Читать книгу Schokoladenschwestern - Regina Reitz - Страница 5

3. Kapitel

Оглавление

„Du kriegst die Neue!“

Die Stimme, die durch die geöffnete Tür des Lokals auf die Straße drang, weckte in mir merkwürdige Assoziationen. Ich dachte an einen dunklen Wald oder eher an ein modriges Flussbett, in dessen Schlamm sich unzählige Amphibien tummelten. Ja, das war es. Wenn der Besitzer der Stimme auch noch mit Glupschaugen und Spreizfüßen ausgestattet wäre, stünde einer Karriere als Doppelgänger für Kermit, den Frosch nichts entgegen.

Natürlich war ich mit der Neuen gemeint. Unschlüssig stand ich vor dem Restaurant und traute mich nicht hinein, obwohl der Eingang lediglich drei Schritte entfernt lag.

„Das ist nicht dein Ernst!“ Die Frauenstimme, die Kermits Quaken unterbrach, war im Gegensatz zu ihrem männlichen Pedant dunkel, beinahe heiser.

Ich ging jede Wette ein, dass sie zu der langhaarigen Schönheit gehörte, die vor wenigen Sekunden auf der Straße an mir vorbeigerauscht war, um in dem Restaurant zu verschwinden.

Mit Miss Piggy hatte diese Schönheit jedoch wenig gemein, auch wenn Miss Piggy das bestimmt anders sah und ihre blonde Wallemähne entrüstet nach hinten schleudern würde, wäre sie imstande, meine Gedanken zu erraten. Dann fiel mir ein, dass ich wohl kaum Gefahr lief, Miss Piggy zu begegnen. Schließlich war sie nicht mehr Kermits Freundin. Kermits neue hieß Denise, war ebenfalls ein Schwein, aber eines von der jüngeren und schlankeren Sorte. Die Neuigkeit war via Twitter innerhalb eines Tages um die Welt geeilt. Ja, auch als Schwein hatte man es nicht leicht mit den Männern und mit der Liebe. Arme Miss Piggy. Irgendwie tat sie mir leid. Nach all den Jahren so abserviert zu werden, hatte sie dann doch nicht verdient, egal, wie oft sie Kermit vor laufender Kamera verhauen hatte. Wer weiß, vielleicht hätte den beiden eine Paartherapie geholfen.

Vorsichtig wagte ich mich nun doch die drei Schritte bis an die Eingangstüre heran und spähte durch den Spalt, den der Windschutz freigab.

Das geschäftige Klappern von Geschirr drang zu mir durch, untermalt von Umberto Tozzi, der euphorisch eine wunderbare Frau namens Gloria besang. Die schwungvolle Melodie wurde von einem lauten Pfeifen aus der Küche begleitet. So ambitioniert das Pfeifen daherkam, so schräg war es auch. Der Verursacher traf nicht einen einzigen Ton, und sollte es sich bei dem Pfeifer um den Küchenchef handeln, hoffte ich, dass es um seine Kochkünste besser bestellt war.

Ich ließ meinen Blick weiter durch den Raum schweifen. Zu meiner Enttäuschung entdeckte ich am Ende der Bar weder einen lebensgroßen Frosch noch ein langhaariges Schwein, sondern zwei menschliche Wesen. Die bereits zuvor gesichtete dunkelhaarige Schönheit beugte sich zu einem gepflegten Mann hinüber, der hinter dem Tresen einer reich bestückten und bis unter die Decke verspiegelten Bar stand.

Um die schmalen Hüften trug der Mann enge, schwarze Hosen und die schmächtige Brust umhüllte ein makelloses weißes Hemd, dessen Kragen von einer weinroten Fliege veredelt wurde. Der Mann war beinahe so groß wie mein Vater. Sein hellbraunes Haar trug er zu einer schwungvollen Tolle frisiert. Man konnte ihn für einen Star halten, entsprungen den 50er oder 60er Jahren und es hätte mich nicht verwundert, wenn er nach einem Mikrofon gegriffen und zum Rhythmus der Musik seine Hüften geschwungen hätte.

„Wenn ich es dir sage! Du darfst dich um die Neue kümmern.“ Der Mann nahm ein Tuch in die Hand und griff mit der anderen nach einem Weinglas, um es zu polieren, obwohl es bereits funkelte, als wäre es aus reinstem Kristall. Nun hielt er es mit einem kritischen Blick gegen das Licht. Er schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein, denn er stellte das Glas hinter sich in das Regal.

Sollte meine Mutter ihm jemals begegnen, würde sie sich Hals über Kopf in ihn verlieben und ihn, wenn schon nicht zu ihrem jüngeren Geliebten, so doch zu meinem Bruder machen, indem sie ihn vom Fleck weg adoptierte.

Die Dunkelhaarige verzog ihr hübsches Gesicht. „Sven, wieso ich schon wieder? Immer arbeite ich die Leute ein, obwohl ich selbst nur zur Aushilfe hier bin. Außerdem habe ich mich so auf die Schicht mit Max gefreut!“

„Tut mir leid, Eva. Ab sofort ist Max der Anke zugeteilt.“

„Anke! Wieso bekommt ihn jetzt diese dämliche Kuh?“ Eva trat wütend gegen das Holz des Tresens.

Ich zuckte zusammen, so als hätte ihr Fuß nicht die Bar, sondern mein ohnehin schon ramponiertes Schienbein getroffen. Die Wortwahl und das Verhalten wollten nicht so recht zu dieser schönen Frau und auch nicht in das edle Ambiente des Restaurants passen und so offensichtlich es war, dass meine Mutter Sven in unsere Familie aufnähme - Eva würde sie in die Wüste verbannen, und zwar in eine Wüste, die praktischerweise auf dem Mond zu finden war.

„Wo ist er?“ Evas dunkle Augen funkelten.

„Wer?“

„Stell dich nicht blöder an als du bist! Der Sillich natürlich.“

„Ach so, der Chef. Tja, der ist vor ein paar Minuten mit dem Taxi weg.“

„Und wann kommt er wieder?“

„Heute nicht mehr!“

„Porco Dio! So ein feiger Hund. Aber wenn er denkt, er kommt so leicht davon, dann hat er sich geschnitten.“

Sven lehnte sich über den Tresen und ich erwartete, dass er seiner Kollegin besänftigend über die Wange streicheln würde. Stattdessen zog er ihr an einer Locke.

„Lass das! Du weißt, dass ich das nicht leiden kann“, fauchte sie und schlug seine Hand weg.

Sven guckte beleidigt, aber nur kurz, dann nahm er das nächste Glas in die Hand, dem er eine ordentliche Politur verpasste.

Eva indessen kletterte auf einen der mit Leder bezogenen Hocker. „Da hilft alles nichts. Gib mir etwas von dem Stoff!“, sagte sie.

„Bist du verrückt? Noch vor der Arbeit?“ Entsetzt griff sich der Barkeeper in die Tolle, die die Attacke jedoch auf wundersame Weise überstand. Ein Hoch auf alle Haarsprayhersteller!

„Sven, halt die Klappe und mach einfach! Ich habe wohl allen Grund dazu, mir etwas reinzuziehen. Immerhin bin ich die Leidtragende.“

„Hättest halt den Apfel nicht essen sollen“, sagte er, schob ihr aber dennoch bereitwillig ein in Stanniol gewickeltes Päckchen über den Tresen.

„Was für einen Apfel soll ich gegessen haben?“

„Na, E-V-A!“

„Ach, D-E-N Apfel!“ Die Dunkelhaarige griff nach dem Päckchen und wickelte andächtig den Inhalt aus, der jedoch von ihrem prallen Busen verdeckt wurde. „Ich dachte, die Strafe für den Biss in den Apfel war die Vertreibung aus dem Paradies und dass die Frauen die Kinder unter Schmerzen gebären müssen und so ein Quatsch. Das reicht doch wohl! Wieso muss ich zusätzlich neue Leute einarbeiten?“

„Weil du keine Kinder hast! Du bekommst die Neue und die Arbeit und den Stress, den sie mitbringt. Von dem Ärger mal ganz abgesehen. Der alte Herr da oben kriegt dich doch.“ Sven grinste breit und wandte seine Augen andächtig zur Decke, die Hände zum Gebet gefaltet. „Gerade dich als erzkatholische Italienerin hat er besonders im Auge.“

Natürlich, sie war Italienerin! Das erklärte nicht nur ihr umwerfendes Äußeres, sondern auch ihr aufbrausendes Temperament.

„Du bist so ein Arsch, weißt du das? Ich will noch mehr!“ Eva streckte fordernd die Hand aus.

„Du willst mehr? Spinnst du?“ Sven ließ seinen Blick durch das leere Lokal schweifen. Seine Augen verharrten an der Eingangstüre.

Ich zuckte zurück. Was, wenn er mich gesehen hatte? Immerhin waren hier Drogen im Spiel und die wenigsten Menschen verstanden Spaß, wenn sie damit erwischt wurden. Wie schnell konnte es da zu einer Kurzschlussreaktion kommen? Ich sah keinen Grund, warum das bei Sven und Eva anders sein sollte.

Eva war ja bereits nur schon deshalb wütend, weil sie nicht mit Max arbeiten durfte und wenn dieser Umstand ausreichte, um sie in Rage zu bringen, was würde geschehen, wenn sie bemerkte, dass ich sie belauscht hatte? Sie und Sven würden nicht lange fackeln. Ohne mit der Wimper zu zucken würden sie mir den Garaus machen, mich anschließend mit dem Küchenbeil zerlegen und meine sterblichen Überreste hinter den Abfalltonnen verscharren. Selbst eine intensive Suche nach mir würde erfolglos bleiben und wenn die Polizei käme, um nach mir zu fahnden, würden Eva und Sven so tun, als wären sie mir nie begegnet.

Wie war der Name, sagten Sie? Pauline Waldmann? Sie soll sich hier bei uns vorgestellt haben? Ich habe keine Ahnung. Eva, weißt du, wovon der Herr Kriminalkommissar spricht?

Aber nein, Sven! (Unschuldiges Augenklimpern!) Ich weiß genau so wenig wie du. Das arme Mädchen! Es wird doch wohl nichts Schlimmes passiert sein.

Ich wagte kaum zu atmen und lauschte auf sich mir nähernde Schritte, aber nichts passierte. Meine Neugierde brachte mich fast um und siegte schließlich über meine Angst. Ich konnte nicht anders, als ein weiteres Mal durch den Schlitz zu spähen. Gerade rechtzeitig sah ich, wie der Barmann Eva ein neues Täfelchen über den Tresen schob.

Damit war die Angelegenheit für mich erledigt. Ich würde ganz bestimmt nicht in einer Drogenhöhle arbeiten. Mit Drogen hatte ich schon in der Schule Probleme gehabt und nicht etwa, weil ich sie ausprobiert hatte, sondern, weil ich damit überhaupt nichts anfangen konnte. Meine Weigerung, auch nur einmal an einer Tüte zu ziehen, hatte zur Folge gehabt, dass alle angesagten Leute der Oberstufe mich zur Spaßbremse erklärten und ich von niemanden mehr eingeladen wurde. Wenn ich ehrlich bin, wurde ich schon in den Jahren zuvor nicht wirklich wahrgenommen. Irgendwie schien es mein Schicksal zu sein, nie viele Freunde zu besitzen und wenn wir schon mal dabei sind, die Karten auf den Tisch zu legen, kann ich gleich die ganze Wahrheit erzählen. Noch nicht einmal im Kindergarten oder in der Grundschule hatte ich eine beste Freundin besessen und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

„Du bist total abhängig von dem Zeug. Das ist so widerlich, weißt du das?“ Sven schüttelte sich und verzog das Gesicht.

„Chiudi la bocca!“ Eva streckte ihm die Zunge heraus. „Ich brauche meine Ration Tryptophan! Und wehe, du petzt, dass du immer nur mir die Schokolade gibst und die Gäste keine bekommen, wenn sie einen Kaffee bestellen.“

Schokolade? Hatte die Italienerin gerade Schokolade gesagt? Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Sven betrachtete Eva spöttisch, aber wenn man ganz genau hinsah, bemerkte man die Zärtlichkeit, die sich in sein Gesicht geschlichen hatte.

Eva schob sich das zweite Täfelchen in den Mund und kaute genüsslich. „Wisch dir das Grinsen aus dem Gesicht!“

„Nö, warum denn?“

„Ist sie denn schon da?“ Die mit Schokolade verschmierten Finger wurden hingebungsvoll abgeleckt.

„Wen meinst du? Etwa die Schokoladenfee?“

„Schön wär's! Nein, die Neue!“

„Siehst du jemanden?“ Sven verschloss die Dose, die die süße Köstlichkeit beinhaltete und stellte sie zurück ins Regal, nicht ohne zuvor den Deckel gründlich mit einem Lappen zu bearbeiten, darauf bedacht, jede noch so kleine verräterische Spur zu beseitigen.

„Was? Sie ist noch nicht da? Madonna, das fängt ja gut an!“ Eva warf einen Blick auf die große Uhr an der gegenüberliegenden Wand.

Die Uhr war ausnehmend imposant und würde sich auch am Kölner Hauptbahnhof gut machen, um den Reisenden zu verkünden, was die Stunde geschlagen hatte und dass es Zeit wurde, die Beine in die Hand zu nehmen, wollte man den Zug noch rechtzeitig erwischen.

Hier im Restaurant jedoch erfüllte die Uhr einen völlig anderen Zweck. Sie läutete meinen nahenden Untergang ein.

„Wahrscheinlich hat sie noch nie in einem Restaurant gearbeitet und vom Service keinen blassen Schimmer, kommt dafür aber direkt am ersten Tag zu spät! Gut, dass wir heute nur wenige Reservierungen haben. Ich gehe mich jetzt umziehen. Wenn sie kommt, mach mit ihr, was du willst.“ Eva sprang vom Hocker.

Hallo! Ich war doch schon längst da und auf keinen Fall war ich zu spät, dafür hatte meine Mutter gesorgt, indem sie mich viel zu früh aus dem Haus geschoben hatte, aber wenn ich jetzt in das Lokal hineinginge, könnten die beiden an meinem Gesicht ablesen, dass ich sie belauscht hatte. Notgedrungen würde ich noch ein paar Minuten vor der Tür warten müssen. Das war jetzt wirklich zu blöd.

„Ach Eva! Was ich dir noch sagen wollte.“ Sven grinste breit.

„Was denn?“

„Nun, was die Reservierungen angeht. Vor einer halben Stunde sind noch weitere Buchungen hereingekommen. Wir sind voll belegt.“

Eva starrte ihn einige Sekunden grimmig an, dann streckte sie ihm ihr pralles Hinterteil entgegen. „Vaffanculo!“ sagte sie.

„Du mich auch!“, grinste Sven.

„Hallo?“

„Hallo!“

„Ähm, ich bin Pauline. Pauline Waldmann. Ich soll mich hier melden.“

„Ja, ich weiß!“ Sven musterte mich kurz, polierte dann aber in aller Seelenruhe das Spülbecken weiter.

Ich trat von einem Fuß auf den anderen und fühlte mich wie ein neu gebackenes I-Dötzchen, das sich im Klassenzimmer geirrt hatte und nun unerwartet vor einer Gruppe cooler Viertklässler stand, die weder Mitleid empfanden, geschweige denn daran dachten, ihm den Weg zu zeigen und stattdessen lieber mit Papierkügelchen nach ihm warfen.

Verstohlen blickte ich mich im Lokal um. Von der Italienerin fehlte jede Spur und auch sonst war niemand zu sehen, auch wenn das emsige Klappern aus der Küche unvermindert anhielt. Das schräge Pfeifen hatte jedoch ein gnädiges Ende gefunden. Ich bezweifelte, dass dies der Einsicht des Pfeifers zu verdanken war. Viel wahrscheinlicher schien es, dass jemand aus purer Notwehr zum Nudelholz gegriffen hatte. Bei der Bemessung des Strafmaßes konnte derjenige zweifelsfrei auf mildere Umstände hoffen.

In meiner Situation half mir diese Überlegung leider nicht wirklich weiter, denn nun drang zwar kein Pfeifen mehr aus der Küche, dafür entströmten durch den Spalt der angelehnten Tür vielfältige Düfte, die mir verführerisch in der Nase kitzelten und meinen hungrigen Bauch aufforderten, laut zu rumoren, so als hätte ich noch vor wenigen Minuten ein Kilo Brausepulver verputzt.

Aber auch das konnte Sven nicht beeindrucken. Er ignorierte mich weiter.

War denn sonst niemand da, der mir helfen konnte? Jemand, der sich meiner annahm und der sich dafür interessierte, dass ich mir vor Angst beinahe in die Hose machte? Ratlos sah ich mich um.

In mein Blickfeld geriet ein liebevoll eingerichtetes Aquarium, dessen farbenprächtige Bewohner munter hin und her schwammen. Ich hatte keine Ahnung von Aquaristik, aber dieses Aquarium sah nicht nur sehr gepflegt aus, es musste auch ein Vermögen gekostet haben. Gelassen schwammen die Fische von links nach rechts und wieder zurück, vollkommen eins mit sich und ihrer stummen, bunten Welt. Anscheinend hatte Sven zu viel Zeit mit ihnen verbracht und ihre Haltung gegenüber Fremden adaptiert. Ich betrachtete ihn verstohlen. Vielleicht wuchsen ihm ja bereits Kiemen. Nein! Da war nichts an den glatt rasierten Wangen zu entdecken, aber leider entdeckte ich auch immer noch kein Interesse an meiner Person.

Nur der Gedanke an meine Eltern und die Enttäuschung, die ihnen ins Gesicht geschrieben sein würde, ließ mich neuen Mut schöpfen und einen weiteren Versuch wagen. „Hallo?“

„Hallo!“

„Ähm, ja, also, ich soll mich hier melden.“

„Ja, das sagtest du bereits.“ Gelassen polierte Sven das Spülbecken weiter. Warum zum Teufel tat er das? Es glänzte doch bereits wie ein nächtlicher Sternenhimmel in der afrikanischen Wüste. Besser konnte man es wirklich nicht hinbekommen und wenn er nicht aufhörte, mit dem Lappen zu wischen, würde er bald das Material durchgescheuert haben – Edelstahl hin oder her.

Als hätte Sven meine Gedanken erraten, legte er den Lappen zur Seite und trocknete sich die Hände sorgfältig an einem makellosen Tuch ab.

Eine vage Hoffnung keimte in mir, dass er sich endlich meiner annehmen würde, doch statt um den Tresen herumzukommen und mir die Hand zu reichen, was ja wohl das mindeste an Höflichkeit gewesen wäre, griff er nach einer gelben Dose und ging achtlos an mir vorbei.

„Na kommt schon, Jungs! Jetzt gibt es was zu futtern!“ Er rappelte mit der Dose.

Wie auf Kommando sausten die Fische heran und, ich traute meinen Augen kaum, sie fraßen Sven aus der Hand.

„Carreras! Domingo! Immer schön der Reihe nach. Pavarotti, du verfressener Sack! Lass der Callas auch noch was, sonst ist die wieder eingeschnappt!“, schimpfte er, aber es klang nicht wirklich böse. Nachdem alle Fische versorgt waren, schloss Sven behutsam den Deckel des Aquariums und trocknete sich erneut die Hände an dem Tuch ab. Anschließend schmiss er es im hohen Bogen in einen Wäschekorb und trat wieder hinter den Tresen.

Mich behandelte er weiterhin wie Luft.

Jetzt war aber genug! Wenn ich nicht willkommen war, würde ich wieder gehen! Meine Eltern konnten mir nicht den Vorwurf machen, ich hätte es nicht versucht, und dass es auch dieses Mal nicht geklappt hatte, war nun wirklich nicht meine Schuld.

Doch bevor ich mich wie ein geprügelter Hund aus dem Lokal schleichen konnte, trat die Italienerin aus einer Tür im hinteren Bereich. Augenblicklich füllte sich der Gastraum mit ihrer Energie, die durch meinen Körper strömte. So musste es sich anfühlen, wenn man mit beiden Händen in eine Steckdose griff, während man knietief im Wasser stand.

Evas schwarze Lockenpracht, die zuvor noch über ihre Schultern geflossen war, wurde jetzt mühsam von einem breiten Haargummi im Nacken zusammengehalten. Die großen, dunklen Augen mit den langen Wimpern dominierten das herzförmige Gesicht und zogen die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich, aber nur so lange, bis man seinen Blick auf die vollen Lippen lenkte. Alles an dieser Frau pulsierte vor Leben und war in reichhaltiger Fülle vorhanden.

Ohne es verhindern zu können, starrte ich auf Evas enormen Busen, der bei jedem Schritt auf und ab wogte und über den sich jetzt eine schicke weinrote Bluse spannte. Ebenso wie das Haargummi gaben die Knöpfe alles, um den Kampf gegen die Fülle zu gewinnen und die weiblichen Rundungen im Zaum zu halten. Es war fraglich, ob sie am Ende des Abends als Sieger hervorgehen würden. Hüfte und Beine wurden von einer langen, schwarzen Schürze bedeckt, auf der in einem schrägen weinroten Schriftzug der Name des Restaurants prangte. Bellini stand da. Das sah gleichzeitig schick und ungemein sexy aus.

„Starr nicht so auf meine mammellas!“

„Was?“

„Du sollst mir nicht so auf die Titten glotzen.“

Mir schoss das Blut in den Kopf. „Mach ich doch nicht.“

Die Italienerin blieb direkt vor mir stehen. „Du fängst also heute bei uns an?“

Ich nickte hektisch.

„Wie heißt du?“

„Pauline.“

„Irgendwelche Erfahrungen im Service?“

Ich schüttelte den Kopf, doch dann hielt ich inne und nickte zögernd.

„Okay, was hast du gemacht?“

„Ich habe mal bedient.“

„Immerhin etwas! Wo?“

„Bei meinen Eltern. Als mein Vater seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hat.“

„Du nimmst mich auf den Arm?“

„Nein! Mache ich nicht!“, versicherte ich hastig. „Meine Eltern hatten zu der Feier fünfzig Gäste eingeladen und ich habe dafür gesorgt, dass jeder etwas zu trinken bekam. Zumindest am Anfang, danach haben sich alle selbst bedient. Onkel Herbert, das ist der Mann von Tante Isolde, hat dann aber wie immer zu viel getrunken, weil ihn keiner kontrollieren kann und dann hat er in die Bodenvase gekotzt. Das fand Mama überhaupt nicht witzig, weil sie denkt, er hätte es mit voller Absicht getan und Tante Isolde hätte ihn dazu angestiftet, obwohl sie Papas Schwester ist. Die Bodenvase hat meine Mutter anschließend in den Müll geworfen. Ich glaube, sie hätte Tante Isolde gerne hinterher geschickt.“

Die Italienerin glotzte mich an, als würde mir etwas aus dem Kopf wachsen, ein dreiköpfiger Wurm vielleicht, der Horch, was kommt von draußen rein jodelt oder etwas anderes Merkwürdiges, dabei kann ich beschwören, dass sich die ganze Geschichte genau so zugetragen hat.

Aufreizend langsam drehte sich Eva zu Sven um.

Der stand mit hochrotem Kopf hinter dem Tresen und nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, nicht laut loszuprusten.

Warum eigentlich? Hatte ich denn etwas Lustiges gesagt? Mama fand Onkel Herberts Ausrutscher nämlich überhaupt nicht witzig.

„Ich bring den Sillich um!“ Evas ohnehin schon heisere Stimme klang jetzt beinahe verbrannt.

„Ich könnte es doch wenigstens mal versuchen?“ Bevor ich die Worte zurückhalten konnte, huschten sie wie kleine Mäuse über meine Lippen und entschwanden in die Welt.

Eva musterte mich skeptisch, so als würde der Wurm, der aus meinen Kopf ragte, nun auch noch auf einem Schifferklavier spielen. „Was soll ich mit dir anfangen, hä? Kannst du mir das mal sagen?“

Nein, das konnte ich nicht.

Sie zuckte mit den Schultern. „Nun gut, es ist deine Entscheidung, aber eines sag ich dir und schreib dir das hinter die Ohren. Als Gott die Geduld verteilte, stand ich bei den Äxten an.“ Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und da ich immer noch nicht mein Heil in der Flucht suchte, gab sie sich endlich geschlagen. „Was soll's? Du musst dich vorher umziehen.“ Mit kritischen Augen scannte sie meinen Körper. „Ich nehme mal an, du bist eine ekelhafte 38.“

„Ähm, nein, 36!“

Eva funkelte mich an. Ihr Blick sagte es klipp und klar.

Sie war die Schlange und ich – ich war das Kaninchen.

„Jetzt schau dir das mal an! Ich wette meinen Arsch darauf, der nächste Gast, der sie anspricht, schlägt sie in die Flucht.“

Eva lehnte am Tresen und beobachtete mich und es war ihr vollkommen egal, dass ich jedes ihrer Worte hören konnte.

So sehr mich ihre Äußerung verletzte, musste ich ihr wohl oder übel recht geben, denn ich huschte an den Tischen der Gäste vorbei, wie das von mir favorisierte Schlossgespenst.

Obwohl ich nun ebenfalls mit einer weinroten Bluse und einer schwarzen Schürze ausgestattet war, erzielte ich noch nicht einmal annähernd die Wirkung, die die quirlige Italienerin erreichte. Ich hatte keinen Blick auf das Etikett geworfen und deshalb verdächtigte ich Eva, mir absichtlich eine zu große Bluse gegeben zu haben, denn der Stoff hing schlaff von meinen Schultern herab. Ich glich verdächtig einem Frettchen im Morgenmantel nach einer durchzechten Nacht und genau so fühlte ich mich auch.

Meine äußere Erscheinung war aber kaum von Belang, denn die Gäste nahmen so gut wie keine Notiz von mir und riefen selbst dann nach Eva, wenn ich direkt neben ihren Tischen stand.

„Das wird nix!“ Auch Svens Urteil stand nach kurzer Zeit fest. „Außerdem hat sie ein Kind, hat der Chef gesagt. Sie kann noch nicht einmal spontan einspringen, wenn einer von uns ausfällt.“

„Sie hat ein Kind? Und dann ist sie eine 36? Stupida mucca!“

Was bitteschön war eine stupida mucca? Wenn es schon sein musste, konnte Eva mich wenigstens auf Deutsch beschimpfen. Aber nein, den Gefallen tat sie mir natürlich nicht. Stattdessen stopfte sie sich den Rest Schokolade in den Mund, die sie von Sven in Dauerschleife serviert bekam und kaute wild darauf herum, als könne sie mir auf diese Weise ein paar Kilo mehr auf die Hüften zwingen.

„Du siehst einfach göttlich aus, wenn du so geladen bist. Ich könnte dich knutschen“, sagte Sven.

„Wir wissen beide, dass das nie im Leben passieren wird.“

„Na und? Ich steh halt nur auf Möpse mit vier Beinen.“

„Ach, chiudi la bocca!“

So war das also. Hätte ich mir denken können, dass Sven schwul war. Es war weniger sein gepflegtes Äußeres und seine gezierte Haltung oder die näselnde Stimme, die ihn verriet, nein, eigentlich war es viel simpler. Für einen Mann roch er einfach zu gut. Es war ein herber und dennoch sanfter Duft, den er allerdings für meinen Geschmack ein bisschen zu großzügig aufgetragen hatte. Trotzdem roch er ungemein lecker. Der Geruch erinnerte an eine frisch zubereitete Zabaglione und ich nahm jedes Mal einen tiefen Atemzug, wenn ich bei ihm die Getränke abholte.

„Jetzt schau dir mal an, wie sie das Geschirr abräumt“, lästerte Eva. „Erinnert mich irgendwie an eine Giraffe auf einem Drahtseil. An eine blinde Giraffe mit drei Beinen und Ischias im Rücken.“

Jetzt war aber mal Schluss! Immerhin ließ ich das Geschirr nicht fallen. Es kränkte mich, dass sie mir noch nicht einmal ein wenig Anerkennung zollten. Schließlich war das mein erster Tag und ich gab mir wirklich Mühe.

Außerdem mochte ich Giraffen.

„Du bist böse“, grinste Sven dämonisch.

„Ich?“ Eva klimperte unschuldig mit ihren großen Augen. „Ich bin doch nicht böse, aber sagen wir mal so, als Gott mich schuf, brachte er mich zum Teufel und sagte: Das ist jetzt dein Problem.

„Und ich wette, der Teufel sitzt immer noch in der Ecke und weint“, kicherte Sven.

Eva steckte sich genüsslich ein weiteres Täfelchen Schokolade in den Mund.

„Jetzt ist aber mal Schluss mit der Nascherei“, schimpfte Sven, „sonst musst du dir morgen einen neuen BH kaufen.“

„Ach was, der passt morgen auch noch. Hast du mal darüber nachgedacht, dass es vielleicht nicht die Schokolade ist, die dick macht? Vielleicht ist das alles nur eine riesige Verschwörung und es ist doch das Leitungswasser“, erwiderte Eva, die schnell ein letztes Mal in die Dose griff, bevor Sven sie vor ihr in Sicherheit bringen konnte.

Sven klopfte ihr dennoch auf die Finger. „Wenn ich nicht auf dich acht geben würde, nähme es ein böses Ende mit dir. Dann müsstest du dir morgen tatsächlich keinen neuen BH kaufen, sondern einen Hulla-Hopp-Reifen und stell dir vor, wie betrübt du sein würdest, wenn er dir passt.“

„Du bist so ein Arsch!“

Sven nickte grinsend.

„Für wen ist das?“ Eva zeigte auf die Getränke, die Sven geschickt auf einem Tablett arrangierte.

„Für die Deppen an Tisch Acht.“ Mit einem Plopp entkorkte Sven eine exquisite Flasche Chardonnay, band eine weinrote Stoffserviette um den Flaschenhals und stellte sie zu den Gläsern auf das Tablett.

Dann griff er nach einer Wasserflasche.

Unter dem gebannten Blick meiner neuen Kollegen balancierte ich das Tablett zu Tisch Acht. Ich betete um ein Wunder, dass ich unbeschadet dort ankam – und - das Wunder geschah.

Aufatmend setzte ich das Tablett auf der Tischkante ab und verteilte die Gläser an die Gäste. Die Männer hatten die Ärmel ihrer Anzüge hochgekrempelt und die Krawatten etwas gelockert.

Die Frauen, ebenso perfekt gekleidet in sehr schicken und noch teureren Kostümen, schauten gelangweilt und stocherten in ihrem Essen herum, ohne die Gabeln wirklich an den Mund zu führen. Ihre Gesichter waren glatt und teilnahmslos, dabei waren sie eindeutig jünger als ich und gingen bestimmt noch in die Oberstufe, wo sie Mitschüler und Lehrer mit ihrer Arroganz und mit ihrem Geld drangsalierten, so als gehöre ihnen die Welt. Mich, die unsichere Bedienung, ignorierten sie schlichtweg.

Mit zittriger Hand schenkte ich den Wein ein. Dann stellte ich die Flasche Wasser auf den Tisch. Ich hatte mich erst drei Schritte vom Tisch entfernt, da riefen sie nach mir.

„Hallo! Du da! Komm noch mal zurück!“

Wie ein ferngesteuertes Hündchen folgte ich dem Befehl.

„Was ist das denn für ein Laden? Bekommen wir kein Wasser eingeschenkt?“, motzte einer der Männer.

„Doch natürlich! Entschuldigung!“ Hastig griff ich nach der Wasserflasche, während die Gäste mich kurz musterten.

Da ich weder Interesse noch Sympathie in ihren Blicken entdeckte, war ich umso erleichterter, als sich die Männer erneut in ihre Diskussion vertieften und ihre weiblichen Begleitungen die Gabeln in das Essen stießen. Mittlerweile erinnerten die Fleischstücke auf ihren Tellern an einen traurigen Hasen, der einer Schrotflinte zu nahe gekommen war.

„Die Show kann beginnen“, hörte ich Eva sagen, konnte mir aber beim besten Willen keinen Reim darauf machen, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte. Ich hatte genug damit zu tun, die Wasserflasche zu öffnen. Leider war auf dem Tisch kein Platz mehr, um das Tablett ablegen zu können. Deshalb klemmte ich es mir unter den Arm.

Ich versuchte, die Flasche zu öffnen. Das schwere, dunkelgrüne Glas war kalt und beschlagen und hinterließ auf meiner Bluse unansehnliche Flecken, doch so sehr ich mich auch bemühte, der Verschluss bewegte sich keinen Millimeter.

Verdammt, er saß aber auch fest!

Wie die hungrigen Zähne eines Piranhas gruben sich die Rillen des Metalls in meine Haut. Ob ich einen der Männer fragen sollte, mir zu helfen? Nein, besser nicht! Sie würden mir wohl eher die Flasche an den Kopf werfen, und zurück zu Sven zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten, traute ich mich auch nicht. Ich musste es irgendwie allein schaffen.

Ich krallte die Hand fester um das Metall, biss die Zähne zusammen und drehte am Verschluss!

Nichts!

Nun mach schon, du blödes Ding!

Immer noch nichts.

Doch jetzt!

Endlich!

Mit einem Ruck löste sich der Deckel.

Ein zischendes Geräusch drang an mein Ohr, gefolgt von einem unheilvollen Gurgeln.

Dann folgte eine wahre Explosion.

Die Wasserfontäne, die der Flasche entstieg, reichte fast bis zur Decke. Dort angekommen, besann sie sich der Schwerkraft und stürzte in einem perfekten Bogen zurück nach unten.

Das kühle Nass landete auf dem Kopf der Frau, die zu meiner Linken saß, ohne dass sie eine Chance gehabt hätte, dem Wasser auszuweichen.

Kreischend sprang sie auf. „Meine Haare! Meine Haare!“, schrie sie so hysterisch, dass man meinen könnte, sie stünde lichterloh in Flammen.

Ihr Schreien ging in dem wütenden Bellen einer Französischen Dogge unter. Wie ein geölter Blitz stürmte der Hund unter dem Tisch hervor, prallte gegen mich und holte mich von den Füßen. Um mein Gleichgewicht zu halten, riss ich die Hände in die Höhe. Das Tablett, welches immer noch unter meinem Arm klemmte, flog wie ein Frisbee nach vorne und landete einem der beiden Männer mitten im Gesicht. Blut spritzte aus seiner Nase.

Sofort sprang sein Freund auf die Füße, um ihm zu helfen, eine heldenhafte Tat, sicherlich, doch anstatt der vermeintlichen Serviette, die er seinem Freund zu reichen gedachte, erwischte er das Tischtuch. Mit lautem Getöse stürzten Besteck, Gläser und Teller auf den Boden, gefolgt von den Kalbsschnitzeln und den Rosmarinkartoffeln. Durch das Olivenöl angefeuert lieferten sich die veredelten Knollen mit dem toten Fleisch ein Rennen und schlitterten über den Boden.

Das ließ die Französische Dogge nicht unbeeindruckt. Sie flitzte den Fleischstücken hinterher. Den Kartoffeln hingegen schenkte sie keine Beachtung. Zu ihrem kulinarischen Glück fehlten nur noch zwei bis drei Schnauzenlängen. Doch nein! Die Dogge war mit der Leine an einem der Tischbeine befestigt und wurde unsanft zurückgerissen, noch bevor sie ihre Zähne in das Fleisch schlagen konnte. Das ohnehin schon reichlich zerknautschte Gesicht zerknitterte für einen Moment noch mehr. Doch die Dogge war ein Kämpfer oder sie war einfach nur wahnsinnig verfressen, jedenfalls dachte sie überhaupt nicht daran, so schnell aufzugeben. Sie zog und zerrte an der Leine und stemmte sich mit ihrem bulligen Körper in das Leder.

Dem Tisch, der bis dahin noch tapfer Widerstand geleistet hatte, blieb nun nichts anderes übrig, als dem Drängen nachzugeben und knirschend zu folgen.

Sein Weg endete bei dem 200 Liter Aquarium, in dem das Möbelstück einen Verbündeten erkannte. Munter verhakte es sich mit dem Gestell, welches, unter einem samtenen Tuch verborgen, nichts mit der Luxusausführung des Aquariums gemein hatte. Vielmehr handelte es sich um ein Gestell von der Sorte, das verschämt in der Ramschecke eines Billig-Möbel-Centers zu finden ist und weil es so wenig Anerkennung erfuhr, gab es sich keine Mühe, stabil zu wirken. Es wankte kurz, bevor es schließlich nachgab und donnernd zu Boden fiel. Dem Aquarium blieb nichts anderes übrig, als dem Gestell zu folgen. Auf wundersame Weise zerbrach das dicke Glas nicht. Lediglich der Deckel sprang auf, so dass sich unzählige Liter Wasser mitsamt seinen Bewohnern in das Lokal ergossen.

Die Fische, ihres Miniaturparadieses beraubt, schlugen heftig mit den Schwanzflossen und kämpften auf dem Boden um das nackte Überleben.

Verdattert stand der Hund vor den zuckenden Fischleibern. Seine Nase zuckte nervös. Hin und her gerissen zwischen den köstlich duftenden Kalbsschnitzeln und den sich windenden Fischen gewann letzten Endes der Jahrtausende alte Jagdinstinkt.

Die Dogge schnüffelte kurz, dann schnappte sie nach den glänzenden Meeresbewohnern.

Das Krachen der Zähne, die wieder und wieder aufeinander schlugen, drangen durch Mark und Bein.

„Hier! Für dich!“ Eva drückte mir zwei Scheine in die Hand.

„Für mich?“

„Ja, für dich. Dein Trinkgeld oder wie immer du es nennen magst.“

„Mein Trinkgeld?“

„Ja, hier wird immer geteilt, egal wie die Schicht gelaufen ist oder wie dämlich man sich angestellt hat. Das ist dein Anteil.“ Eva ließ mich stehen und verschwand im Personalraum. Sie sah ziemlich mitgenommen aus, was jedoch kein Wunder war, waren wir doch alle ziemlich ramponiert.

Von den dreizehn Aquariumbewohnern hatten wir lediglich vier retten können und einem dieser vier, es war Pavarotti wie Sven feststellte, fehlte auch noch ein Stück der Rückenflosse. Trotzdem schwamm er tapfer in dem trüben Wasser umher. Ein Veteran, von der Schlacht gezeichnet, doch noch lange nicht geschlagen.

Carreras, Domingo und auch die Callas hatten es nicht geschafft. Trotz intensiver Suche hatten wir lediglich einzelne Stücke von ihnen gefunden. Wenn man es genau nehmen wollte, fanden wir von der Callas nur noch einzelne Schuppen.

Mehr als zwei Stunden waren nötig gewesen, um das Chaos zu beseitigen.

Die Gäste von Tisch Acht hatten wutentbrannt das Lokal verlassen, nicht ohne uns vorher wüst zu beschimpfen und drastische Konsequenzen anzudrohen. Schließlich sei man Studenten der Rechtswissenschaften und kenne sich aus. Sieh an! Die Milchgesichter besuchten also bereits die Uni. Wer hätte es gedacht?

Die Studenten waren Eva scheißegal. Genau das waren ihre Worte, aber Herr Sillich würde uns allen den Kopf abreißen und ihren gleich zweimal. Das war so sicher, wie der Papst Evas Konfession teilte und nachdem Herr Sillich Evas Kopf abgerissen hatte, würde er sie in den Boden stampfen, wieder ausgraben, und das auch nur, um sie im hohen Bogen hinauszuwerfen. Den Job war sie los.

Ich fühlte mich, als wäre ich selbst zwischen die Zähne der Dogge geraten.

Es war einfach nur deprimierend. Ein weiteres Mal hatte ich alles vermasselt. Eine weitere Chance vertan.

Dabei hätte es mir gefallen können, in diesem Lokal zu arbeiten. Traurig betrachtete ich die zwei Zehn-Euro-Scheine in meiner Hand. Was für eine wunderbare Vorstellung wäre es, jeden Abend ein solches Trinkgeld zu bekommen. Ich könnte Matti so viele Wünsche erfüllen. Er hätte es verdient.

Eva kam mit einem Verbandskasten zurück. Sie würdigte mich keines Blickes, sondern setzte sich auf einen Hocker und verband Svens Hand mit einem imposanten Verband. Ein einfaches Pflaster hätte es wahrscheinlich auch getan, denn Sven hatte sich lediglich beim Aufsetzen des Aquariumdeckels die Haut gequetscht, aber er jammerte und benahm sich, als müsse die Hand amputiert werden.

Noch einmal blickte ich zum Aquarium. Richtig verwaist sah es nun aus. Die einstmals liebevoll gestaltete Unterwasserwelt hatten wir nicht mehr in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen können. Das Szenario glich nun eher einer Oase, die von einem heftigen Sandsturm heimgesucht worden war. Ich konnte den Anblick kaum ertragen und ging zur Tür.

Weder Eva noch Sven reagierten auf meinen Abgang und auch ich verkniff es mir, mich von ihnen zu verabschieden. Was hätte ich auch sagen sollen? AUF WIEDERSEHEN? WAR SCHÖN MIT EUCH? Nein, ganz bestimmt nicht.

„Halt deine Hand höher!“, schimpfte Eva.

Sven reagierte nicht.

„Nun mach schon! Ich will nach Hause und in mein Bett kriechen, damit ich diesen Tag so schnell es geht vergessen kann.“

„Ich glaube, wir waren nicht sehr nett zu ihr“, hörte ich Sven sagen.

„Porco Dio! Spinne ich? Das Ganze sollte nur ein Scherz sein. Konnte ja keiner wissen, dass sie so eine Nummer daraus macht.“

Ich öffnete die Tür. Es sollte also ein Scherz gewesen sein. Komisch, dass mir nicht zum Lachen zumute war.

„Nein, wir waren nicht nett zu ihr“, widersprach Sven.

„Fällst du mir jetzt in den Rücken?“ Eva presste die Lippen zusammen und zog unsanft an seinem Verband.

Sven quiekte laut auf. „Mensch, sei doch vorsichtig!“

„Dann hör mit dem Gezicke auf!“

„Aber Eva, schau doch.“

Bevor ich auf die Straße trat, sah ich wie Sven auf den Tresen zeigte, auf dem verwaist meine zwei Zehn-Euro-Scheine lagen.

Schokoladenschwestern

Подняться наверх