Читать книгу Requiem für West-Berlin - Reginald Rosenfeldt - Страница 7
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ОглавлениеKarl Urban musterte das nächtliche Firmament. Eine kompakte Wolkendecke verbarg seine geliebten Sterne, und die blasse Mondsichel ließ sich auch nicht in den dahintreibenden Lücken sehen. Nur die auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses blinkenden Positionslichter blinzelten ihm vertrauensvoll zu, und Kalle fühlte für einen Moment wieder sein nie erlöschendes Fernweh.
Wehmütig starrte er zu dem hölzernen Türmchen mit seinen roten Lampen hinauf, das gerade einem zur Landung ansetzenden Flugzeug als Orientierungshilfe diente. Der niedrigfliegende Clipper hatte die Ostzone in einem gewaltigen Satz überquert, und seine donnernden Motoren schürten erneut Kalles Verbitterung. Warum konnte er nicht genau wie der stählerne Vogel seine imaginären Flügel ausbreiten, und in ferne, glücklichere Gefilde entschweben? Hoch empor, weit weg von den ihn niederdrückenden Sachzwängen, einfach hinaus aus der hässlichen Stadt, die ihn schon so oft verraten hatte?
Verbittert spuckte Kalle in den von Kohlenstaub verschmutzten Schnee, und stapfte auf die Leuchtreklame des „Schwarzen Kater“ zu. Der gebuckelte Stubentiger fauchte auf einer von den Winterstürmen getrübten Scheibe, hinter der zwei Leuchtstoffröhren hektisch flackerten. Aus und an, aus und an, glommen sie wie ein fernes Leuchtfeuer, das unablässig ein geheimes Signal über die Fahrbahn sandte.
Mit einem verächtlichen Grinsen ignorierte Kalle den abergläubischen Hokuspokus und öffnete die Kneipentür. Sofort schlug ihm die übliche Melange aus Tabaksdunst und abgestandenen Bier entgegen, die er aber nicht einmal mehr wahrnahm. Kalle interessierte nur das zum Showdown versammelte Publikum, und so musterte er trotzig die müden Gesichter. Fast die gesamte Mischpoke der Kienitzer hatte sich heute hier versammelt; verdammte Penner, die er allesamt schon im Hinterzimmer ausgenommen hatte.
„Mann, das ist ja eine Stimmung wie bei Bachhulkes Beerdigung!“ Kalle zog die Schultern hoch, und wirkte dabei wie ein Boxer, der einen hypothetischen Gegner abwehren wollte. Doch die grimmige Pose täuschte, denn trotz seines schlichten Gemüts, spürte Kalle die ihn umgebende Stille sehr wohl. Alle Gespräche waren bei seinem Erscheinen verstummt, und da die Musikbox immer noch auf eine Reparatur wartete, verbreiteten nicht einmal mehr die alten Platten ihren naiven Frohsinn.
Darüber hinaus spielte auch der alte Volksempfänger nicht sein gewohntes Abendprogramm, denn der Wirt hatte ihn schon vor Wochen abgestellt, um die Röhren zu schonen.
„Wer säuft, kann selber singen“, lautete Herberts Devise, die auch lautstark seine bessere Hälfte vertrat. Elkes tizianrot gefärbte Lockenpracht leuchtete provokativ hinter dem Tresen, wo sie mit ihren falschen Wimpern die Stammkunden zu bezirzen versuchte. Vor allem die senilen Greise fielen immer wieder auf das Augengeklimper herein, das aber beim roten Horst wie an einer Betonmauer abprallte. Unbeeindruckt von Elkes primitiven Verführungskünsten trank er sein kleines Bier und wirkte dabei so humorlos, dass ihn keiner der anderen Gäste auch nur anzusprechen wagte.
Den Blick starr auf den Overstolz-Aufsteller im Flaschenregal gerichtet, galt Horst Szymaneks Aufmerksamkeit seltsamerweise nur der angeblich am meisten gerauchten deutschen Zigarette. „Tropen-Packung, Zwölf Stück, fünfzig Pfennige“, verkündete die blaue Werbefläche, und die Botschaft besaß eine solche Faszination, dass Horst anscheinend nicht einmal bemerkte, dass Kalle einen Barhocker heranrückte. Sich auf ihm niederlassend, bestellte der Hüne als guter Neuköllner ein kleines Schultheiss vom Fass, das Elke mit dem üblichen Brimborium zapfte, den Schaum abstrich, und es auf den Bierdeckel stellte. Kalle genehmigte sich einen tiefen, die Sorgen leider nicht vertreibenden Schluck, und murmelte dann: „Scheiße, Hotte! Und wenn Du mich totschlagen lässt, aber Dein Geld siehst Du so schnell nicht wieder!“
„Ich hab nichts anderes erwartet!“ Horst verzog seine Lippen zu jenem grausamen Lächeln, dessen sich schon Kalles Lehrer in der Grundschule befleißigt hatten. „Die Woche malochen auf dem Bau hat Dir wohl nicht viel eingebracht?“
Ehe Kalle noch auf die offensichtliche Provokation angemessen reagieren konnte, legte ihm Horst die Hand auf den Arm und fügte weitaus versöhnlicher hinzu: „Lass mal, Sputnik! Ist doch keine Schande sich als Hucker für ein Butterbrot abzurackern! Hast ja überhaupt verdammtes Glück gehabt, dass der alte Schultze noch einen Innenausbau fertigstellen musste.“
Um seine Worte zu bekräftigen, hob Horst das Glas und prostete Kalle zu. „Auf die Plackerei und das Baugewerbe! Runter mit der Plörre und dann rück Deine Lohntüte rüber, ich bin heute auch mit einer Anzahlung zufrieden.“
Karl Urban hörte die Worte wohl, aber da er sich wie so oft in seinem bescheidenen Leben schlichtweg überfordert fühlte, zückte er ergeben seine Brieftasche und zog die wenigen, sauer verdienten Scheine heraus. Doch als er sie auf den Tisch blättern wollte, winkte Horst großspurig ab. „Ist schon gut, Sputnik! Lass die Moneten erst mal stecken! Und trink endlich aus, ich lad Dich ein.“
Szymanek knallte zwei genau abgezählte Münzen auf den Tresen, Wirtsleuten gab er prinzipiell kein Trinkgeld, und befahl in seinem angeblich nur rein sachlich gemeinten, aber stets beleidigend klingenden Tonfall: „Fertig? Gut, dann schließ den Mantel und komm mit vor die Tür, wir müssen Tacheles reden.“
„Du willst mich nur wieder belatschern!“
„Wo werd ich, Sputnik! Bist doch ein cleverer Bursche, Dir kann ich doch nichts vormachen.“ Sich ein impertinentes Grinsen verkneifend, schloss Horst die Caban-Jacke und trat hinaus in die klirrend kalte Nacht. Die Hände in die Taschen gestopft, lauschte er einen Augenblick dem gedämpften Aufheulen ferner Jetdüsen, und fühlte sofort wieder die Ohnmacht seiner vergeudeten Jugend. Wie in jenen schrecklichen Stunden vermeinte er die Motoren der angloamerikanischen Bomber zu hören, das Näherkommen der Einschläge, und die den Luftschutzkeller erschütternden Vibrationen.
Horst Szymanek schüttelte sich trotzig, und das Echo seiner unbewältigten Vergangenheit verwandelte sich übergangslos in simplen Fluglärm, ruhestörenden Krach, der ja für den Volltrottel an seiner Seite angeblich eine ganz andere Bedeutung besaß.
Weltraumraketen und amerikanische Schundhefte! Ohne Karl Urban anzublicken, unterhielt sich Szymanek scheinbar mit den dunklen Fassaden auf der anderen Straßenseite: „Was für eine Nacht, Sputnik! Eisig wie am Nordpol, genau das richtige Wetter für wahre Helden. Für Abenteurer wie Dich, da irre ich mich doch nicht, oder?“
Kalle antwortete nicht, und so stichelte der gewiefte Demagoge weiter: „Echte Heros sind es gewohnt etwas zu riskieren, alles auf die entscheidende Karte zu setzen. Alles oder nichts, noch einmal Ente oder Trente, wenn Du verstehst was ich meine?“
Karl Urban wollte, oder konnte aber nicht den Sinn der verborgenen Botschaft enträtseln, und so kam Szymanek notgedrungen auf den Kern der Dinge zu sprechen. Mit wenigen, simplen Worten schlug er vor, erneut um die ausstehende Summe zu zocken. Wieder doppelt oder in den Arsch gekniffen, sozusagen fifty-fifty, das war doch eine verdammt reelle Chance. „Ehrlich Kalle, vielleicht küsst Dich ja heute Nacht die Glücksfee und Du zeigst es mir so richtig!“
„Quatsch! Damit ich die sauer verdiente Kohle erneut verliere? Sag mal, für wie dämlich hältst Du mich eigentlich?“
Szymanek breitete nur in einer vielsagenden Geste die Arme aus und stellte dann erneut fest, dass eine Gewinnchance von fünfzig zu fünfzig doch ein absolut faires Angebot wäre. „Überlege es Dir einfach Kalle, Du bist doch ein ausgeschlafener Typ, der genau weiß, wie viel er riskieren kann.“
Das vermeintliche Lob trug der rote Horst aber derart herablassend vor, dass Kalles leichtsinniges Spielerherz der plumpen Herausforderung einfach nicht zu widerstehen vermochte. Ohne auf die mahnende Stimme in seinem pochenden Hinterkopf zu hören, grinste er bejahend und wollte sich wieder der Kneipe zuwenden, als ihn Szymanek stoppte. „Hey, nun mal langsam mit den jungen Pferden!“
Eine schwielige Hand hielt Kalle am Ärmel fest, während der Verführer verständnisvoll vorschlug: „Nicht da drin, Sputnik. Das können wir doch weitaus gemütlicher, und vor allem billiger haben. In meiner Bude steht noch ein voller Kasten Schultheiss.“
Gegen ein solches Argument ließ sich nun wirklich nichts mehr einwenden, und da Szymanek ja angeblich in der Nähe wohnte, stimmte Kalle ergeben zu. Mit finsterer Miene folgte er dem kleinen Mann zur Hermannstraße, die ihm an der Ecke Kienitzer schon viel Freude bereitet hatte. Direkt vor ihm lag nämlich das Union-Kintopp, in dem er regelmäßig aus dem tristen Alltag flüchtete, und gleich schräg gegenüber ein Spielzeugladen. Dass der flache Nachkriegsbau größtenteils Utensilien für werdende Mütter verkaufte, übersah Kalle allerdings immer großzügig, denn ihn faszinierten nur die im Vordergrund des Schaufensters platzierten Ritter und Indianer.
Ja, die kleinen Karl May Elastolin-Figuren hatten es ihm als eifrigem Leser der grünen Bücher besonders angetan, und zu seinen besonderen Lieblingen zählte vor allem Old Shatterhand. Die alte Schmetterfaust bereinigte ihre Probleme stets mit einem Hieb gegen die Schläfe, und genau so hätte er gerne auch den roten Horst bestraft, aber diese Art von Gerechtigkeit kam ja im Augenblick leider nicht in Frage.
Also löste Kalle widerwillig den Blick von dem jetzt unbeleuchteten Geschäft und stapfte seinem Rendezvous mit dem Schicksal entgegen. Horst wohnte nur zwei Seitenstraßen entfernt im vierten Stock eines alten Mietshauses, und bereits im Korridor erwarteten Kalle drei ihm völlig unbekannte Männer. Die Kerle besaßen genau jenen verkniffenen Gesichtsausdruck, den er schon bei Horsts anderen Kumpels gesehen hatte, und der anscheinend allen roten Genossen zu Eigen war.
„Habe ich es doch gewusst! War doch klar, dass Du Dir Verstärkung besorgst, allein auf dich gestellt hast Du einfach zu viel Schiss.“
„Na, zu zweit können wir ja wohl schlecht spielen. Oder?“ Szymanek grinste süffisant und öffnete die Tür des auf der linken Seite gelegenen Zimmers. „Du kannst dich gleich nützlich machen und mir beim Tragen helfen. Bist ja schließlich der Fachmann für volle Bierflaschen.“
Vor der nicht beheizten Stube befand sich ein erstaunlich geräumiger Balkon, den Horst als Warenlager benutzte. Kartons mit Senatsreserve-Rindfleischbüchsen stapelten sich neben eingeschneiten Blumentöpfen, und in der rechten Ecke lockten die versprochenen Schultheiss-Kästen.
Horst ergriff den ersten, während Kalle an das rostige Metallgitter trat, und auf die nächtliche Hermannstraße hinabschaute. Der ohnehin spärliche Verkehr war inzwischen zum Erliegen gekommen und nur die Scheinwerfer eines einsamen Ford Taunus beleuchteten für Sekunden den Eingang des U-Bahnhofs Leinestraße. Schräg hinter dem Treppenschacht begann eine scheinbar endlose Friedhofsmauer, und das von ihr beschützte, vom Schnee begrabene Gelände, erfüllte den sonst so abgebrühten Kalle seltsamerweise mit einem abergläubischen Schauer. Horst, der seinen irritierten Blick bemerkte, erklärte lakonisch: „Das ist der St. Michael Friedhof. Da liegt mein seliger Großvater mütterlicherseits.“
„Na, wie günstig für Dich. Da hast Du es ja an seinem Geburtstag nicht weit.“ Fröstelnd packte Kalle einen Kasten und marschierte in die Wohnung zurück. Horst war schon in das Zimmer am Ende des Flurs verschwunden, das für den heutigen Abend als Casino herhalten musste. Zwei Heizsonnen erwärmten den zum Hinterhof liegenden Raum, und der von den glühenden Metallspiralen verbrannte Staub, reizte Kalles ohnehin trockene Kehle. Ohne zu fragen, öffnete er mit seinem Schweizer Taschenmesser eine Pulle, und genehmigte sich einen Schluck, bevor er sich an den runden Eichentisch setzte.
Auf ihm lauerten zwei Rommee-Spiele, die ein verhungert aussehender Bursche mit Halbglatze immer wieder pedantisch durchmischte. Der Kerl hatte sich genau wie die anderen Bolschewiken nicht vorgestellt, und auf Kalle wirkte die düstere Truppe wie eine Meute hungriger Hyänen, mit der er sich lieber nicht einlassen sollte.
Szymanek, der Kalles bauernschlaue Vorsicht natürlich wahrnahm, gönnte ihm einen aufmunternden Blick, bevor er seinen Nachbarn zur Rechten fragte: „Mensch, Paul! Ziemlich triste Stimmung für ein freundschaftliches Spielchen, findest Du nicht auch? Also ehrlich, ein bisschen Musik wäre vielleicht ganz hilfreich.“
Paul erhob sich mit unbewegter Miene und schaltete das auf der Anrichte stehende Radio an. Sekundenlang flackerte das grüne Licht des „Magischen Auges“ auf, und schon übertrug der Siemens-Empfänger den RIAS. Da Paul den Sender aber nicht richtig eingestellt hatte, schnarrten die „Schlager der Woche“ leider nur verzerrt durch den Raum. Begleitet vom statischen Rauschen und knatternden Störungen drangen die ersten Takte von „Junge, komm bald wieder“ aus dem Äther, und Kalle, der ein großer Bewunderer von Freddy Quinn war, tröstete sich über den schlechten Empfang mit einem weiteren Schluck hinweg.
Diesmal nippte er aber nur an dem Glasseidel, denn die Gesellschaft der roten Genossen mahnte ihn zur Vorsicht. Instinktiv spürte er, dass es galt einen klaren Kopf zu behalten, und so schlug er in einem, wie er meinte, möglichst harmlosen Tonfall vor: „Hör mal, Horst! Wenn wir alles auf eine Karte setzen, ist die Partie schneller vorbei, als Du das nächste Bier aufmachst. Also lass es uns etwas gemütlicher angehen, ja?“
„Ganz wie Du willst, mein Guter.“ Horst grinste Kalle frech an. „Na, dass sieht ja ganz nach einem Rendezvous mit Lady Luck aus, und warum auch nicht? Manchmal küsst sie sogar Verlierer, und außerdem, nach deinem Sieg muss ja wirklich nicht gleich Schluss sein.“
„Darauf kannst Du einen fahren lassen!“ Karl Urban nahm wie selbstverständlich der Halbglatze die Karten aus der Hand, und begann sie erneut zu mischen. Vorsicht war nun einmal die Mutter der Porzellankiste, und deshalb gab er die erste Runde lieber selber aus. Geschickt schnippte er die Karten neben die bereitliegenden Brieftaschen und fächerte dann vorsichtig sein Blatt auseinander. Zwei Neunen lächelten ihm verheißungsvoll entgegen, und damit hatte er sich endgültig einen etwas kräftigeren Schluck verdient.
Das Pils war dank der Balkonlagerung immer noch eiskalt, die Glücksgöttin schien ihm tatsächlich gewogen zu sein, und überhaupt verlief der Abend bisher weitaus besser, als es Kalle befürchtet hatte. Ganz wieder der alte Bruder Leichtfuß, knallte er die Karten auf den Tisch, und präsentierte sie großspurig den Genossen, die tatsächlich nicht mithalten konnten.
Ihr triumphierend eingestrichenes Geld stärkte Kalles angeknackstes Selbstbewusstsein mächtig, und als er auch noch die nächsten Spiele wie im Rausch gewann, vergaß er endgültig jede Vorsicht. Angeberisch und schwadronierend, reizte er die Partien bis zum Äußersten aus, und ehe er sich versah, war sein Gewinn wie ein Eis am Stil geschmolzen.
Die verbliebenen Scheine deckten gerade noch die unbeglichenen Schulden, und Horst, der das befriedigt registrierte, bemerkte süffisant: „Das war`s alter Freund, Klappe zu, Affe tot, Ofen endgültig aus! Aber sei nicht traurig, wenn Du die Penunse gleich rüber rückst, kommst Du mit einem blauen Auge davon.“
Horst Szymanek deutete verächtlich auf den Stapel abgegriffener Geldscheine. „Nun mach schon Sputnik, ist doch nur bedrucktes Papier, also her damit, und dann, see you later Alligator, bis zum nächsten Mal!“
„Das glaubst Du doch selber nicht!“
„Ach Kalle, man kann nie wissen!“ In aller Ruhe begann Horst die Banknoten nach ihrem Wert zu sortieren. Mit dem fertigen Packen klopfte er zweimal auf den Tisch, und hielt dann mitten in der Bewegung inne, so als wenn ihn plötzlich ein flüchtiger Einfall erleuchtet hätte. „Für Dich arme Sau ist das ja wirklich eine Menge Kohle. Da muss ein alter Mann schon lange für ackern.“
Szymanek legte das Geld wieder zurück auf den Tisch und schürzte nachdenklich die Lippen. „Okay, Du hast eine zweite Chance verdient! Ich kann doch nicht einen gewieften Zocker wie Dich, bis aufs Hemd ausplündern! Deshalb Sputnik, alter Raumfahrer, alles wieder auf Anfang, Doppelt oder nichts, frisch nach dem Motto: Wer wagt, gewinnt…“
Das tückische Angebot begleitete Horst mit einer vielsagenden Handbewegung. „Ich weiß, ich weiß, sag nichts, neulich hat Dich das Glück wirklich nicht geküsst, aber das ändert sich ja vielleicht schon heute Nacht.“
Auf die Frechheit hin sparte sich Urban zwar die Antwort, aber da er aus den Missgeschicken seines Lebens immer noch nichts gelernt hatte, forderte er Paul auf, endlich zu geben. Der ließ sich natürlich nicht zweimal bitten und schon starrte Kalle der Wahrheit ins Gesicht. Zwei Königinnen verspotteten ihn schamlos, zwei rote, völlig wertlose Schlampen!
Der erneut gedemütigte Mann fühlte wie ihm der Angstschweiß auszubrechen begann. Panik würgte ihn, und seine Stimme schnappte vor Erregung fast über, als er brüllte: „Noch eine! Gib schon, Du Penner!“
Der derart beschimpfte überhörte die Beleidigung mit der Nachsicht eines großen Geistes und spielte gelassen die gewünschte Karte aus. Direkt vor den zwei Verräterinnen kam sie zur Ruhe, unschuldig und adrett wie ein frisch bepflanztes Grab. Hübsch anzusehen, mit der Ausstrahlung einer geladenen Pistole, die es galt abzufeuern, sie umzuwenden, und Oh lala, danebengeschossen, die Zielscheibe entpuppte sich als eine Fahrkarte ins Verderben. Auf ihrer Oberfläche grinste spöttisch eine Pik Drei. Eine Kalle endgültig vernichtende, jämmerliche schwarze Drei! „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Soviel unglaubliches Pech konnte ein einzelner Mensch doch gar nicht haben!
„So eine verdammte Kacke!“ Der wütende Ausbruch beeindruckte den roten Horst nicht im Geringsten. Mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck beugte er sich vor und flüsterte: „Sputnik, begreife es doch endlich! Nicht die Karten haben Dich reingeritten, sondern Deine eigene Dämlichkeit! Du baust nur Mist, allein in den letzten Monaten haben sie Dich auf vier verschiedenen Baustellen gefeuert, die BVG hast Du beschissen, und Deine kümmerliche Penunse verschwendest Du für bescheuerte Bilderheftchen.“
„Na und? Was wisst Ihr denn schon, ihr lest ja keine Piccolos! Ihr kennt Tibor und Falk doch gar nicht!“ Kalles übereifrige Verteidigung übertönte ein brüllendes Gelächter, dem sich selbst Horst nicht entziehen konnte. Die gute Stimmung kippte allerdings etwas, als Kalle den ihm gegenübersitzenden Genossen mit einem Schlag vom Stuhl fegte und damit seinen Standpunkt unmissverständlich bekräftigte.
Sichtlich vorsichtiger geworden, unterdrückte Szymanek nun jede weitere, die Situation weiter aufheizende Bemerkung, und kassierte erst einmal das Geld ein. Dann befreite er quasi als Friedensangebot ein Pils von seinem Kronkorken und reichte es Kalle. Ihm zuprostend, nahm er das unterbrochene Gespräch wieder auf und versuchte dabei nicht provozierend zu klingen. „Kalle, Kalle! Du bist manchmal wirklich dämlicher als die Polizei es erlaubt. Dämlich, aber auch überaus hartnäckig!“
In einer abwehrenden Geste hob Szymanek beide Hände und lächelte begütigend. „So bist Du halt, da kann man nichts machen. Ein bisschen zu Gut für diese Welt, aber andererseits auch ein Mann der Tat. Ein Kerl der das Herz auf dem richtigen Fleck hat, und so einen können wir gut gebrauchen. Glaube mir!“
„Wer wir?“ Verwirrt verzog Kalle das Gesicht, doch ehe er noch über den tieferen Sinn der Worte nachgrübeln konnte, unterbreitete ihm schon Szymanek ein überraschendes Angebot. „Pass mal auf, ich vergesse jetzt einfach das verdammte Geld, wenn Du mir etwas zur Hand gehst. Leih mir einfach Deine starken Fäuste, und Deine, na sagen wir mal, speziellen Talente für eine kleine Gefälligkeit, einen Freundschaftsdienst unter alten Bekannten.“
„Ach nee…“ Kalle spannte unwillkürlich die Muskeln an, denn das Gespräch bewegte sich nun in ihm vertrauten Sphären. „Du willst ein Ding drehen? Echt jetzt?“
„Nenne es wie Du willst! Ich brauche dringend einen Profi, einen Könner, für den auch ein Extrabonus herausspringt! Also, keine Schulden mehr und dafür auch noch fette Kohle bar auf die Kralle!“
Ja, einen solchen Vorschlag verstand Kalle durchaus, aber leider kam er von einem Mann dem er keinen Zentimeter weit traute. Szymanek, die rote Sau, hatte bisher noch jeden ins offene Messer laufen lassen, wenn es seiner kranken Ideologie irgendwie diente. Dies bedenkend, und sich dabei mächtig schlau vorkommend, leerte Kalle erst einmal das Glas und murmelte dann doch seine Zustimmung. Dabei sprach er so undeutlich, dass es Horst nicht unterlassen konnte, süffisant nachzufragen: „Was nun, ist das jetzt Dein Okay? Entschuldige, aber im Augenblick ist die Akustik ein bisschen schlecht.“
„Ja, verdammt noch mal! Ihr könnt voll und ganz auf mich zählen!“
„Werden wir, Sputnik, werden wir, keine Angst, ich steh zu meinem Wort.“ Horst unterließ es vorsichtshalber Kalle die Hand zur Bekräftigung ihres Deals zu schütteln, denn er kannte aus schmerzlicher Erfahrung dessen mörderischen Griff. Stattdessen lockte er lieber mit einem weiteren Trumpf: „Noch eines, diesmal ist es wirklich nur eine kleine Gefälligkeit. Aber wenn Du sie zufriedenstellend erledigst, warten ein paar dickere Dinger auf Dich. Denk mal drüber nach. Und nun…“
Szymanek erhob sich und öffnete die Tür des überheizten Raumes, „Es ist höchste Zeit, dass Du nach Hause kommst, und Dich ausschläfst. Ich will nicht, dass Du mies drauf bist, wenn wir Dich brauchen.“
„Du kannst mich mal gerne haben!“ Karl verließ ohne ein weiteres Wort, leicht schwankend die Wohnung. Hinter ihm knallte die Eingangstür zu, dann ertönte im Treppenhaus das Klicken eines mehrmals kräftig gedrückten Lichtschalters, dem sich das Poltern schwerer Schritte anschloss.
„Was für ein Riesenarschloch“, murmelte Szymanek angewidert, und begab sich auf den Balkon. Fröstelnd lehnte er sich gegen den zugeschneiten Blumenkasten und blickte auf den Bürgersteig hinab. Direkt unter ihm wankte gerade der angeschlagene Riese über die zugefrorenen Pflastersteine, schüttelte sich, und entschwand im Zwielicht der nach dem Cherusker benannten Straße. Für einen Moment geisterte noch sein Schatten durch den Lichtkreis einer Gaslaterne, dann herrschte wieder die gespenstische Stille der vom Winter schon zu lange belagerten Stadt. Die verfluchte, feuchte Kälte schnitt wie ein Messer durch Horsts dünne Strickjacke, und so warf er einen emotionslosen Blick auf den gegenüberliegenden Friedhof, und kehrte in die Wohnung zurück.
Im einzigen, einigermaßen warmen Zimmer tranken inzwischen die Genossen ihr redlich verdientes Bier, und Horst setzte sich wieder auf den für ihn reservierten Stuhl. „Ein starker Tee wäre jetzt bestimmt nicht schlecht“, verkündete er ohne jemand Spezielles anzusehen, und streckte seine kalten Füße dem elektrischen Ofen entgegen. Die Strahlen des starken Stromfressers entfalteten ihre Wirkung, und schon setzte ein belebendes Prickeln in Horsts erstarrten Zehen ein. Den gewohnten Schmerz ertragend, klopfte er eine Juno aus der Packung, und sinnierte gutgelaunt: „Ihr könnt sagen was ihr wollt, aber es ist doch immer wieder erstaunlich, wie leicht uns ein solcher Gimpel auf den Leim geht.“
„Wie wahr, Hotte, wie wahr“ Paul Werner zündete mit einem Streichholz den Gaskocher an, bevor er den gefüllten Kessel auf die Flamme stellte. „Chapeau, da kann ich nur den Hut vor Dir ziehen! Du hast den erbärmlichen Mistkerl nicht nur gekascht, sondern außerdem so manipuliert, dass er mit tödlicher Sicherheit auch noch seine eigene Grube ausbuddelt!“