeder, den sie angeheuert haben, ist verreckt.« Wütend sah er sie an. »Soll ich auch abkratzen? Willst du das?«

»Ich will, dass dein Vater wieder lacht«, fauchte sie. »Seit du geboren wurdest, bläst er Trübsal. Seit du wächst wie Gestrüpp, seit du frisst wie ein Ochse. Es ist zu viel, Gal! Es reicht! Siebzehn Jahre haben wir uns um dich gekümmert und es ist Zeit, dass du auf eigenen Beinen stehst!«

Er wusste, dass sie recht hatte. Und doch war er mutlos. Wer würde ihm Arbeit geben, so, wie er aussah? Niemand.

Sein Blick fiel auf eine der dreckigen Pfützen, die der Sommerregen hinterlassen hatte. Sein Spiegelbild blickte ihm entgegen, breitschultrig, unförmig, rotäugig und rothaarig. Die beiden Hörner, die ihm aus der Stirn wuchsen wie einem Widder, ließen ihn noch gruseliger aussehen. Sie waren kürzer als sein kleiner Finger, aber es reichte. Seit er denken konnte, wollte ihm niemand in die Augen sehen. Seine Familie hatte sich daran gewöhnt, aber jetzt, inmitten so vieler Fremder, wurde er angestarrt wie ein dreiköpfiges Ferkel.

Sein Magen verhärtete sich. Er hatte nur zwei Möglichkeiten. Söldner werden. Oder weggehen. Weit weg, irgendwohin, wo man Missgeburten wie ihm Arbeit gab, solange sie sich ordentlich anstellten. In eine noch größere Stadt. Und das machte ihm mehr Angst, als dem Drachenbaron selbst gegenüberzutreten.

Was, wenn mich noch mehr Leute anstarren?, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf.

Dann hau ich ihnen die Zähne raus, dachte er. Dann klopf ich ihnen die Schädel weich und reiß ihnen die Klöten ab.

Er war ein Scheusal, ein Biest. Es war ihm egal, wer ihn anstarrte, er fürchtete sich nicht. Er konnte es sich nicht leisten, sich zu fürchten.

Als Kind hatte er sich genug Schläge und Tritte eingefangen, um das zu wissen. Bei den anderen Bauernkindern und in der Stadt.

Einmal hatten sie ihn in einen Hinterhof gelockt. Drei andere Jungs, mit dem Versprechen, dass der Hund des einen Welpen hatte, und er sich einen aussuchen konnte. Gal wurde schlecht, wenn er daran dachte. An das warme, zittrige Gefühl in seiner Brust. Wie er sich danach gesehnt hatte, einen kleinen Hund in seinen Armen zu halten. Hunde liebten einen, egal, wie man aussah. Egal, ob man eine gehörnte Missgeburt war.

Aber es hatte keine Welpen gegeben. Nur mehr Schläge. Der eine Junge hatte ihm eine Zaunlatte über den Kopf gezogen. Als er sich nicht mehr rühren konnte, hatten sie ihn vollgepisst. Und als er stinkend zu seiner Mutter gewankt war, hatte sie ihn nur angesehen und geseufzt.

An Schmerzen war er gewöhnt. An ihre enttäuschten Blicke auch. Aber der Moment der Hoffnung hätte ihn beinahe gebrochen.

Ein Hund, hatte er gedacht. Noch Monate später hatte er sich beim Einschlafen vorgestellt, dass ein Welpe bei ihm war, dass er den warmen Körper in den Armen hielt. Ein Welpe, den es nie gegeben hatte.

Einfach erbärmlich.

Sie entluden den Karren und bauten den Stand auf, dann war seine Arbeit beendet. Für den Aufbau war er der Beste, kräftig und schnell, viel stärker als jeder seiner Brüder. Aber kaufen wollte niemand bei ihm. Nicht von einem rotäugigen, rothaarigen Biest. Seine Mutter schickte ihn weg, kaum, dass Gal die letzten Möhrenbunde aufgeschichtet hatte.

»Viel Spaß«, sagte sie säuerlich. Sie neidete ihm die Freizeit, die sie nie hatte.

Er knurrte und ging. Zwang sich, voranzustapfen, sich durch die Menge zu quetschen und nicht das zu tun, was er wirklich wollte: umdrehen und seine Mutter anflehen, dass er bei ihr und Vati bleiben konnte.

Es hätte keinen Sinn gehabt.

»Aus dem Weg!«, raunzte er einen Trunkenbold an, der ihm in den Weg stolperte. Der Mann riss das Maul auf, wollte etwas sagen, dann erkannte er Gal.

»Biest«, krächzte er.

»Gut erkannt, Schnapsnase.« Gal drängte sich an ihm vorbei. »Scheiß dich nicht ein, du stinkst schlimm genug.«

Der Mann roch wie ein altes Weinfass. Sauer und verdorben. Er rülpste und die Luft um Gal wurde unbrauchbar.

»Biest«, brachte der Kerl wieder heraus. »Hilfe.«

Unstete Blicke verfolgten Gal auf seinem Weg durch die Menge. Er musste hier raus. Irgendwohin, nur weg von all diesen Leuten, die ihn anstarrten. Er schaute noch böser als sonst, spannte die Schultern und fletschte die Zähne. Sie wichen vor ihm zurück, wie immer. Er hörte Getuschel und Flüstern. Ballte die Fäuste und zwang sich, ruhig zu atmen.

Wir können dich nicht länger durchfüttern.

Die Worte gellten in seinem Kopf hin und her. Er atmete ein, atmete aus und bog in eine Seitengasse ein. In sein Verderben.

Goldbraune Augen weiteten sich, direkt vor ihm und dann schoss Schmerz in seine Schulter. Gal prallte zurück, stolperte und fiel auf den Hintern. Genau wie der Dreckskerl, mit dem er zusammengestoßen war. Der letzte Dreckskerl, den er heute noch gebrauchen konnte.

Lukacs Andon.

Der blonde Schönling starrte ihn noch an, als Gal sich längst aufgerappelt hatte.

»Was?«, raunzte Gal. »Glotz nicht so. Du warst im Weg, Lackaffe.«

Lukacs blinzelte, dann erschien das Lächeln, das Gal so hasste. Ein strahlendes, mit ebenmäßigen Zähnen, das sein sowieso hübsches Gesicht so unerträglich schön machte, dass es sich anfühlte, als würde man direkt in die Sonne schauen.

»Tut mir leid, edles Biest.« Lukacs erhob sich lässig und klopfte seine feinen Klamotten ab. Eine bestickte Jacke, grün und so neu, dass sie keine einzige abgewetzte Stelle hatte. Gals Kittel hatte nur abgewetzte Stellen und die Hose bestand nur noch aus Flicken.

Wie immer war Lukacs von Freunden umgeben. Feinen Söhnchen wie ihm, die Gal höhnisch angrinsten und sich nicht trauten, näher als drei Schritte an ihn heranzukommen.

Lukacs traute sich, näherzutreten. Ja, er kam Gal so nahe, dass der ihn riechen konnte. Feine Seife und Schuhcreme. Ein Hauch Dunkelbier lag in Lukacs' Atem, drang zwischen den vollen Lippen hervor, als er Gal spöttisch musterte.

»Biest, bist du etwa noch hässlicher geworden?« Der Mistkerl grinste. »Ich könnte schwören, dass du letzte Woche noch nicht so scheußlich warst. Oder verblasst die Erinnerung an deine Hackfresse, weil man sie nicht aushält?«

Gal ballte die Fäuste. »Denkst du oft an meine Hackfresse, Andon? Melkst du dabei dein Würmchen oder reicht der Gedanke schon, dass du deine Hosen vollsaust?«

Lukacs lachte. Ein schönes, volles Lachen, passend für einen Prinzen und nicht bloß den Sohn des Bürgermeisters. »Davon träumst du, was, Biest? Ich wette, du denkst an mich, wenn du an deinem Ochsenschwänzchen ziehst. Oder befummelst du deine Hörner? Sind die nur so groß, weil ich hier bin?«

Gal spuckte vor seine Füße. »Fick dich, Andon.«

»Das hättest du wohl gern.«

Lukacs' Lachen begleitete ihn den ganzen Weg und die Seitengasse hinunter. Er wich dem Inhalt eines Nachttopfs aus, der von oben herunter regnete und versuchte, nicht zu atmen. Die Seitengassen stanken schlimmer als die Hauptstraße. Der Mief staute sich und hatte keine Gelegenheit, dem schattigen Zwischenraum zwischen den verdreckten Wänden zu entkommen. Aber es war der Weg zur einzigen Zuflucht, die er kannte.

Er überlebte den Gestank zweier weiterer Gassen und zwängte sich durch den Zaun zu einem verlassenen Grundstück. Unkraut überwucherte die Wiese, die von fensterlosen Hauswänden umgeben war. Die Reste einer niedergebrannten Hütte ragten aus dem Grün.

Hier hatte ein Monster gewohnt. Kein Brandstifter, sondern die andere Sorte. Ein Kalter. Wenn überhaupt, waren die den Menschen noch unheimlicher als die Brandstifter. Den hier hatte man aus der Stadt gejagt und seine Hütte abgefackelt. Gal erinnerte sich noch daran, wie sie den Mann durch die Straßen getrieben hatten, in metallenen Fesseln, nackt, der Rücken blutig von der Bullenpeitsche. Der Bürgermeister selbst hatte die Jagd geleitet. Vor den Toren von Hamparal war der Mann gestürzt und von einem Karren überfahren worden. Kein Zufall, natürlich nicht.

Auch kein Zufall, dass niemand hier wohnen wollte. Dass das Land immer noch brach lag, auch nach zehn Jahren. Die Leute glaubten, dass etwas von dem Monster zurückgeblieben sei. Etwas Schreckliches, das den Boden tränkte und den Geist vergiftete.

Gal war dankbar dafür. Es war friedlich hier. Kamillenblüten sprenkelten das Grün und ein kleiner Bach gluckerte an der Wiese entlang, zwischen den dreckigen Hauswänden hindurch. Sein Wasser war braun und stank, doch wenn Gal am Ufer saß und in den vorbeitreibenden Unrat sah, beruhigte er sich.

Er ließ sich auf der Wiese nieder und stützte den Kopf auf die Arme. Leckte sich die Lippen und schmeckte noch die Butter des Brotes, das er heute Morgen am Küchentisch verzehrt hatte. In seinem Zuhause. Damit war es bald vorbei. Trotz des trüben Himmels war Sommer. Die Erntezeit ging noch ein paar Wochen und dann musste er sich entscheiden.

»Du könntest in die Stadt gehen«, murmelte er. »In die richtig große. Assunta. Wo sie Monster nicht wegjagen und Missgeburten unbehelligt durch die Straßen ziehen.« Das hatte er zumindest gehört. Sein Vater hatte es erzählt, am Küchentisch.

Ein Dreckspfuhl ist das, hatte er gewettert. Schmutzig und voll von Sündern! Atapegs Ältester hat es gesehen. Da gibt es eine Schule, in der sie Monster ausbilden, in dunkler Kunst. Da paaren sich Frauen mit Frauen und Männer mit Männern auf offener Straße und jedes Jahr haben sie ein Fest, bei dem gesündigt wird, dass der Ewige sein Antlitz abwendet und weint.

Es hätte Gal anwidern müssen, was sein Vater erzählte, doch er war ein Biest. Kranke Bilder stiegen in seinem Kopf auf, egal, wie sehr er sie zu unterdrücken versuchte. Egal, wie sehr er die Augen zusammenkniff und den Ewigen anflehte, ihn zu retten. Der Ewige scherte sich nicht um eine Missgeburt mit Hörnern.

Verschlungene Leiber stahlen sich in seinen Schädel, nackte Gliedmaßen, muskulöse Arme und kräftige Schenkel. Männer, die sich mit Männern paarten. Man hatte ihm erzählt, wie sie es taten. So, wie der Bulle es mit den Kühen tat, auf allen vieren. Er stellte sich vor, wie Pranken schmale Hüften packten, wie pralles Fleisch in der Sonne glänzte, wie zwei Leiber zuckten und immer wieder zusammenprallten.

Hitze stieg in ihm auf. Seine Ohren brannten.

Nein, an einen solchen Ort konnte er nicht gehen, oder?

»Wahrscheinlich ist das alles gelogen«, flüsterte er. »Wahrscheinlich ist Assunta genau wie Hamparal, nur größer.«

Doch sein Unterleib hörte nicht auf ihn. Sein Glied schwoll an und drängte gegen den rauen Stoff der Unterkleider. Er atmete tief ein und aus. Bezwang den Wunsch, die Hände einzusetzen und sich Linderung zu verschaffen.

Der Ewige sieht dich, dachte er. Du widerliche Missgeburt.

Er wusste nicht, wie lange er am Bach gesessen hatte, als er die Stimmen hörte. Er musste geträumt haben, sinnlos, hin- und hergerissen zwischen Angst und Gier. Es kam ihm vor, als hätte er geschlafen.

Das helle Kichern riss ihn aus jeder Träumerei. Es kam näher und mit ihm die verhasste Stimme. Eine Stimme wie Dunkelbier, tief und berauschend.

Ach du Kacke, dachte er. Nicht zweimal an einem Tag.

Aber es war Lukacs Andon, der sich zwischen den alten Zaunlatten hindurchzwängte. Lukacs, der ihn erstaunt ansah. Lukacs, der lachte.

»Sieh mal einer an«, sagte er zu dem drallen Mädel, das an seinem Arm hing. »Hierhin verkriecht sich das Biest also, wenn es keine kleinen Kinder erschreckt.«

»Verpiss dich, Andon«, knurrte Gal. »Ich war zuerst hier.«

»Und jetzt bin ich es.« Ein Sonnenstrahl brach durch die dicke Wolkendecke und brachte das helle Haar zum Leuchten. Lukacs Andon. Selbst die Sonne liebte ihn.

Gal beschloss, dass er nicht weichen würde. Egal, was Lukacs ihm an den Kopf warf. Egal, wie ängstlich das Mädel ihn ansah. Das hier war sein Platz. Sein Rückzugsort. Lukacs brauchte keinen Rückzugsort. Der wurde überall geliebt, geachtet und angeschmachtet. He, das reimte sich.

»Andon.« Gal richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich sag’s dir nicht noch mal. Verpiss dich oder ich reiß dir den Arsch auf.«

Lukacs grinste. Das Mädel zog an seinem Arm und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. So hatte sie sich den Nachmittag bestimmt nicht vorgestellt. Garantiert hatten die beiden sich hierher verzogen, um Ferkeleien zu treiben. Lukacs Andon hatte keinen Mangel an willigen Frauen, selbst Gals kleine Schwestern schwärmten für ihn. Sie und all ihre Freundinnen.

»Biest.« Das Grinsen wurde breiter. »Verpiss du dich oder ich schlag deine hässliche Fresse zu Brei und trete dich in die Plörre da.« Er deutete auf den Bach.

Gal ließ die Knöchel knacken. »Versuch’s doch.« Einen Moment lang überlegte er, ob er sich verschätzte. Lukacs Andon war ein Bürgermeistersöhnchen, aber, nun, seine Arme waren fast so muskulös wie Gals eigene. Sie waren beinahe gleich groß, und Lukacs wirkte sehr sicher, dass er gewinnen würde.

Dann dachte Gal: Scheiß drauf. Und trat auf Lukacs zu.

»Versuch du’s doch.« Der Mistkerl schnaubte.

»Mach ich«, knurrte Gal. »Heul nicht, wenn dich danach keine mehr anguckt. Du wirst eine noch üblere Hackfresse haben als ich, wenn ich mit dir fertig bin.«

»Ich behaupte mal, dass das unmöglich ist.« Lukacs schüttelte das Mädel ab und machte einen Schritt vor, wie ein lauernder Wolf.

Vorsichtig, dachte Gal. Unterschätz ihn nicht. In all den Schlägereien, in die er verwickelt gewesen war, hatte er eins gelernt: einen echten Kämpfer zu erkennen. Und seltsamerweise wirkte das verzogene Söhnchen wie einer.

»Ich hol Hilfe«, wimmerte das Mädel und flüchtete. Sie waren allein.

Lukacs leckte sich die Lippen. »Komm her, Gal Oshin. Ich zeig dir was Schönes.« Weiße Zähne erschienen. »Ich brech dir die Hörner ab und ramm sie dir in dein stinkendes Maul.«

»Ich ramm meine Hörner in dein Maul, du Lackaffe. Ich brech dir alle Zähne raus.«

»Das kannst du gern versuchen, Biest.« Etwas war seltsam. Lukacs' Lächeln war schmutziger als das jedes Mannes, mit dem Gal sich je geprügelt hatte. Der Blonde freute sich auf den Kampf, auf eine Art, die Gal unbekannt war. Egal.

Er machte drei Schritte und packte Lukacs am Kragen. »Verarsch mich noch mal und du blutest, Schönling.«

Goldbraune Augen blitzten. Verdammt, was war das? Die blöden Bilder in seinem Kopf wollten nicht weichen. Die Männer, die sich in den Straßen liebten. Einer von denen sah aus wie Lukacs Andon.

Geh weg, dachte Gal und schrie vor Schmerz.

Lukacs' Knie bohrte sich in seine Weichteile. Das charmante Lächeln blieb, als der Dreckskerl ihn packte und zu Boden rang.

Gal krachte ins Gras. Einen Augenblick lang war Lukacs über ihm, dann hatte Gal sich berappelt. Er packte Lukacs, hebelte ein Bein unter seinen Schenkel und riss ihn herum. Keuchend drückte er ihn nieder, aber der Schönling war stark. Sie rollten über das Gras, ringend, stöhnend und fluchend. Mal hatte Gal die Oberhand, dann Lukacs.

Das feine Söhnchen konnte kämpfen. Eine Faust traf Gal am Jochbein und er sah weiße Lichter. Er riss das Knie hoch und erwischte Lukacs' Bauch. Hörte ihn brüllen. Aber der Kerl gab nicht auf.

Irgendwann, mitten in der Schlägerei, blitzte wieder ein Bild auf. Wie ein Riss in Papier, plötzlich und schmerzhaft. Er selbst, wie er den Schönling zu Boden drückte, wie er dessen Hände hinter dem Rücken verdrehte, so, wie er es gerade versuchte. Nur waren sie beide nackt. Auf allen vieren.

Es verschwand, gerade rechtzeitig, dass Lukacs den Moment ausnutzen konnte, um ihm den Ellenbogen ins Gesicht zu rammen. Harter Knochen traf seine Haut und Gal spürte, wie seine Augenbraue platzte. Es machte ihn nur noch wütender.

»Lackaffe«, knurrte er und packte Lukacs' Unterarm. Rang ihn endlich nieder. So, dass der Mistkerl sich nicht mehr bewegen konnte.

»Biest!« Die geröteten Wangen des Schönlings erinnerten ihn an die kranken Bilder in seinem Kopf. Die Art, wie der sich unter ihm wand, mit dem Rücken zu ihm. Mit dem Arsch zu ihm. Er spürte die Backen unter seinem Knie, fest und doch nachgiebig.

»So«, sagte Gal. »Wollen mal sehen, wer von uns im Fluss landet.«

»Das traust du dich nicht, du Hornochse.«

»Wetten wir?«

Dann hörte er den Schrei. Zuerst dachte er, das Mädel sei zurückgekehrt und hätte Verstärkung mitgebracht. Gal sah sich um, und roch Rauch.

Der Schrei erklang wieder. »Feuer!«

»Kacke«, sagte er und Lukacs stimmte ihm zu, indem er das Zappeln einstellte.

»Lass mich los«, sagte der Schönling. »Schauen wir nach.«

Gal zögerte einen Moment lang, dann sprang er auf. Er hatte wenige Feuer erlebt, aber er kannte die Angst, die sie verbreiteten. Wenn man sie nicht rechtzeitig eindämmte, konnten sie ganze Stadtteile niedermachen. Oder die ganze Stadt.

Er quetschte sich durch die Zaunlatten und der Rauchgestank wurde intensiver. Zwei Mädchen wankten vorbei, nach links, und er folgte ihnen. Zwischen sich trugen sie einen gigantischen Holzbottich voll dreckigem Wasser. Es schwappte auf den Boden und über die Kleider der beiden.

»Gebt her«, raunzte er. Sie hätten den Bottich beinahe fallen gelassen, als sie ihn sahen. Dann ließen sie das Ding zwischen sich auf den Boden plumpsen und er wuchtete es in die Höhe.

»Hölle«, murmelte er. Wie hatten die beiden es überhaupt geschafft, ihn zu heben? Das Teil war schwer wie ein Ochse.

»Hör auf zu heulen. Ich helfe dir.« Goldene Haare blitzten neben ihm auf. Wieder wollte er sich weigern. Aber ein Feuer war wichtiger als sein Zwist mit dem feinen Söhnchen.

Den Bottich zwischen sich rannten Lukacs und Gal den Rauchschwaden entgegen, die sich am Ende der Gasse ballten.

»Scheiße!« Sie bogen um die Ecke und sahen das ganze Ausmaß der Katastrophe. Ein vierstöckiges Fachwerkhaus brannte. Aus geborstenen Fenstern quoll schwarzer Rauch, schoss gegen Dachbalken. Das Strohdach stand bereits in Flammen.

»Ich stimme dir zu.« Lukacs zerrte sein Halstuch über die Nase und lief weiter. Dahin, wo sich eine Eimerkette bildete, am Fuß des lodernden Fachwerkhauses.

Seite an Seite rannten sie durch die Haustür, leerten den Bottich über die glühenden Dielen. Sie sahen kaum etwas, so dicht war der Rauch. Er kroch in Gals Lungen, brachte ihn zum Husten, schnitt in seine Augen. Tränen liefen über seine Wangen, als sie den leeren Bottich über die Schwelle nach draußen schleppten. Nach ihnen rannte ein Junge hinein, einen vollen Pisspott in den Händen. Als er das Haus verließ, griff das Feuer auf das nächste Dach über.

Dann stand die Eimerkette. Eine Schlange Menschen, die vom Fluss her volle Kübel von Hand zu Hand reichte. Kinder nahmen die leeren Gefäße und brachten sie zurück, damit sie neu befüllt wurden. Lukacs und Gal waren mittendrin, Seite an Seite, als wären sie alte Freunde. Wortlos reichten sie sich Eimer um Eimer, sahen, wie die Männer vorne in das Haus rannten. Er sah den Trunkenbold von vorhin in der Kette, und Lukacs' feine Freunde. Die Frau hinter Gal war totenbleich, aber ausnahmsweise nicht wegen ihm. Wegen des Feuers.

»Es reicht nicht«, brummte Lukacs hinter seinem Halstuch hervor. »Es wird von Dach zu Dach kriechen.«

»Kann's nicht regnen?«, brüllte jemand. »Ewiger, schick Regen!«

Gemurmel erhob sich. Wilde Gebete, die zu einem wogenden Klangteppich wurden. Alle flehten den Ewigen an, ihnen zu helfen, aber er erhörte sie nicht. Die Wolken hingen grau am Himmel, ohne einen Tropfen Wasser abzugeben.

»Das war ein Brandstifter«, murmelte die Frau hinter Gal. »Bestimmt. Elende Monster. Der Herr der Wölfe soll sie holen und ihnen Würmer in die Nille stopfen.«

Jemand schrie. Eine Frau stolperte heran, fiel nieder und rappelte sich wieder auf. Blonde Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und ihr Gesicht war eine panische Fratze.

»Boghos!«, brüllte sie und deutete auf das Haus links von dem lichterloh brennenden. Rauch kroch aus den Fensterläden. Das Dach brannte. Es ließ sich nicht sagen, wie weit das Feuer dort drinnen schon fortgeschritten war. Auch durch diese Tür rannten Männer mit Eimern.

»Boghos!«, schrie die Frau und heulte wie eine verletzte Wölfin. »Mein kleiner Boghos ist da drin. Ich konnt ihn doch nicht zur Arbeit mitnehmen. Er ist da drin!«

Sie stolperte auf die Tür zu. Zwei Männer stürzten vor und packten sie.

»Lass das«, knurrte einer. »Lieber dein Kind als du.«

Sie schrie und trat um sich. Erwischte einen mit einem Holzschuh am Knie. Aber er ließ nicht los, auch wenn sein Gesicht schmerzverzerrt war.

»Boghos!«

Gal sah, dass Lukacs' Schultern sich strafften. Hörte ihn leise fluchen. Und dann rannte der Trottel los. An den Männern vorbei, die die tobende Frau festhielten. Unter dem dicken Türbalken hindurch, unter dem bereits schwarze Schwaden hervorkrochen.

Gal überlegte nicht lange. Von einem verwöhnten Bürgermeistersöhnchen würde er sich nicht abhängen lassen. Es sollte nachher niemand sagen, dass das Biest dumm rumgestanden hatte, während der mutige Lukacs in das Haus gerannt war, um das Kind zu retten.

Der Ewige hab ihn selig, würden sie vermutlich auch sagen. Was das Söhnchen da machte, war Selbstmord. Aber mutig.

Gal fühlte sich nicht allzu mutig, als er ihm folgte. Über schwarze Dielen, die dumpf unter seinen Stiefeln hallten. Er hörte das Knacken des Feuers, das sich in die seitlichen Balken fraß. Das Licht war weg. Er brauchte einen Moment, um seine Augen an die Finsternis zu gewöhnen, an den spärlichen Schimmer, den sie ihm ließ. Beinahe wäre er in eine krumme Holztreppe gerannt. Er stieß sich den dicken Zeh, als er hochstolperte wie ein besoffener Ochse.

Lukacs stolperte nicht. Der rannte wie ein junger Hirsch vor ihm nach oben. Sein Hintern verformte sich unter der grünen Hose und Gal stolperte schon wieder.

Raus aus meinem Kopf, Herr der Wölfe!, herrschte er den Widersacher des Ewigen an. Der flüsterte ihm nur weiter zu, wie lecker Lukacs' Kehrseite unter dem dünnen Stoff war.

Irgendwann hatte der Ewige ein Einsehen und schickte dichten Rauch, der den Anblick verdeckte, zumindest teilweise. Sie rannten über einen Teil der Treppe, der schon halb in Flammen stand. Die Hitze traf Gals Haut und er glaubte, dass sie ihm vom Körper platzen würde.

Er hustete, krümmte sich und konnte nicht aufhören, nach Luft zu schnappen. Seine Nase lief. Er fürchtete zu ersticken. Eine dunkle Schwade ließ er hinter sich, aber mehr waren auf dem Weg. Lukacs und er waren im dritten Stock angekommen.

Das Söhnchen blieb stehen und lauschte. Gal lauschte auch, hörte aber nur das Knacken um sie herum, während die Hitze sich durch Holz, Lehm und Stroh fraß. Das Geschrei draußen.

Nein, halt.

Jemand schrie, hier drinnen. Es war ein dünnes Geräusch, hoch und atemlos.

Ein Säugling.

Lukacs rannte bereits weiter, durch den engen, verrauchten Flur, in die Richtung, aus der der Laut kam. Gal folgte ihm.

»Mist!« Lukacs rüttelte an einer Türklinke. Verschlossen. Verzweifelt trat er gegen das alte Holz.

»Aus dem Weg!«, brüllte Gal.

Lukacs wirbelte herum. Seine Augen weiteten sich, als er ihn sah. Hatte er nicht kapiert, dass Gal ihm folgte?

Gals Schulter traf auf das Holz und rammte sie auf. Schmerz schoss durch seinen ganzen Arm und er schaffte es nicht, das Stöhnen zu unterdrücken. Die Wucht schleuderte ihn durch in den Raum wie eine Kegelkugel. Beinahe wäre er gegen die stinkende Wiege geprallt, die an der Wand stand. Verbrauchte Luft umfing ihn, aber gegen den Rauch da draußen roch sie wie eine Frühlingsbrise.

Das Gesicht des Säuglings war rot-verschrumpelt wie ein Winterapfel. Er brüllte sich die Lungen aus dem Leib. Gal packte ihn und hob ihn an seine Brust. Das Kind stank, seine Windeln waren vollgesogen und tropften. Gal verzog das Gesicht.

»Willst du ihn halten?«, fragte er Lukacs, doch der war bereits wieder auf dem Rückweg.

Nur gab es keinen Rückweg mehr. Die Treppe stand in Flammen. Gal hätte Lukacs beinahe hinuntergekegelt, weil der so abrupt stehenblieb.

»Scheiße«, murmelte der Schönling. Er war totenblass. Entsetzt starrte er in die dichten Flammen. Gal sah die Todesangst in seinen Augen und war sich nicht ganz sicher, ob der Uringeruch, der um seine Nase wehte, wirklich von dem Säugling stammte.

Ich sterbe hier, dachte er und Kälte breitete sich in seinem Magen aus. Der Säugling schrie ihm ins Ohr und er spürte das Knacken unter seinen Füßen, zitterte wie ein Blatt im Sturm.

»Hilfe«, krächzte er.

Lukacs sah sich zu ihm um. Sein Mund war ein weißer Strich und jedes Lachen war aus seiner Miene verschwunden.

Trotz der Panik, die ihn lähmte und ihm einen Kloß in den Hals rammte, ärgerte sich Gal, dass er sich so schwach gezeigt hatte. Vor Lukacs. Der tief Luft holte, trotz des Rauchs, der unter der Decke umherkroch.

»Bitte«, murmelte das feine Söhnchen und streckte die Hand aus. Streckte alle Finger aus, als könnte er sie wachsen lassen, als könnten sie das Feuer löschen.

Was sie konnten. Es ging so schnell, dass Gal nicht kapierte, was geschah. Ein Zischen, Rauch wurde zu Dampf und dann brannte die Treppe nicht mehr.

Eisblumen überzogen sie. Wasserdampf stieg auf und es roch nach Winter. Alles war weiß, die krummen Stufen, das splitternde Geländer, die Wände und die Decke.

Kälte schlug Gal entgegen. Er starrte Lukacs an. Der ballte die Fäuste und schaute, als müsste er sich übergeben.

»Guck nicht so blöd«, presste das Söhnchen hervor. »Komm. Bevor wieder alles in Flammen steht.«

Gal folgte ihm, rutschte auf der Treppe aus und fing sich wieder, ohne den Säugling loszulassen, der brüllte wie am Spieß.

Ein Kalter, schoss es in sein Hirn. Lukacs Andon ist ein Kalter.

Ein Monster.

Er konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Den Rücken der fein bestickten Jacke, unter der sich Muskeln spannten. Die rußgeschwärzten Haare, die nicht länger blond aussahen.

Ein Monster.

Das sie gerettet hatte. Hustend stürmten sie die Treppen hinunter, durch Rauchschwaden, über glühendes Holz. Nach draußen.

Die Luft war das Leckerste, das Gal je gerochen hatte. Die verkrampften Gesichter in der Eimerkette so wunderhübsch, die krummen Häuser heimelig und gemütlich.

Ich lebe, dachte er.

Lukacs stolperte vor ihm, ging in die Knie. Seine Freunde schossen auf ihn zu, packten ihn an den Schultern, richteten ihn wieder auf. Niemand kam, um Gal zu helfen, also hielt er sich auf den Beinen. Der Säugling schrie immer noch.

Die Mutter riss die Augen auf, als er ihr das tropfende Bündel hinhielt.

»Hier«, brummte er, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. »Das ist er, oder?«

»Boghos«, krächzte sie. Ihr tränennasses Gesicht verzog sich schon wieder. Sie nahm den Kleinen entgegen und drückte ihn an sich, egal, wie sehr er stank. »Mama ist hier, mein Kleiner. Mama ist hier.« Sie schluchzte. »Du hast sicher Hunger.«

Blitzschnell wandte Gal sich ab. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie ihre Brust entblößte und den Kleinen anlegte. Er sah nach oben, wo schon drei Strohdächer lichterloh brannten. Fluchte leise.

In diesem Moment donnerte es. Jubel ertönte von allen Seiten.

Es dauerte endlose Minuten, bis der erste Blitz den Himmel zerriss. Noch länger, bis die ersten Tropfen fielen. Aber es reichte. Der Regen löschte die Dächer, bevor das Feuer zu weit um sich greifen konnte. Die Eimerkette löschte das Feuer innerhalb der Häuser. Gal und Lukacs waren wieder dabei, reichten Eimer um Eimer, bis ihre Hände schmerzten.

Die Leute hörten nicht auf, Lukacs zu loben. Wie mutig er war. Wie selbstlos er in das Haus gestürmt war. Dass er einen großartigen Bürgermeister abgeben würde, eines Tages.

Niemand sagte ein Wort zu Gal. Niemand blickte ihm in die Augen.

Bis auf Lukacs. Jedes Mal, wenn Gal ihm einen Eimer reichte, schaute er ihn an, als würde sein Leben davon abhängen. Tat es auch, gewissermaßen.

Er war ein Kalter. Niemals, nicht in hunderttausend Jahren, hätte Gal sich träumen lassen, dass ausgerechnet Lukacs Andon einer von denen war. Ein Monster wie der Kerl, der auf dem Marktplatz am Pranger stand und mit Pferdeäpfeln beworfen wurde.

Gal stellte sich vor, wie Lukacs da stand. Stinkend, ohne Freunde, mit starrem Blick. Er wunderte sich über sich selbst. Die Vorstellung hätte das Scheißkomischste überhaupt sein sollen. Der goldene Sohn der Stadt, bedeckt mit Kacke und fauligem Kohl. Stattdessen spürte er einen Druck auf seiner Brust. Enge in der Kehle. Entsetzt kapierte er, dass er nicht wollte, dass Lukacs Andon am Pranger landete.

Der Mistkerl hat mich schließlich gerettet, dachte er. Und die Kalten, die sind allen noch unheimlicher als die Brandstifter. Andon ist eine Arschkrampe, aber ich will doch nicht, dass er endet wie der Kerl, der in meinem Versteck gewohnt hat.

Nein, das wollte er nicht. Er schluckte. Spürte ein dummes Kribbeln, wann immer Lukacs' Hände seine berührten und bat den Ewigen, ihn vor seinen Wünschen zu schützen.

Als es vorbei war, nickten ihm tatsächlich ein paar Leute zu. Erstaunt über so viel Zuneigung machte er sich auf den Rückweg. Schnell, bevor ihn doch noch jemand Missgeburt nannte und es zu einer Schlägerei kam. Er schritt durch die Gassen, deren Gestank vom Rauch überlagert wurde und fühlte sich … gar nicht schlecht. Niemand hatte ihm gedankt, aber …

Aber ich weiß, was ich getan habe. Werd ich auch noch eine Weile, meine Jacke stinkt immer noch nach voller Windel. Und hey, immerhin ist Andon nicht ganz das Arschloch, für das ich ihn gehalten habe.

»Gal«, sagte eine Stimme, direkt neben ihm. Beinahe hätte er einen Satz gemacht. Lukacs ging neben ihm, das Gesicht hart vor Anspannung, Haare und Kleider voll Ruß.

»Andon«, sagte Gal. »Du siehst scheiße aus.«

»Und du stinkst nach Pisswindel«, erwiderte der Schönling. Er sah sich um. Sie waren so alleine, wie man in Hamparal je war. Weder vor noch neben ihnen ging jemand. Sie passierten eine Bande Kinder, die im Dreck spielten und Gal anschauten, als wäre er direkt aus der Hölle gekrochen. Nicht mal das konnte seine halbwegs gute Laune versauen.

»Was willst du, Andon?«, fragte er, obwohl er es sich denken konnte. »Willst du dich noch mal prügeln? Denk dran, dass ich dir den Arsch aufgerissen habe.«

»Einen Scheiß hast du.«

»Du hast geheult wie ein Mädchen«, behauptete Gal. »Und dich eingepisst.«

»Du hast nach deiner Mami gerufen«, sagte Lukacs und seine Züge entspannten sich etwas. »Und hey, was ist der braune Fleck auf deinem Hosenboden?« Er tat so, als würde er die Nase rümpfen.

Ein seltsames Geräusch hallte durch die schmale Gasse: Gals Lachen. Klang, als würde er in einen löchrigen Eimer husten. Sofort hörte er auf. Hitze kroch seinen Nacken hoch.

»Red schön so weiter«, sagte er. »Und ich versohl dir den Hintern und lass alle zuschauen.«

Lukacs ging nicht darauf ein. Er trottete neben Gal her, als müsste er sich auf etwas vorbereiten. Auf seine eigene Beerdigung, seinem Gesichtsausdruck zufolge.

»Wirst du es ihnen sagen?«, fragte er schließlich.

Gal ließ ihn einen Moment lang zappeln. Dann schüttelte er den Kopf. »Ne. Du hast mich gerettet, da drin. Und die kleine Stinkewindel auch. Ich sag nichts.«

Lukacs blickte zu Boden, aber Gal erahnte die Erleichterung in seinen Zügen.

»Danke. Echt, vielen Dank.«

»He, einem Biest wie mir würde doch eh keiner glauben.« Gal fühlte sich unwohl. Seit wann gingen Lukacs Andon und er Seite an Seite durch die Straßen? Als wären sie Freunde oder so. Er brachte ein Grinsen zustande. »Mach dir keinen Kopf, Andon. Wir Missgeburten müssen zusammenhalten, oder?«

Andon blickte ihn an, als hätte er ihn noch nie gesehen. Er lachte, ein kurzes, abgehacktes Geräusch. Sein Lächeln war so strahlend, dass Gal den Blick abwenden musste. »Stimmt wohl. Danke, Gal. Echt.«

Gal zuckte mit den Achseln. »Schon gut. Geh zurück zu deinen Anhängern, Andon. Die wollen dir bestimmt 'nen Orden verleihen oder so.«

»Bestimmt.« Andon schnaubte. Er zögerte sichtlich. Lächelte Gal noch einmal zu und diesmal wirkte es fast schüchtern. Dann drehte er sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. Gal hörte seine dumpfen Schritte verklingen.

Etwas Warmes breitete sich in seiner Brust aus. Etwas, das er nicht aufhalten konnte. Etwas, das dieser Trottel mit seinem Lächeln geweckt hatte, als hätte er eine Schale zerbrochen. Etwas war geschlüpft. Unwillkürlich grinste Gal und beinahe hätte er vor sich hingepfiffen, während er zurück zum Markt ging.

Hör auf, du Trottel, dachte er. Nächstes Wochenende ist alles wieder beim Alten, wirst schon sehen.

Aber das war es nicht.

Und das würde es nie wieder sein. Wenn er später an diesen Augenblick zurückdachte, fühlte er sich elend und schuldig. Dies war der Moment, in dem alles den Bach runtergegangen war, in dem alles begonnen hatte, zu faulen und zu verrotten. In dem Lukacs Andon sein eigenes Unglück heraufbeschworen hatte.

Mit einem Lächeln.

Frostsklave

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