Читать книгу Requiem für West-Berlin - Reginald Rosenfeldt - Страница 4
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ОглавлениеEin scharfer Ostwind, der direkt aus den „Weiten Russlands“ zu kommen schien, fegte gnadenlos die dünne Schneedecke von der Rollbahn des Flughafens Tempelhof. Wie bleiche Staubfahnen wirbelte er die Flocken empor und peitschte sie gegen den Rumpf des soeben gelandeten Pan Am-Clipper „Charlottenburg“.
Die vierstrahlige Boeing 707 parkte im Haupthangar des Airports, der normalerweise genügend Schutz vor dem Berliner Schmuddel-Wetter bot. Doch an diesem Nachmittag jagten die im Neonlicht glitzernden Eiskristalle sogar in die bereits geöffnete Vordertür des Clippers, so dass die dort wartende Stewardess unwillig das Gesicht verzog. Ihr hellblaues Kostüm mit dem knielangen Rock bot bei der unfreundlichen Witterung einfach nicht genügend Schutz, und der Wind riss ihr fast die Kappe mit dem kleinen Emblem von der perfekt gestylten Frisur.
Die rechte Hand auf die runde Kopfbedeckung gepresst, überspielte die zierliche Brünette ihr Missvergnügen mit einem antrainierten Lächeln, und wandte sich wieder den zum Auschecken bereiten Passagieren zu. Den wenigen Touristen stand noch der Schock der unruhigen Reise ins Gesicht geschrieben, während die graue Armee der Geschäftsleute völlig unbeeindruckt die Gurte öffnete. Ihre gelangweilten Mienen überraschte die Stewardess nicht sonderlich, denn einige der Herren hatten mit ihr schon weitaus heftigere Berlin-Flüge durchgestanden.
Nur einer der Männer, ein korpulenter Mittvierziger mit dem Habitus des typischen Vertreters, bewegte sich unruhig in dem für ihn viel zu engen Sitz. Mit einem gequälten Grinsen blickte er seinen geduldig abwartenden Nachbarn an. „Na, das war ja wieder mal eine elende Schaukelei! Ich verstehe einfach nicht, warum die Amis keinen stärkeren Druck auf die Russkis ausüben, damit wir die SBZ endlich in einer größeren Höhe überfliegen können.“
„Ja, heute war es wirklich etwas unruhig über der DDR.“ Der von dem Staubsauger-Vertreter aus Köln-Nippes angesprochene Mann besaß peinlicherweise einen amerikanischen Akzent. In aller Ruhe erhob er sich, und rückte mit dem Zeigefinger seine schwarze Hornbrille zurecht. Dann öffnete er das über dem Kopf befindliche Gepäckfach, zog einen Aktenkoffer heraus, und deutete auf den Gang. „Gehen Sie ruhig vor, ich werde abgeholt, da kommt es nicht auf die Minute an.“
„Ei, wirklich! Aber ansonsten, es ist schon eine Schande, dass die Luft-Hansa von der Berlin Route ausgeschlossen ist!“ Ungeniert nahm der Dicke die höfliche Geste zum Anlass, um weiter zu lamentieren, und als die Tirade einfach nicht enden wollte, unterbrach ihn der Amerikaner genervt: „Seien Sie froh, dass es wenigstens drei Fluggesellschaften erlaubt ist, West-Berlin durch die zugegebenermaßen ungünstigen Luftkorridore anzufliegen.“
Der Kölner wollte zu einer Entgegnung ansetzen, doch sein unfreiwilliger Gesprächspartner beendete in einem scharfen, keinen Widerspruch duldenden Tonfall das Gezeter: „Am besten, Sie reisen das nächste Mal mit der Bahn oder dem Bus nach Berlin; das wird ihnen gefallen, glauben Sie mir! Die Gepäckkontrollen der Vopos sind immer wieder ein Erlebnis!“
Das stichhaltige Argument ließ den Herrn der Staubsauger endgültig verstummen. Mit einem verächtlichen Schulterzucken quetschte er sich an zwei Frauen vorbei und verließ missmutig die Maschine. Weit hinter ihm rückte der Amerikaner erneut seine Brille zurecht, und schob sich gelassen dem Ausstieg entgegen. Als er ihn erreicht hatte, bedachte er die dort postierte Stewardess mit einem kleinen Lächeln. „Vielen Dank für den trotz allem sicheren Flug!“
„Das ist unser Anliegen, Pan Am wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“ Mit einem unmerklichen Seufzer blickte die junge Frau dem Fremden hinterher, der genau jenem Typ entsprach der sie schon immer angesprochen hatte. Wie ihre Ex-Lover besaß er eine schlanke, sportliche Figur, und seine Größe schätze sie auf ungefähr 1,90. Die vollen, dunklen Haare bändigte ein akkurater Linksscheitel und trotz seines jugendlichen Aussehens hatte er bestimmt schon den vierzigsten Geburtstag gefeiert.
Der derart taxierte Mann schlug inzwischen den Kragen seines dunkelblauen Wollmantels hoch und stieg vorsichtig die glatten Metallstufen der Gangway hinab. An ihrem Fuß knotete er den locker gebundenen Schal etwas fester, und folgte den vorangegangenen Passagieren durch den Hangar. Die Halle galt zusammen mit dem restlichen Flughafenkomplex für einige Zeit als das größte Gebäude der Welt, und an ihrer Längswand führte eine Steintreppe zur Passkontrolle empor, an der sich aber nur die Transitreisenden ausweisen mussten.
Der Amerikaner reihte sich hinter die vier Herren ein, die genau wie er in Frankfurt umgestiegen waren, und legte schon nach wenigen Minuten seine Papiere auf den niedrigen Tresen.
„Herr Trend?“ Der Zollbeamte blickte mit einem unverbindlichen Lächeln hoch. „Sie sind Vertreter für Landwirtschaftliche Maschinen?“
„Für Traktoren“, verbesserte Trend den Uniformierten. „Ich stelle den neuen Fordson Super Dexta ab Freitag am Funkturm vor.“
„Ach ja, die „Grüne Woche“, unsere große alljährliche Landwirtschafts-Messe.“ Der Beamte klappte den Pass zu und musterte fragend Trends Aktenkoffer. „Na, mit dem werden Sie ja wohl keinen Trecker nach Berlin schmuggeln wollen?“
„Der rollt mit der Reichsbahn durch die Zone.“ Trend grinste anzüglich. „Hoffentlich kopieren ihn nicht gleich die Kollegen von der anderen Seite.“
„Die benutzen nur Fabrikate von ihrem großen sozialistischen Brudervolk.“ Der Zöllner reichte die Papiere zurück und Trend schritt nun durch ein Labyrinth schmuckloser Gänge zur Haupthalle des Flughafens. Die Kassettendecke des gewaltigen Raumes hatten die Alliierten nach dem Krieg tiefer setzen lassen, um den einschüchternden Eindruck der Naziarchitektur etwas abzumildern, und an der Stirnwand hing statt der Swastika ein Symbol des deutschen Wirtschaftswunders.
Trend ignorierte die Stahlwerbung und stellte sich an die Gepäckausgabe. Das Fließband durchschnitt die Mitte der Halle, und sein Koffer erschien erfreulicherweise als einer der Ersten. Erfreut hob Trend das schwere Stück vom Band und begab sich zum Ausgang.
Doch bereits nach wenigen Metern trat ein Zivilist an ihn heran, der bisher gelangweilt die Auslagen des Reiseartikelshops betrachtet hatte. Der Mann in dem grünen Cord-Blouson schien sich das ihm ausgehändigte Foto gut eingeprägt zu haben, und auch ansonsten sein Metier zu beherrschen, denn er fragte leise: „Herr Trend?“
Kein Mister, oder schlimmer noch, Captain Trend, sondern einfach nur ein unauffälliges „Herr“! Very good, das Headquarter hatte einen gewieften deutschen Fahrer geschickt, und Trend folgte ihm zum Parkplatz, wo sie ein dunkelgrauer Mercedes-Benz 300 S erwartete.
Der schlaksige junge Mann verstaute das Gepäck im Kofferraum und verkündete dann nach einem langen Seitenblick auf die wenigen Passanten: „Ick könnte jetzt, wenn Sie och so weit sind?“
Trend nickte nur, und nachdem sie eingestiegen waren, zückte der Deutsche seinen Spezialausweis. Das Dokument schien korrekt zu sein, und Trend reichte es mit einem feinen Lächeln zurück. „Danke, Herr Krause. Sie glauben gar nicht wie erfrischend es ist, sich endlich wieder mit einem echten Berliner zu unterhalten. Euer trockener Humor hat mir in Ramstein oft gefehlt.“
„Dett globe ick gerne! Die Air Base liegt ja im tiefsten Wessi-Land und denen kannste selbst im loofen die Schuhe besohlen.“ Krause grinste frech. „Und bitte, wenn et Ihnen nicht jeniert, für Sie bin ick einfach nur Ulli.“
„So wollen wir es halten, Ulli.“ Trend machte eine auffordernde Handbewegung und Ulli Krause startete den Motor. Routiniert fädelte er sich in den spärlichen Verkehr ein, während Trend neugierig das Halbrund des Flughafengebäudes musterte. Flüchtig betrachtet, hatte sich seit seinem letzten Besuch im Mai 1946 nicht viel verändert, wenn er einmal davon absah, dass der steinerne Reichsadler jetzt von einer futuristischen Radarantenne ersetzt wurde. Die weiße Kugel auf dem Hallendach war ein wichtiger Bestandteil des amerikanischen Flugüberwachungssystems und für Trend vertrat sie genauso die Präsenz seiner Heimat wie die überall geparkten Straßenkreuzer. Die größtenteils zum Verkauf angebotenen Chevys und Cadillacs warteten geduldig auf neustationierte Soldiers und zwischen den Wagen hockten die eigenwilligen Umrisse der allgegenwärtigen Käfer.
„German cars“, dachte Trend und blickte unwillkürlich auf den Stern am Kühler des Dienstwagens. Der Mercedes Benz unterschied sich doch erheblich von dem treuen Willys MB, mit dem er vor siebzehn Jahren den Flugplatz verlassen hatte. Damals chauffierte er den Jeep mit widerstrebenden Gefühlen um die leere Fläche, auf der sich heutzutage das Luftbrückendenkmal erhob. Die riesige Betonkralle bestand im Wesentlichen aus drei nach Westen gerichteten, abgerundeten Pfeilern, die unübersehbar die drei Luftkorridore symbolisierten.
„Ditt is dett Denkmal für eure Rosinenbomberpiloten!“ Krause wandte nicht den Blick von dem vor ihm fahrenden Opel Kadett. „Wissen se wie wir Berliner ditt Ding nennen?“ Trend schüttelte verneinend den Kopf und Ulli verkündet stolz: „Die Hungerharke!“
„Fantastisch! Ihr verliert selbst in diesen schwierigen Zeiten nicht den Humor!“
„Wat bleibt uns och anderes übrig!“ Trend nickte anerkennend und zog eine Packung US-Camel aus der Manteltasche. Ohne zu fragen, klopfte er zwei filterlose Zigaretten aus dem Zellophan, zündete sie an, und reichte eine Krause. Dann lehnte er sich zurück und betrachtete schweigend die vorbeigleitende Stadt. Fast in jeder Straße sah er die Resultate hektischer Bautätigkeit. Die von den Flammen des Krieges graugeschwärzten Fassaden waren größtenteils schon frisch verputzt und auf den letzten Ruinengrundstücken wuchsen schmucklose Neubauten dem Himmel entgegen.
Aber trotz der enormen Aufbruchsstimmung, die Trend fast körperlich zu spüren vermeinte, bemerkte er in den Gesichtern der vorbeihastenden Menschen auch eine unbestimmbare Traurigkeit. Jene überspielte, trotzige Melancholie, der er bisher nur in belagerten Städten begegnet war, und die ihn gegen seinen Willen flüstern lies: „Frontstadt-Blues.“
„Doch nich bei uns, Chef! Der Insulaner verliert die Ruhe nich!“ Krause grinste schief. „Schließlich hat niemand vor eine Mauer zu bauen!“ Ulbrichts traurige Lüge imitierte er im besten sächsisch und ballte die linke Faust zum kommunistischen Gruß. „Ditt is nach der Blockade jetzt dett zweitemal, dass die uns rankriegen wollen, wird Zeit dett euer J.F.K. endlich zu uns steht!“
„Der Präsident hat West-Berlin nicht vergessen!“
„Na, wollen war`s hoffen! Immerhin sind wir die Speerspitze im jroßen Agentenpoker!“ Trend deutete mit einer unmerklichen Kopfbewegung erneut seine Zustimmung an, da Krauses Bemerkung durchaus den Tatsachen entsprach. In West-Berlin operierten tatsächlich alle im Ausland agierenden US-Dienste, denn die ummauerte Stadt war die einzige freie Insel in einem tiefroten Meer. Ein exklusiver Horchposten, der dank der Abhöranlage auf dem Teufelsberg, illegalen Spionageflügen, und einem Heer von informellen Mitarbeitern den kommunistischen Sattelitenstaaten pausenlos auf die Finger sah.
Den größten Teil der ziemlich unverschleierten Aktivitäten koordinierte das amerikanische Hauptquartier, das neben den jeweiligen Dienststellen auch die teuerste Telefonabhörzentrale Berlins, schalldichte Verhörräume und mit dem „Out Post“ sogar ein eigenes Kino besaß. Trend kannte das in Dahlem liegende Gelände allerdings nur vom Hörensagen, und so beobachtete er weiter aufmerksam die vorbeigleitende Stadt
Krause, der seinen Blick allerdings missverstand, versuchte ihn zu beruhigen: „Ein bisschen dauert`s noch, die versprochene Stadtautobahn is nur auf dem Papier fertig, und durch die normalen Straßen… na, Sie sehen`s ja selber!“
„Schon gut, Ulli. Die warten nicht unbedingt auf mich.“ Trend hatte es wirklich nicht besonders eilig nach Dahlem zu kommen. Der Bezirk befand sich im Süden der Stadt, und zählte zu den sogenannten vornehmeren Gegenden. Das für die Weddinger Arbeiter und die Kreuzberger Intelektuellen eher negativ belegte Image, verdankte Dahlem seinen größtenteils von Villen und Privatgrundstücken geprägten Straßenzügen.
Zu dem gutbürgerlichen Stadtbild gesellte sich auch der Campus der Freien Universität und natürlich das Headquarter der Berlin Brigade an der Clayallee. Der nach dem Helden der Blockade benannte Damm war aber nicht das Ziel des 300 S, denn Trends neuer Wirkungsbereich versteckte sich in einer der weitaus weniger exponierten Seitenstraßen.
Dort residierte eine extra für die drei Westsektoren gegründete Spezialgroup, die sich ausschließlich mit den illegalen Einsätzen kommunistischer Gruppierungen befasste. Die Werber und Provokateure des Staatssicherheitsdienstes der DDR betrieben schon seit den 1950er Jahren ihre schädliche Wühlarbeit im Westteil der Stadt, und da sich ihre kriminellen Aktivitäten in den letzten Monaten fast verdreifacht hatten, beschloss das in Frankfurt stationierte United States European Command die nur schwach besetzte Abteilung personell zu unterstützen.
Als direkte Folge dieser Entscheidung rumpelte der Mercedes nun über ein grobes Kopfsteinpflaster, das Captain John Trend derart durchschüttelte, dass er mehr als froh war, als der Wagen endlich vor einer zweigeschossigen Villa hielt. Das in die Jahre gekommene Gebäude verbarg sich hinter mächtigen immergrünen Kiefern und neben seinem schmiedeeisernen Tor hingen vier polierte Messingschilder.
Beim Anblick der bestimmt Trends Neugierde weckenden Tafeln grinste Ulli Krause impertinent, während er den Benz einparkte. „Eene Sprachschule, und zwe karitative Vereine aus Texas und Minnesota, die angeblich viel Gutes für die armen Berliner Kinda tun. Schulspeisungen und sportliche Ertüchtigung, und… en Bibelkreis von eener eurer seltsamen Sekten.“
„Ich nehme an, die Gegenseite kennt das Haus?“
„Wat denken Sie denn?“ Krause lehnte sich zurück. „Lassen Sie den Koffer im Wagen. Dett dadrin dauert nich lange und dann fahr ick Sie zu ihrer möblierten Wohnung. Wird Ihnen jefallen, Chef.“
„Da bin ich mir sicher.“ Trend stieg aus dem Mercedes und schritt durch den verschneiten Garten zu dem düsteren Haus. Ohne zu überlegen tippte er auf den einzigen, nicht beschrifteten Klingelknopf und sofort erklang das Summen eines elektrischen Türöffners. Trend drückte die Klinke nieder und betrat einen schwach beleuchteten Gang. In ihm lagen die Räume der schon auf der Straße avisierten Sozialdienste und am Ende des Korridors führte eine Treppe in die oberen Etagen. Im ersten Stock passierte Trend die Sprachschule und das Ordinariat einer Episkopalkirche und noch eine Treppe höher, erwartete ihn eine Doppeltür ohne Namensschild.
Die beiden verglasten Flügel waren nicht verschlossen und hinter ihnen stand inmitten eines fast quadratischen Korridors ein moderner Bürotisch. An ihm arbeitete ein muskulöser Mann, der in aller Ruhe den Füllfederhalter beiseitelegte und fragend aufblickte.
Trend überreichte ihm seine Identitätskarte, und nachdem die Ordonanz sie routiniert überprüft hatte, schaltete sie die Gegensprechanlage ein. „Der Captain ist jetzt im Haus… Sehr wohl, Sir!“ Der zivil bekleidete Jüngling bedachte Trend mit einem neutralen Blick, während er die rechte Zimmertür öffnete. „Der Captain, Sir!“
John Trend nickte dankend und begab sich in das Office seines zukünftigen Vorgesetzten. Major de Lisle hatte gerade eine Shagpfeife ausgeklopft und erhob sich nun hinter seinem Schreibtisch. Auf das massive Möbelstück deutend, erklärte er freundlich: „Deutsche Eiche.“
Ein gewinnendes Lächeln überzog De Lisles glattgebügelte Gesichtszüge. „Sehr rustikal und unverwüstlich, wie so vieles in diesem schönen Land.“
„Old habits die hard! Trend erwiderte den festen, trockenen Händedruck und musterte unauffällig den Major. De Lisle erinnerte ihn unwillkürlich an die perfekten Saubermänner, die im TV jedes Problem mit ihrer „Vater ist der Beste!“-Moral glattzubügeln pflegten. Selbst die erloschene Pfeife passte in das brave Sonntagsnachmittagsimage, und, als wenn das nicht genügt hätte, besaß der Major auch noch eine frappierende Ähnlichkeit mit Fred MacMurray, dem Hauptdarsteller der Serie „Meine drei Söhne“.
Ja, de Lisle war ohne jeden Zweifel der gütige Vater der Kompanie, der seine Meriten bereits im letzten Weltkrieg erworben hatte. Ein leichter Bauchansatz wölbte den ehemals durchtrainierten Körper und das immer noch dichte Haar wirkte etwas zu lang für eine militärische Frisur.
„Alles in allem“, schloss Trend sein Resümee ab, stand vor ihm ein Mann der jahrelang seine Kraft in den verschiedensten Offices verschlissen hatte, bis er endlich auf diesem völlig belanglosen Alibiposten gestrandet war. Ein müder Profi, der immerhin noch so viel Menschenkenntnis besaß, dass er sich von seinem Besucher ungeniert durchchecken ließ.
Trend unterdrückte ein Lächeln und blickte sich suchend um. De Lisle, der den zarten Hinweis durchaus verstand, deutete auf die Ledersessel in dem geräumigen Alkoven. „Nehmen Sie doch Platz, Captain.“
Aus einer Anrichte zauberte der Major eine halbgefüllte Karaffe samt zwei Tumbler und platzierte sie auf den nierenförmigen Beistelltisch. „Bester Kentucky! Eis oder Soda?“
„Danke, einfach pur, zwei Finger breit, wenn Sie gestatten.“ Trend beobachtete einen Moment wie de Lisle umständlich die Glasflasche entkorkte, bevor er nachdenklich feststellte: „Sie haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das anscheinend nur West-Berlin betrifft. In meinen bisherigen Einsatzgebieten war der Stasi immer höchstpersönlich präsent und die von uns enttarnten Agenten gehörten fast alle zur Hauptabteilung II/3.“
„Bravo Captain, Sie kommen ohne Umschweife direkt zur Sache, das zeugt genau von jenem eloquenten Durchsetzungsvermögen, das einigen meiner Mitarbeiter leider schon seit Jahren abgeht.“ De Lisle nippte vorsichtig an dem Bourbon und gestattete sich ein melancholisches Lächeln. „Aber um ihre indirekte Frage zu beantworten, für den MfS waren Entführungen schon immer ein wichtiges Werkzeug zur Erhaltung der eigenen Vormachtstellung. Sie verunsichern ideologische Gegner und schrecken vor allem möglichen Überläufer ab.“
„Eine interessante These, die in Frankfurt größtenteils ignoriert, oder zumindest heruntergespielt wird.“
„Sie dürfen mich ruhig wörtlich zitieren.“ Der Major ergriff einen auf dem Tischchen liegenden Pappordner und streifte den mit einer Büroklammer angehefteten Zettel ab. „Dieser Text ist eine stete Mahnung für mich, nicht in unseren Bemühungen nachlässig zu werden. Er entstammt einem Tagesbefehl, den Ernst Wollweber, der Minister für Staatssicherheit, 1955 ausgegeben hat. Ich zitiere…“
Da de Lisle anscheinend zu eitel für eine Lesebrille war, hielt er sich das kleine Stück Papier etwas näher vor die Augen. „Die Macht der Arbeiterklasse ist so groß und reicht so weit, dass jeder Verräter zurückgeholt wird oder ihn in seinem vermeintlich sicheren Versteck die gerechte Strafe ereilt.“
„Wie sieht das in der bitteren Realität aus?“
„Nun, der Staatssicherheitsdienst rekrutiert seine Entführer-IM aus der West-Berliner Gangsterszene. Das kriminelle Milieu der geteilten Stadt bietet ihm ein praktisch unerschöpfliches Reservoir von operativ interessanten Kontakten. Gewissenlose Handlanger des kalten Krieges, denen ich mit meiner chronisch unterbesetzten Abteilung bisher nur sporadisch beikommen konnte, zumal wir uns in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Offiziell betrachtet sind die IM Westberliner Bürger und unterliegen damit der deutschen Jurisdiktion.“
„Ich denke, Operation „Good neighborhood“ dürfte ihre personelle Situation in den nächsten Monaten wesentlich verbessern.“
„Ihr Wort in den Ohren der EUCOM Bürokraten.“ Die Verbitterung in de Lisles sonorer Stimme war unüberhörbar. Mit einer müden Handbewegung legte er den Zettel zurück und blickte auf seine zerschrammte Fliegeruhr. „So viel zur grauen Theorie. Höchste Zeit, dass Sie endlich meine kleine verschworene Truppe kennenlernen.“
Der Major kehrte zum Schreibtisch zurück und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. Leicht vorgebeugt bellte er eine Order in das Mikrophon und wandte sich wieder an Trend. „Eines noch Captain! Angesichts meines notorischen Mangels an qualifizierten Mitarbeitern werden Sie sich daran gewöhnen müssen, dass Sie nicht jede Kleinigkeit einfach weiterdelegieren können.“
„Das war noch nie ein Problem, Sir! Ich pflege meine Recherchen stets persönlich durchzuführen.“
„Sehr schön! Diese Einstellung entspricht genau den Intentionen von Captain Archer. Ah ja, dass dürfte er sein!“ De Lisle unterbrach auf ein Klopfen hin seine Ausführung und befahl in einem überraschend sanften Kommandoton: „Herein!“
Lautlos öffnete sich die Tür und ein uniformierter Mann überließ mit einer lässigen Handbewegung der neben ihm wartenden Frau den Vortritt. Ein dunkelgraues Jersey-Kostüm umhüllte ihre schlanke Gestalt, und als sie sich unaufgefordert in den zweiten Clubsessel setzte, bestand Trends erster Eindruck aus einem Paar übereinandergeschlagener, wohlgeformter Beine. Erfreut wollte er die Zivilistin etwas intensiver betrachten, doch de Lisle ließ ihm dazu keine Zeit. „Ich darf Sie mit Captain Jeffrey Archer, unserem Kontaktmann zu den Streitkräften, bekanntmachen.“
„Captain, Es ist mir eine Ehre.“ Die Haltung des baumlangen Offiziers war tadellos, seine Uniform korrekt, und dennoch erinnerte er Trend unwillkürlich an das verhasste Klischee des typischen Amerikaners: Ein viel zu groß geratener Junge, der tapfer einen Cowboy imitierte und dabei nur zufällig unter die Erwachsenen geraten war.
Trend wusste aus den in Frankfurt studierten Akten, dass Archer seinen 32. Geburtstag im letzten Oktober gefeiert hatte, und 83 Kilo bei 1,94 Meter Körpergröße wog. Seine athletische Gestalt krönte ein hellblonder Bürstenschnitt, den die spöttischen Berliner „Koreapeitsche“ zu nennen pflegten, und unter den militärisch kurzgeschnittenen Stoppeln verbreitete ein permanent lächelnder Mund Optimismus. Als Archer sich dann auch noch zu einer stereotypen Begrüßungsformel bequemte, erklang ein weicher Südstaatenakzent: „Schön Sie hier zu haben, Captain Trend. Wir können jeden zusätzlichen Mann gut gebrauchen, unsere Freunde auf der anderen Seite der Mauer sind in letzter Zeit unerfreulich aktiv geworden.“
„Genau dasselbe habe ich mir beim Flug über die Sowjetzone auch gedacht. Es tummeln sich einfach zu viele rote Haie vor unseren Stränden.“ John Trend ergriff die ihm entgegengestreckte Hand und erwiderte ihren kräftigen Druck mit etwas mehr Kraft als er normalerweise einzusetzen pflegte.
Major De Lisle, der das instinktive, gegenseitige Abtasten sehr wohl bemerkt hatte, hüstelte dezent, und nachdem er so erneut die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Beteiligten besaß, blickte er die gelassen abwartende Frau an. „Miss Fisher, ich möchte Ihnen Captain Trend vorstellen. Captain, das ist Miss Fisher, unser Verbindungsoffizier zu den West-Berliner Behörden. Egal, mit welchen Problemen sie von den pedantischen Deutschen auch in Zukunft gequält werden, wenden Sie sich vertrauensvoll an Miss Fisher, ihre Kontakte sind einfach unglaublich.“
„Gut, das zu hören, darauf komme ich doch gerne zurück! Auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit, Frau Fisher.“
„Susan! Nennen Sie mich einfach Susan! Mit Miss Fisher redet mich nur der Major an!“
„Dann wollen wir es so halten, Susan.“ Trend schüttelte vorsichtig die ihm dargebotene Hand und betrachtete dabei unauffällig sein attraktives Gegenüber. Susan Fisher besaß eine zierliche, aber gutproportionierte Figur, die ihr enges Kostüm bestens zur Geltung brachte. Eine zweireihige Perlenkette umschmeichelte die schlanke Säule ihres Halses und die rötlich schimmernde Haarpracht trug sie in einem kinnlangen Schnitt mit Außenwelle. Die dezente Frisur umrahmte ein herzförmiges Gesicht, in dem ein grünes Augenpaar amüsiert funkelte.
Lächelnd, und ohne verlegen zu wirken, glitt Susans herausfordernder Blick sekundenlang über Trend hinweg, ohne dass er ihr das Resultat der Begutachtung anmerken konnte. „Noch einmal, willkommen in Berlin Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich vielleicht etwas erfrischen wollen, bevor Sie sich durch die trockenen Aktenberge wühlen.“
Mit einer anmutigen Drehung ihres Kopfes wandte sich Susan an de Lisle. „Major, da ich letztendlich für die Wohnung des Captains verantwortlich bin, würde ich ihn gerne begleiten und mich höchstpersönlich davon überzeugen, dass Sergeant Carter alle Aufträge korrekt erledigt hat.“
„Gewiss, gewiss, eine gute Idee, machen Sie es so.“ Der Major schien mit seinen Gedanken schon in höheren geistigen Sphären zu weilen, denn er nickte Trend nur kurz zu, ohne ihn noch wirklich wahrzunehmen. „Also denn, Welcome, wir sehen uns, sobald Sie sich eingerichtet haben.“
In de Lisles Bariton schwang unüberhörbar der Befehl zum Verlassen des Büros mit, und seine Crew befolgte ihn umgehend. Archer öffnete die Tür, und Susan und Trend schritten an ihm vorbei in den Vorraum. Neben dem Schreibtisch der Ordonanz blieb die junge Frau stehen und schenkte Trend ein aufmunterndes Lächeln. „Keine Angst, wir haben es nicht weit. Die für Sie bereitgestellte Wohnung liegt nur wenige Fahrminuten von hier entfernt, sie ist leider nichts besonderes, eine möblierte Unterkunft eben, aber dennoch Ihre eigene Privatsphäre.“ Susan räusperte sich verlegen. „Ich denke, sie wird ihnen gefallen.“
„Da bin ich mir absolut sicher!“ John Trend rückte mit dem Zeigefinger seine Brille zurecht, bedachte Captain Archer mit einem neutralen Blick, und folgte dann ohne zu zögern Susans klackenden Schritten in die beginnende Dämmerung.