Читать книгу Schokoladenschwestern - Regina Reitz - Страница 4

2. Kapitel

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„Bist du das, Pauline?“

„Ja!“

„Oma, ich bin auch da!“

„Natürlich bist du auch da, mein Schatz. Zieht bitte die Schuhe aus, bevor ihr hereinkommt und stellt sie auf das Regal. Und nehmt euch ein paar Pantoffeln aus dem Schuhschrank.“

„Mama, du tust ja so, als kämen wir zu Besuch. Wir wohnen hier.“ Ich gab Matti einen Stupser und zog eine Grimasse.

Noch bevor ich die vollen Einkaufstüten abstellte, streifte ich mir die Turnschuhe von meinen Füßen, weil an ihnen noch immer Reste von Nutella klebten. Nicht auszudenken, wenn etwas davon auf den Teppich gelangen würde. Aus dem Schuhschränkchen kramte ich die hellblauen Schlappen hervor, die ich schon als Jugendliche so gerne getragen habe.

Nach all den Jahren sehen sie wie zwei ramponierte Plüschtiere aus, die einer nestbauwütigen Mäuseschar zum Opfer gefallen sind. Es ist ein ständiger Kampf mit meiner Mutter, dass sie sie nicht in den Müll wirft. Für sie sind diese Schlappen eine Zumutung, ja ein wahrer Frevel, der in ihrem Haus immer wieder aufs Neue begangen wird, sobald ich sie trage und sie versteckt sie in der hintersten Ecke des Schuhschranks und auch schon mal im Keller oder auf dem Dachboden, damit ich sie nicht finden kann.

Einmal landeten die Schlappen auf wundersame Weise in der Kühltruhe. Hat man da noch Worte? Meine Mutter behauptet bis heute steif und fest, sie hätte keine Erklärung, wie sie dahin gekommen seien, auch wenn die Schlappen ordentlich in eine Plastiktüte gewickelt waren, akkurat verschlossen mit einem ihrer orangefarbenen Klipps, die sie sonst immer verwendet, wenn sie Fleisch einfriert.

Aber egal, was meine Mutter sich auch ausdenkt, bis jetzt habe ich meine heißgeliebten Treter immer wieder zurückerobern können. Der Tag, an dem es zur finalen Schlacht kommt, aus der ich als Verlierer hervorgehe, wird der Tag sein, der meine Kindheit für immer beendet.

Aber noch befanden sich die Schlappen in meinem Besitz und deshalb zog ich sie schnell über. Sofort fühlte ich mich besser. Nichts hätte mich zurück in den Supermarkt gebracht. Noch nicht einmal die berühmten zehn Pferde, auch nicht elf, ja selbst elftausend kölsche Gäule hätten keine Chance gehabt.

„Ich laufe auf Socken“, krähte Matti und machte sich daran, in die Küche zu flitzen.

„Oh nein, du Schlawiner! Du ziehst dir Pantoffeln über!“ Meine Mutter erschien in der Küchentür und schob ihren Enkel sanft, aber bestimmt zurück in die Diele.

„Aber Oma, dann kann ich dir keinen Kuss geben und dann bist du ganz traurig.“

„Da hast du natürlich recht. Her mit dem Kuss!“

Bei Matti wird meine Mutter immer ganz weich. Wenn man es genau nimmt, ist sie auch sonst keine harte Frau, aber sie hat ihre Prinzipien. Matti jedoch wickelt sie mühelos um den kleinen Finger, als wäre sie ein Kaugummi, den man ordentlich durchgeknatscht hat.

Meine Mutter bückte sich zu ihrem Enkel hinunter, der sie stürmisch umarmte und ihr einen lauten Schmatzer auf den Mund gab und da sie schon mal so weit unten war, nutzte sie die Gelegenheit, eine Fluse vom Boden aufzuheben, die auf wundersame Weise nur von ihr gesehen werden konnte. Das allein wäre noch kein Kunststück gewesen, aber wie sie die Fluse trotz der Gummihandschuhe zu fassen bekam, war mir ein Rätsel.

Ich hege den leisen Verdacht, dass meine Mutter schon mit Gummihandschuhen auf die Welt gekommen ist und noch im Kreißsaal, zum Erstaunen der Hebammen und Ärzte, umgehend für Ordnung gesorgt hat, und da die Gummihandschuhe praktisch mit ihr verwachsen sind, kann sie mühelos mit ihnen hantieren, während ich mich mit diesen Dingern abkämpfe, als hätten sich schwabbelige Quallen an meinen Händen festgesaugt, um sie zu unförmigen, unbrauchbaren Klumpen zu transformieren.

Jetzt richtete sich meine Mutter wieder auf, die Hände ins Kreuz gestützt, ähnlich einer Schwangeren kurz vor der Niederkunft, besann sich dann aber und strich mit resoluten Bewegungen die Schürze glatt, auf der ohnehin keine einzige Falte Unordnung stiftete. Die Schürze schien, ebenso wie die Handschuhe, fest mit ihr verwachsen zu sein.

„Wo ist Opa? Ich muss ihm von der Hexe erzählen. Da wird er aber staunen.“ Aufgeregt hüpfte Matti vor meiner Mutter auf und ab.

Sie runzelte die Stirn und warf MIR einen strengen Blick zu.

Sofort fühlte ich mich schuldig.

Diesen Blick hat meine Mutter drauf, seit ich sie kenne. Seit 27 Jahren verfehlt er nie seine Wirkung. Wahrscheinlich werde ich noch mit sechzig vor diesem Blick in die Knie gehen und zugeben, dass ich vom Kuchen genascht habe. Wie meine Mutter das macht, kann ich nicht sagen. Sie macht es einfach.

„Dein Großvater ist noch nicht zu Hause“, gab sie Matti bereitwillig Auskunft. „Wahrscheinlich diskutiert er noch mit seinen Gartenfreunden über die neusten Rosenzüchtungen oder darüber, wie sie die Schnecken aus ihren Gärten vertreiben können.“

Matti guckte enttäuscht aus der Wäsche. „Die blöden Schnecken“, maulte er.

„Ja, die blöden Schnecken“, stimmte meine Mutter zu. „Das macht aber nichts, denn du kannst die Zeit nutzen und dein Zimmer aufräumen.“

„Ach, Oma!“

„Abmarsch!“

„Na gut!“ Matti drehte sich um und lief die ersten Stufen der Treppe hinauf.

„Die Pantoffeln!“

Ja, es stimmt, bei Matti kann meine Mutter weich werden, aber bei der Frage, ob in ihrem Haus Pantoffeln getragen werden oder nicht, kennt sie kein Pardon.

„Ein bisschen Gerechtigkeit muss es in der Welt schon geben“, dachte ich zufrieden.

Mein Sohn seufzte ergeben und watschelte wieder die Stufen hinab. „Oma, wieso hast du das nicht vergessen? Du bist doch alt.“

Meine Mutter zog hörbar die Luft ein, obwohl ich bezweifelte, dass seine Worte sie ernsthaft kränkten.

„Sie vergisst nie etwas, egal wie alt sie ist“, wisperte ich geheimnisvoll, während sich mein Sohn seine Pantoffeln überzog, um anschließend wieder die Treppe hinaufzustürmen.

„Genau so ist es!“, sagte meine Mutter und warf einen tadelnden Blick in meine Richtung. Nur weil sie bei Matti einen frechen Spruch durchgehen ließ, hieß das noch lange nicht, dass ich mir dasselbe Recht herausnehmen durfte. So viel zum Thema Gerechtigkeit.

„Ich vergesse nie etwas und deshalb bringst du jetzt bitte die Einkäufe in die Küche und deckst anschließend den Tisch. Aber wasch dir vorher die Hände! Du riechst streng!“

„Ja, Mama!“, sagte ich und fühlte mich so alt wie Matti an Jahren zählte. Ich schlappte ins Bad, ließ die Tür aber offen stehen.

„Kind, du sollst doch die Tür...“

„...schließen, wenn du im Bad bist. Ich weiß, Mama, aber ich wasche mir doch nur meine Hände und sitze nicht auf dem Klo.“

„Es heißt Toilette. Klo klingt so vulgär.“

Ich trocknete mir die Hände ab und trat aus dem penibel sauberen Badezimmer heraus. In einem Prospekt für Sanitäreinrichtungen wäre es das Premium Musterbad. Trotzdem drängte sich meine Mutter mit einem Tuch in der Hand an mir vorbei, um die Wassertropfen aus dem Waschbecken zu entfernen.

Ich nahm die Einkaufstüten und trug sie in die Küche.

„Was ist das denn? Ist das für mich?“ Matti musste etwas in seinem Zimmer entdeckt haben, das ihm diesen Freudenschrei entlockte.

Sofort ergriff ich die Gelegenheit, um nach ihm zu schauen. Ein Außenstehender hätte dieses Manöver vielleicht als Flucht interpretiert. Ehrlich gesagt, war es das auch und deshalb sprintete ich die Treppe hoch, bevor meine Mutter sich mir in den Weg stellen konnte.

„Und wer deckt den Tisch?“, rief sie hinter mir her. „Und Pauline, Matti soll allein aufräumen!“, setzte sie nach.

„Er ist doch noch so klein!“

„Du verwöhnst ihn viel zu sehr. Was er in Unordnung bringen kann, sollte er auch allein wieder aufräumen.“

„Aber Matti ist erst vier Jahre alt!“

„Da habe ich schon meiner Mutter geholfen, das Haus zu putzen.“

„Und sie damit bestimmt in den Wahnsinn getrieben“, murmelte ich und betrat mein altes Kinderzimmer.

Matti saß, den Kopf angestrengt über ein Blatt Papier gebeugt, an dem kleinen, weißen Tisch, an dem ich schon als Kind gespielt hatte. Seine Zunge flitzte so schnell über seine Lippen, wie der Stift über das Papier huschte.

„Mama schau, ich habe ganz tolle Stifte bekommen. Da, das Bild habe ich für dich gemalt.“ Stolz hielt er mir das Blatt Papier unter die Nase, auf dem mehrere Kreise und Striche zu erkennen waren.

„Und was ist das?“

„Das bist du“, sagte Matti stolz und zeigte auf den dicksten Kreis.

„Ich bin ein dicker Kreis?“, staunte ich, aber Matti ließ sich nicht beirren.

Er nickte selbstbewusst. „Und das ist Opa!“ Der lange Strich neben dem dicken Kreis hatte tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit meinem Vater.

„Und das ist Oma.“ Jetzt deutete Matti auf einen roten Balken, von dem mehrere Striche abgingen, die an ein fulminantes Feuerwerk erinnerten.

Ich kicherte und konnte nicht anders, als das Bild zu lieben und deshalb gab ich meinem Sohn einen dicken Schmatzer. „Hilfst du mir den Tisch zu decken?“

„Mama, du hast doch gehört, was Oma gesagt hat. Ich muss mein Zimmer aufräumen. Wenn Oma das macht, dann wird es zu ordentlich.“

Ich betrachtete Matti bewundernd.

Er ist viel schlauer als ich es in seinem Alter gewesen bin. Wenn ich ehrlich sein soll, steckt er mich mit seinen vier Jahren ziemlich oft in die Tasche. Es sollte mir peinlich sein, aber irgendwie macht es mir nichts aus. Es ist ja nur richtig, wenn Kinder ihre Eltern überholen, auch wenn es zugegebenermaßen ein bisschen früh dafür war.

„Wir können natürlich nicht zulassen, dass Oma hier aufräumt“, stimmte ich ihm zu. „Da hilft nur eins! Zuerst nehmen wir uns dein Zimmer vor, dann decken wir gemeinsam den Tisch.“

Matti nickte erleichtert. „Ich bin froh, dass du mir hilfst. Oma ist komisiert.“

„Sie ist was?“

„Komisiert. Das sagt Opa.“

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, trotzdem war ich mir sicher, es sei besser, wenn meine Mutter diese Bemerkung nicht zu Ohren bekäme.

Das Zimmer war schnell aufgeräumt, was auch nicht weiter verwunderlich war, denn Unordnung hat es in diesem Haus vielleicht hin und wieder als phonetisches Gebilde gegeben, heimlich gewispert hinter vorgehaltener Hand, aber nie als real-existierender Zustand.

Ich nahm Matti auf den Arm und stieg mit ihm die Treppe hinab.

„Pauline, wo bleibst du denn? Jetzt musste ich die Einkäufe selbst wegräumen, damit sie nicht schlecht werden.“

Konserven konnten verderben, wenn sie nicht umgehend in den Vorratsschrank geräumt wurden? Das war mir neu.

Nein, Konserven würden nicht so schnell verderben, aber andere Dinge.

Etwas hauste in meinem Kopf, ließ sich aber nicht fassen.

Während ich noch darüber nachdachte, sprang Matti von meinem Arm auf den Boden und hopste in die Küche.

„Warum hast du keine Bohnen mitgebracht?“, wollte meine Mutter wissen.

„Die hatten keine mehr“, log ich.

„Und überhaupt, was sind das für Bananen? Gab es keine reiferen. Sie sind noch viel zu grün. Auf keinen Fall kann ich sie morgen für den Nachtisch verwenden. Diese hier müssen mindestens noch zwei Tage liegen. Denk doch mal mit Kind, du bringst meinen ganzen Speiseplan durcheinander.“

Also, grün sind die Bananen und nicht gelb. Gut, dann war diese Frage geklärt.

„Der Tisch ist auch noch nicht gedeckt und Vater wird jeden Augenblick nach Hause kommen. Du weißt doch wie schlecht seine Laune wird, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht.“

Das ist eine Behauptung, die meine Mutter seit Jahren aufstellt. Merkwürdig daran ist nur, dass sie sich noch kein einziges Mal bewahrheitet hat. Zum einen, weil mein Vater sich hüten würde, nicht zum verabredeten Zeitpunkt zu erscheinen, so dass das Essen kalt werden würde, zum anderen, weil meine Mutter auf die Sekunde genau das Essen zubereiten kann. Keiner weiß, wie sie das anstellt, aber weil die beiden ein eingespieltes Team sind, bietet sich für meinen Vater nie die Gelegenheit, in dieser Hinsicht schlechte Laune zu bekommen. Auch sonst besitzt er eine eher fröhlich optimistische Natur.

Trotzdem hält meine Mutter an ihrer Behauptung fest.

„Dann lass uns mal den Tisch decken“, zwinkerte ich Matti zu. „Nicht, dass Opa zu einem Ungeheuer mutiert und uns vor lauter Hunger anfällt, um uns aufzufressen.“ Ich hob die Hände über meinen Kopf, zog eine Fratze und jagte Matti um den Tisch, der kreischend vor mir Reißaus nahm.

„Kinder! Lasst den Unsinn!“ Meine Mutter klatschte in die Hände und schaute streng drein, wie die Prusseliese, die trotz Aufbringens ihres gesamten erzieherischen Könnens hoffnungslos an Pippi Langstrumpf scheitert.

Das Rasseln eines Schlüssels war zu hören und im nächsten Moment öffnete sich die Haustür. Mein Vater steckte seinen Kopf hinein. „Hier geht es ja rund“, lachte er.

„Ludwig, da bist du ja endlich! Wasch dir die Hände!“

„Jawohl!“ Mein Vater salutierte und schob seinen langen Körper in die Diele.

Mit einer Größe von einen Meter dreiundneunzig muss er jedes Mal den Kopf einziehen, um nicht mit der Deckenlampe zusammenzustoßen. Dafür hat er genug Platz zu den Wänden hin. Er ist nämlich nicht nur sehr groß, sondern auch ziemlich dünn.

Meine eigene hochgewachsene Gestalt habe ich ihm zu verdanken.

Das kastanienbraune, glatte Haar, das mein Gesicht umrahmt und bis auf die Schultern fällt, habe ich von meiner Mutter geerbt.

Fraglich ist nur, wer mir die Zahnlücke vermacht hat. Das kann oder will mir keiner sagen, denn meine Eltern haben makellose Zähne, während zwischen dem Spalt meiner Vorderzähne eine kleine Maus hindurchschlüpfen könnte. Noch nicht einmal eine Zahnklammer hatte etwas dagegen ausrichten können. Matti sagte einmal, zwischen meinen Zähnen hätte man vergessen, eine Türe einzubauen. Darüber musste ich lachen, hielt dann aber sofort die Hand vor meinen Mund, wie ich es immer mache, weil es mir peinlich ist, wenn jemand die Zahnlücke bemerkt und womöglich noch einen blöden Kommentar darüber abgibt.

Mein Vater hatte unterdessen seine Schuhe von den Füßen gestreift und schlüpfte in seine Pantoffeln. Dann gab er zunächst meiner Mutter, danach mir und schließlich Matti einen Kuss. „Hmm, das riecht lecker“, schwärmte er und schaffte es irgendwie an meiner Mutter vorbei in die Küche zu huschen, um unter die Deckel der Kochtöpfe zu sehen.

Warum er das tat, war mir schleierhaft, denn schließlich gab es jeden Dienstag Schnitzel, Kartoffeln und Gemüse. Wahrscheinlich schaute mein Vater nur deshalb unter die Deckel, weil er insgeheim hoffte, doch mal überrascht zu werden.

Meine Mutter gab ihm einen Klaps auf die Finger. Auch das hatte eine gewisse Tradition. „Lass das, Ludwig! Du bringst mich ganz durcheinander! Nun geh schon deine Hände waschen.“

„Jawohl, Chef!“

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann mein Vater meine Mutter das letzte Mal einfach Christa genannt hat. Immer nennt er sie Chef oder Boss, manchmal sogar Tyrann, aber letzteres auch nur, wenn sie nicht im Zimmer ist und er ganz sicher sein kann, dass sie nicht zufällig an der Türe lauscht. Was meine Mutter natürlich nie machen würde. Nein, natürlich nicht!

Mein Vater ging wie befohlen ins Badezimmer, ließ die Tür aber offen stehen.

„Ludwig!“

Er schloss die Tür.

„Komm Matti, lass uns den Tisch decken, bevor wir Ärger bekommen.“ Ich beugte mich verschwörerisch zu meinem Sohn hinab und flüsterte: „Bald rette ich dich und hole dich aus diesem verwunschenen Haus heraus.“

„Warum denn?“ Matti schaute mich mit großen Augen an.

„Na, weil es eben nicht nur Märchen gibt, in denen Prinzen die Prinzessinnen vor dem Drachen retten, sondern auch tapfere Mütter ihre Söhne beschützen.“

„Und wer ist der Drache? Oma?“

Ich kicherte, legte dann aber schnell den Zeigefinger auf seinen Mund. Leider nicht schnell genug.

„Wer ist ein Drache?“ Meine Mutter stellte die dampfenden Schüsseln auf den Tisch.

„Du, Oma!“, quetschte Matti hervor, obwohl ich immer noch meinen Zeigefinger auf seine Lippen presste.

„Das ist also der Dank für meine ganze Arbeit“, antwortete meine Mutter verschnupft.

„War doch nur Spaß.“ Ich kaute so heftig auf meiner Unterlippe, dass es bereits weh tat.

Matti lief zu seiner Oma und drückte sie. „Ich mag Drachen. Die können ganz toll Feuer spuken. Und sie können fliegen. Und sie sehen ein bisschen wie Dinosaurier aus.“

„Da siehst du, was du angerichtet hast, Pauline. Jetzt hält das Kind mich für einen Dinosaurier.“

„Hoffentlich nicht für einen T-Rex“, lachte mein Vater, der aus dem Bad getreten war und sich erwartungsvoll an den Tisch setzte. „Stell dir mal vor, du müsstest mit solch kurzen Ärmchen die Betten machen oder versuchen, mit Messer und Gabel zu essen.“ Mein Vater winkelte die Arme an und zog sie eng an den Brustkorb, um jetzt erfolglos nach dem Besteck zu greifen. Dabei riss er den Mund weit auf, wie ein hungriger T-Rex.

Matti juchzte vor Vergnügen.

„Ludwig, nun gib aber Ruhe!“ Ihr berüchtigtes Tuch aus der Schürze ziehend, lief meine Mutter ins Bad, um die zwei bis drei Wassertropfen zu entfernen, die mein Vater in seiner Unachtsamkeit übersehen haben musste.

Nicht auszudenken, wenn das Wasser auf dem Emaille Kalkflecken hinterlassen würde und wie es der Teufel wollte, würde sich unerwarteter Besuch anmelden und natürlich wäre es Frau Barsch, unsere neugierige und durch und durch penetrante Nachbarin, die sich gerne ins Haus hineindrängt und durch die Zimmer schleicht, wenn meine Mutter es nicht zu verhindern weiß, und die nach dem kleinsten Staubkorn sucht, auch wenn sie es nie zugibt und trotzdem ist die gesamte Straße eine Stunde später darüber in Kenntnis gesetzt, wenn auch nur eine einzige Kaffeetasse AUF und nicht IN der Spülmaschine steht. Und überhaupt, wer eine Spülmaschine benutzt, ist nur zu faul, mit der Hand zu spülen.

„Opa, ist Oma jetzt wieder komisiert?“

Mein Vater kicherte. „Nein, Oma ist nicht kompliziert. Sie will es nur immer ordentlich haben.“

„Opa, hast du heute wieder Gesetze gemacht?“ Mattis Beine baumelten aufgeregt unter dem Tisch.

„Na und ob!“

„Auch gegen die Schnecken?“

„Besonders gegen die Schnecken.“

„Müssen die jetzt aus deinem Garten verschwinden?“

„Ja, und ihr Haus müssen sie auch mitnehmen.“

Matti dachte eine Weile nach. Auf seiner Stirn zeigten sich steile Sorgenfalten. „Und was machen die Schnecken, die kein Haus haben? Wo sollen die hin?“

„Die müssen ins Hotel ziehen.“

„In ein Schneckenhotel?“

„Ja!“

„Dann ist gut.“ Matti schaute zufrieden drein. „Du bist der Boss, stimmt's Opa?“ Es war unbestreitbar, wer Mattis großer Held war.

Mein Vater wuchs auf seinem Stuhl noch ein paar Zentimeter mehr in die Höhe und lächelte seinem Enkel anerkennend zu. „Nun ja, ich bin der erste Vorsitzende des Gartenvereins Mauerblömche und der muss schließlich verantwortungsvoll sein und die Arbeit im Blick haben.“

„Und die Schnecken!“, nickte Matti.

„Die ganz besonders.“

„Jetzt ist aber mal genug von Schnecken gesprochen. Das verdirbt einem doch den Appetit!“ Mit säuerlicher Miene verteilte meine Mutter die Schnitzel auf die Teller.

„Nun ja, wir haben auch Termine für die nächsten Instandsetzungen festgelegt“, lenkte mein Vater ein.

„Ich dachte, die Termine stehen schon alle fest?“, wunderte sich meine Mutter, die mit einem Messer Mattis Schnitzel kleinsäbelte.

„Ja, schon, aber da sind noch zwei weitere hinzugekommen.“

Plötzlich machte meine Mutter ein zufriedenes Gesicht.

Wenn mein Vater außer Haus ist, kann sie schalten und walten, wie sie will. Es gibt keinen Grund, warum sie es nicht auch tun könnte, wenn er in seinem Sessel sitzt und die Zeitung liest. Das sieht sie aber völlig anders.

Die Aussicht auf noch mehr Tage ungestörtes Durch-Das-Haus-Wirbeln hob ihre Laune. Großzügig verteilte sie nun die Salzkartoffeln auf die Teller.

Ich hege den leisen Verdacht, dass mein Vater bewusst einige Termine zurückhält und sie erst nach und nach meiner Mutter mitteilt und zwar immer dann, wenn sie schlechte Laune zu bekommen droht. Schlauer Papa!

„Ich habe übrigens etwas für dich arrangieren können“, sagte mein Vater zu mir gewandt. In seinen Augen blitzte es freudig.

Sofort bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Heute war absolut nicht mein Tag, das konnte nun wirklich niemand behaupten, also würde auch jetzt nichts Gutes dabei herauskommen, wenn mein Vater diese Ansprache hielt. „Was meinst du mit arrangieren können?“, fragte ich deshalb skeptisch.

„Peter war heute bei der Versammlung anwesend. Du weißt schon, Peter Sillich, unser neustes Mitglied. Ihm gehört das schicke Restaurant in der Südstadt. Ich habe schon das letzte Mal von ihm und seinem Lokal gesprochen. Ausgezeichnete Speisekarte! Das sagen jedenfalls die anderen Mitglieder, die schon bei ihm essen waren.“

„Pff!“, machte meine Mutter, was soviel bedeutete, wie: Was sie nicht gekocht hatte, konnte auch nicht schmecken.

„Wir sollten dort mal hingehen“, ignorierte mein Vater ihren Einwand und sofort sausten die Mundwinkel meiner Mutter in den Keller und nahmen ihre Laune gleich mit.

„Soll das heißen, ich kann nicht kochen?“

„Doch natürlich. Du kochst ausgezeichnet, meine Liebe. Ich dachte nur, es wäre mal eine Abwechslung für uns.“

Das Gesicht meiner Mutter entgleiste völlig.

„Und für dich wäre es weniger Arbeit“, schob mein Vater schnell hinterher.

Oh je, armer Papa. Er ritt sich immer tiefer hinein. Aus dieser Nummer würde er ohne Federn zu lassen nicht mehr herauskommen. So viele Termine konnte er nicht in petto haben.

„So! Abwechslung willst du? Die kannst du haben! Das Gemüse könnt ihr euch selbst drauf tun.“

Meine Mutter setzte sich und vermied jeglichen Blickkontakt. So, wie sie den Mund verzog, konnte man annehmen, sie habe in eine unreife Zitrone gebissen.

Ich kaute auf meinem Stück Fleisch herum. „Was soll ich denn in dem Restaurant machen? Spülen?“

„Nein, Peter sucht noch eine Kraft für den Service.“

Das Stück Fleisch blieb mir im Hals stecken. „Im Service? Das habe ich doch noch nie gemacht, Papa. Das kann ich nicht.“

„Aber Paulchen, es ist doch nur für ein paar Stunden in der Woche. Nichts Weltbewegendes. Wirklich! Du musst es nur einmal versuchen.“ Mein Vater tätschelte beruhigend meine Hand.

Eigentlich finde ich es niedlich, wenn mein Vater mich Paulchen nennt, auch heute noch, wo ich so tue, als sei ich erwachsen.

Jetzt jedoch konnte es mich nicht beruhigen.

Du musst es nur einmal versuchen?

Haha, sehr witzig.

Der wievielte Versuch im wievielten Job sollte das wohl werden? Irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen.

Immer wieder hat mein Vater über Freunde und Bekannte irgendwelche Jobs für mich an Land gezogen.

Eine Kostprobe gefälligst?

Jeder, aber auch wirklich jeder, kann angeblich in einem Nagelstudio arbeiten.

Jeder!

Ausgenommen meine Wenigkeit.

Die vermeintliche Tinktur, die ich auf die Nägel einer Kundin auftragen sollte, entpuppte sich leider als äußerst aggressiver Reiniger und dieser Reiniger wiederum hielt überhaupt nichts davon, mit seiner überaus effektiven Wirkung vor den Nägeln der Kundin halt zu machen. Dabei handelte es sich bei ihr ausgerechnet um die echten Krallen und nicht etwa um Kunstnägel. Ich bin immer noch sicher, dass die Ladenbesitzerin mir die Anweisung gab, den Inhalt der roten Flasche zu verwenden und nicht den der grünen, wie sie keifend behauptete, bevor sie mich hinauswarf.

Das nennt man wohl Pech!

Oder mein Einsatz als Verkäuferin in einer exquisiten Boutique im noblen Kölner Stadtteil Lindenthal.

Bereits nach einer Stunde ließ mich die Inhaberin, Frau von Mürke, allein im Laden zurück, nur um bei ihrer Rückkehr festzustellen, dass ich die Konfektionsgrößen der Kleidungsstücke mit dem Preis verwechselt haben musste. Die Worte, mit denen Frau von Mürke mich überschüttete, hallen noch heute die vornehme Einkaufsstraße hinauf und hinunter und suchen dort vergeblich ein neues Zuhause. Aber mal ehrlich! Ein T-Shirt für den Preis von 36 Euro erscheint mir vollkommen angemessen. So schön war es dann auch wieder nicht und wer hätte ahnen können, dass ich damit den Preis um satte 120 Euro unterboten hatte?

Das waren alles unschöne Erfahrungen, mit denen es sich aber durchaus leben ließ und die man auch irgendwann vergessen konnte. Was sich jedoch für die Ewigkeit in mein Hirn gebrannt hat, ist mein Zusammentreffen mit Dieter Eberstein. Auch er war ein Gartenfreund meines Vaters und nach einem abschätzenden Blick, der an meinem Busen begann und an meinen Knien endete, bot er meinem Vater an, mir unter die Arme zu greifen. Es wäre keine schwere Arbeit, aber sie sei gut bezahlt, versicherte er. Ich solle in seinem Lokal lediglich den Getränkeumsatz steigern.

Völlig naiv betrat ich die dunkle Bar, deren Wände mit rotem Samt verkleidet waren. Spätestens als Eberstein mir die Arbeitszeiten nannte, wurde ich dann doch hellhörig.

Zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens trinkt man nun mal keinen Kakao oder spielt Mensch-ärgere-dich-nicht.

Der mir zugewiesene Arbeitsplatz bestand aus einem Zwei Quadratmeter großen Käfig, der auf einem Podest fixiert war, meine Arbeitskleidung aus einem Hauch von Nichts.

„Du prüde Gans!“, schrie Eberstein hinter mir her, als ich kurz darauf kopflos auf die Straße stürmte.

Dass der Nachtclubbesitzer seine Parzelle in der Schrebergartensiedlung kurz nach diesem Vorfall aufgab, obwohl sein Großvater eines der Gründungsmitglieder der Gartenkolonie Mauerblömche war, ist mir nie merkwürdig erschienen.

Mein Vater hingegen murmelte etwas von Gerechtigkeit und verglich Eberstein mit einem dicken, runden Körperteil, dem er obendrein noch ein paar Ohren andichtete, obwohl das anatomisch so nicht ganz korrekt ist.

Es tut mir leid, meine Eltern immer wieder aufs Neue enttäuschen zu müssen, auch wenn sie alles daran setzen, es sich nicht anmerken zu lassen.

Die einzigen Dinge, die ich in meinem Leben zustande gebracht habe, kann ich an einer Hand abzählen und selbst dann benötige ich nur zwei Finger.

Das eine ist mein Abitur, bei dem ich recht gut abgeschnitten habe, das andere mein Sohn Matti, der zunächst völlig unerwartet in meinen Bauch und dann in mein Leben trat und es damit gehörig auf den Kopf stellte.

Eigentlich bin ich nicht böse, dass ich mein Studium der Afrikanistik an den Nagel hängen musste. Natürlich hätte ich das Studium nach Mattis Geburt fortsetzen können, aber nach der Niederkunft war ich irgendwie reifer und ich fragte mich zum ersten Mal ernsthaft: Was zum Teufel fängt man mit einem Studium der Afrikanistik an?

Gut, ich konnte einen Studentenausweis mein eigen nennen, mit dem ich kostenlos durch Köln fuhr, was ich auch lieber tat, als den langweiligen Seminaren zu folgen, die von noch langweiligeren wissenschaftlichen Hilfskräften abgehalten wurden, weil die Professoren keine Lust auf die gelangweilten Studenten verspürten.

Ich muss jedoch zugeben, dass auf Dauer allein der Besitz eines Studentenausweises sehr unbefriedigend war und irgendwann kannte ich das Netz der Kölner Verkehrsbetriebe in- und auswendig und konnte jedem Touristen erklären wie er von A nach B kam, und dabei am besten über C fuhr, weil es auch dort etwas Interessantes zu sehen gab. Der Sinnlosigkeit wäre zu entfliehen gewesen, indem ich das Studienfach gewechselt hätte. Ein durchaus überlegenswerter Gedanke, sicher, wenn Matti nicht krank gewesen wäre.

Mit Schaudern denke ich an die ersten Wochen und Monate seines Lebens zurück, an die Zeit, in der er verzweifelt nach Luft rang, während er mit seinen winzigen Fingerchen meinen Daumen umkrampfte.

Nie werde ich die Aufenthalte auf den endlosen Fluren des Kinderkrankenhauses in der Amsterdamer Straße vergessen.

Nie die langen Tage, an denen ich dort auf und ab lief, angetrieben von einer perversen Mischung aus Angst und Hoffnung.

Die Nächte jedoch, haben sich tief in mein Herz gegraben. Am schlimmsten waren jene dunklen Stunden, in denen mein kleiner Junge zuerst rot und dann blau anlief, weil er um jeden einzelnen Atemzug kämpfte.

Eines weiß ich seit dieser Zeit mit absoluter Gewissheit.

Blau wird nie und nimmer meine Lieblingsfarbe.

„Pauline! Was sagst du zu dem Vorschlag?“ Mein Vater schaute mich hoffnungsvoll an.

„Was?“ Ach so, ja. Er wollte wissen, ob ich das Angebot seines Freundes Peter in Betracht zog. Hatte ich denn eine Wahl? Nein, natürlich nicht. Ich lag meinen Eltern schon viel zu lange auf der Tasche und deshalb nickte ich zustimmend.

„Schön!“ Mein Vater atmete erleichtert auf. „Dann sage ich Peter Bescheid. Du kannst morgen schon hingehen und mal reinschnuppern.“

„Morgen schon?“ Wieso hatte ich plötzlich das Gefühl, vor meiner Henkersmahlzeit zu sitzen?

Der einzige Job, der zu mir passen würde, wäre einer, in dem man so unauffällig wie möglich sein durfte. Quasi unsichtbar, von den Menschen nicht beachtet. Eine Karriere als Schlossgespenst erschien mir durchaus als erstrebenswert. Nur wurden da sehr selten Stellen frei und wenn, dann wurden sie anderweitig vergeben und blieben dann wieder über hunderte von Jahren besetzt.

Als Servicekraft in einem gefragten Restaurant zu arbeiten, war wohl so ziemlich das Gegenteil davon.

„Wir haben heute ein neues Lied gesungen“, unterbrach Matti meine trüben Gedanken.

„Oh, schön mein Spatz. Magst du es uns vorsingen?“ Ich zwang mich zu einem Lächeln.

Matti schüttelte den Kopf. „Da brauche ich ein Kostüm für, weil ich muss das Lied auch spielen.“

„Kannst du es nicht einfach nur singen?“

„Vielleicht schon, aber mit Kostüm ist das besser. Opa, hast du eine rote Mütze?“ Die blauen Augen schauten hoffnungsvoll.

Mein Vater schüttelte den Kopf. „Nein, eine rote Mütze habe ich leider nicht. Da musst du schon einen Gartenzwerg fragen.“

Matti zog die Nase kraus. Man sah förmlich, wie es in seinem kleinen Kopf rotierte. „Opa, tragen Gartenzwerge rote Mützen, damit sie nicht vom Rasenmäher überfahren werden?“

Mein Vater und ich schauten uns an, dann gab es kein Halten mehr. Wir lachten, bis uns die Tränen über die Wangen liefen.

Sogar meine Mutter schmunzelte verstohlen, während sie die Teller abräumte, meinte dann aber, nun wäre genug Unsinn erzählt und servierte den Nachtisch. Es war ein kühler Vanillepudding mit herrlich lockerer Sahne, die obenauf mit Mandelsplitter verziert war.

Mandelsplitter?

Das war neu.

Dienstags gab es immer diesen Vanillepudding, aber meine Mutter nahm für die Verzierung des Sahnehäubchens stets Krokant und ich hätte schwören können, die Dose mit dem Krokant auch auf der Anrichte gesehen zu haben.

Arme Mama!

Sie hatte sich wohl die Worte meines Vaters sehr zu Herzen genommen und wollte ihn nun davon überzeugen, dass auch sie Abwechslung auf den Tisch bringen konnte.

Dabei hatte er es nicht böse gemeint.

Aber egal ob Mandelsplitter oder Krokant, beides war außerordentlich lecker und so löffelten wir genießerisch und schwiegen. Für die Länge eines Vanillepuddings war die Welt in völliger Ordnung.

So ist es doch immer. Ich meine, wenn es Nachtisch gibt, ist die Welt ein fantastischer Ort, denn dort, wo es Vanillepudding gibt, kann es nicht wirklich schlecht sein.

Mein Vater hatte seinen Nachtisch als erster verputzt. Zufrieden lehnte er sich zurück und faltete die Hände über einen Bauch, der keiner war, egal wie viel er in sich hineinschaufelte. „Übrigens kann man in Peters Lokal alle möglichen Delikatessen essen, außer Fisch. Er ist ein richtiger Fischliebhaber und deshalb hat er alles, was Flossen besitzt, von seiner Speisekarte verbannt.“

FISCH!

Wie hatte ich das nur vergessen können?

Wo war der verdammte Fisch?

Wieso hatte meine Mutter den Fisch nicht erwähnt? Sie musste ihn doch gefunden haben, als sie die Einkaufstüten ausgepackt hatte.

Vorsichtig schielte ich zu ihr herüber, ob die Erwähnung von Flossenträgern jeglicher Art sie daran erinnerte, mir die Ohren lang zu ziehen. Ihr Gesicht blieb jedoch völlig ausdruckslos.

„Matti“, zischte ich, doch mein Sohn leckte hingebungsvoll die Reste seines Vanillepuddings aus dem Schälchen.

Nur er darf das. Dabei würde auch ich nur zu gerne meine Zunge in mein Schälchen hängen und immer, wenn meine Mutter einen Moment unaufmerksam ist, mache ich das heimlich.

Heute war mir jedoch nicht danach, mein Schälchen auszulecken. „Matti!“ Mein Fuß traf sein Bein unter dem Tisch.

„Ihr müsst einen Moment ohne mich auskommen“, sagte meine Mutter plötzlich und erhob sich wie die legendäre Königin von Saba.

Meine Mutter verehrt diese Figur sehr, seit sie den Monumentalfilm mit Gina Lollobrigida in der Hauptrolle gesehen hat und weil sie so beeindruckt war, imitiert sie Haltung und Mimik der italienischen Schauspielerin nahezu perfekt.

Meine Mutter ist überhaupt stets sehr vornehm und würde niemals einfach sagen, dass sie auf die Toilette muss. Aufs Klo kommt erst recht nicht über ihre Lippen. Wenn sie sagt, dass wir einen Moment ohne sie auskommen müssen, dann ist das ihre Art kund zu tun, dass sie sich die Nase pudert und die Krone zurechtrückt und da meine Mutter wirklich speziell ist und nicht im Traum daran denken würde, die Toilette zu benutzen, die auch Gäste des Hauses aufsuchen könnten, nämlich die im Bad in der unteren Etage, verzieht sie sich immer nach oben in das große Badezimmer, in dem sich nicht nur eine Dusche, sondern auch eine Badewanne befindet.

Ich lauschte, wie meine Mutter die Treppe hinaufstieg.

Nicht nur das Badezimmer in der oberen Etage war groß, sondern auch die Badewanne.

Jetzt war meine Mutter in der oberen Etage angekommen.

Die Badewanne war sogar so groß, dass Matti darin seine ersten Schwimmübungen gemacht hatte.

Meine Mutter öffnete die Tür des Badezimmers.

Matti hatte darin seine Schwimmübungen absolviert und etwas, das viel kleiner war als er, konnte wahrscheinlich richtig darin schwimmen oder zumindest auf der Wasseroberfläche treiben.

„Was zum Teufel...?“, hörten wir meine Mutter verwundert ausrufen.

Ich lauschte noch angestrengter.

Lief nicht der Wasserhahn?

Das Rauschen des Wassers ging im Kreischen meiner Mutter unter.

Schokoladenschwestern

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