Читать книгу Requiem für West-Berlin - Reginald Rosenfeldt - Страница 5

3.

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Kalle Sputnik saß im Hinterzimmer des „Schwarzen Kater“ und spielte 17 + 4, oder wie es die Amis nannten: Black Jack. Im Gegensatz zur offiziellen Variante drosch er sein Blatt aber ohne einen „Bankhalter“, und ließ auch ansonsten nur die eigenen, vor Jahren aufgestellten Regeln gelten. Schweiß und verschüttetes Bier verklebten die Karten in seiner Hand, und der Austragungsort der Partie war nicht weniger deprimierend. Neben dem Kachelofen stapelten sich Schultheiss-Bierkästen, die knarrenden Stühle hatten selbst die bangen Bombennächte überlebt, und auch der restliche Raum wirkte genauso schäbig wie die hier versammelten Individuen.

Die fünf Schwachköpfe machten es Urban nun auch wirklich leicht. Behäbig, und entsetzlich umständlich kämpften sie sich durch die lächerlichen Runden, und erinnerten den gewieften Zocker dabei immer mehr an die drei kleinen Schweinchen. Die Vorbilder der infantilen Menagerie tummelten sich auf den Seiten der Micky Maus-Hefte, und insbesondere Kuliecke und seine Saufkumpane ähnelten frappierend den tollpatschigen Borstentieren.

Der fette Kuliecke hielt sich nämlich genau wie eines der Comicgeschöpfe für besonders schlau und ausgebufft. Dabei erstarrte sein feistes Gesicht immer dann, wenn es richtig brenzlig wurde, zu einem panischen Pokerface, das Kalle förmlich entgegenschrie: „Die Karten haben mich am Arsch!“

Kulieckes Kumpel vom Bau, der blöde Petersen, konnte seine Gefühle allerdings noch weniger gut verbergen, denn bei jeder aufgenommenen Lusche verzog er unwillig den Mund, oder knallte wütend die Karten auf den Tisch. Die drei restlichen Mitspieler verhielten sich dagegen den Umständen entsprechend, und nicht nur deshalb betrachtete sie Kalle als bloße Staffage für seine glückliche Hand.

Rainer, der dürre, kettenrauchende Gardinenverkäufer aus dem Hertie in der Karl-Marx-Straße besaß das sorglose Gemüt von Schweinchen Fiedler, und die beiden senilen Rentner imitierten mit ihrem schrillen Gezänk zweifellos A- und B-Hörnchen. Die stetige Kabbelei hinderte sie aber nicht daran, unverdrossen weiterzuspielen und vor allem brav ihre anwachsenden Schulden zu begleichen.

Ja, dieser Abend verwöhnte Karl Urban. Neben seiner rechten Hand stapelte sich das gewonnene Geld, und vor ihm wartete eine Flasche „Mampe Halb und Halb“. Den an ihrem Hals baumelnden kleinen Elefanten hatte er schon eingesteckt, denn die vierjährige Tochter seiner Nachbarin sammelte leidenschaftlich die weißen Plastiktiere.

„Auf Fortuna, Jungs! Irgendwann küsst sie auch Euch, also runter mit der Plörre.“ Gutgelaunt prostete Kalle mit dem Magenbitter in die Runde und setzte zufrieden das Glas ab. So gut wie heute war es schon lange nicht mehr gelaufen, er hatte eine unglaubliche Glückssträhne, was konnte da noch schiefgehen?

„Na, Urban, zockst Du wieder Deine Kumpels ab?“ Die heisere Stimme durchtrennte wie ein rostiges Messer Kalles dumpfe Wolke aus Selbsttäuschung und übersteigertem Ego. Unwillig blickte er auf und bemerkte erst jetzt, dass ein Neuankömmling den Raum betreten hatte.

Den untersetzten Mann wärmte ein dunkelblauer Caban, auf dem der Schnee feuchte Flecke hinterlassen hatte, und seinen Kopf schützte eine Pudelmütze, die er gerade bedächtig abnahm. Unter der wollenen Mütze kam eine dichte Haarmähne zum Vorschein, die ihn zusammen mit dem ungepflegten Schnauzbart eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem jungen Stalin verlieh.

Genau wie auf den noch vor zehn Jahren in der DDR aufgestellten Bannern, dominierte das scheinbar sympathische Gesicht ein eingefrorenes väterliches Lächeln, dessen Verlogenheit Karl Urban nicht zum ersten Mal bis aufs Blut reizte.

„Szymanek, Du rote Sau, Dich haben Sie auch vor 45 übersehen!“ Kalle lehnte sich zurück, und bedachte Horst Szymanek mit einem hasserfüllten Blick. Der bekennende Kommunist ging ihm mit seinen linken Parolen schon seit Jahren mächtig auf die Nerven, und dazu kam, dass der „rote Horst“ auch noch ein eiskalter Spieler war. Mit seiner bedächtigen Art hatte er Kalles Abzocke bereits des Öfteren verheerend gebremst und ihm sogar einige lukrative Partien gründlich verdorben. Außerdem trank der Mistkerl nur mäßig während seiner glücklicherweise seltenen Kneipenbesuche, und auch heute hatte er sich nur ein kleines Helles zapfen lassen.

Mit der Tulpe in der Hand, verharrte er neben der Tür und ignorierte geflissentlich Kalles verbalen Ausrutscher. Scheinbar gelangweilt nippte er an dem Bier und zündete sich dann eine seiner stinkenden Ostzigaretten an. Behaglich paffend, setzte er sich auf den an der Wand stehenden Hocker, und begann aufmerksam das laufende Spiel zu verfolgen.

Grauer Qualm umhüllte langsam den „roten Horst“, und seine von der Stehlampe angestrahlte Silhouette verdüsterte zunehmend Kalles Stimmung. Finster vor sich hinstarrend, klopfte er eine Overstolz aus dem Päckchen und riss unbeherrscht ein Streichholz an. Der Zündkopf flammte erst beim zweiten Versuch auf, und Gardinen Rainer, der gewitzt aus vielen, unerfreulich verlaufenden Spielen, ihn besorgt beobachtete, atmete tief durch. Mit einer betont lässigen Geste klopfte er zweimal auf den Tisch und verkündete, ohne Urban direkt anzublicken: „Sei mir nicht böse Kalle, aber für heute reicht es wirklich. Also Tschüss, nächste Woche, wie immer, gleiche Zeit, gleiche Stelle!“

„Ja, verzieh Dich nur, und vergiss nicht zu blechen.“ Kalle erheiterte nicht einmal die Anspielung auf Friedrich Lufts wöchentliche Abschiedsworte im RIAS. Verbittert starrte er zu dem leergewordenen Stuhl, auf den sich jetzt, wie konnte es auch anders sein, der „rote Horst“ niederließ.

Pedantisch drückte der Angeber seine Ost-Juno in dem überquellenden Aschenbecher aus und blickte Urban herausfordernd an. „Na Sputnik, Lust auf eine Runde unter richtigen Männern? Immer nur unterdrückte Proletarier ausnehmen, das ist doch auf die Dauer unbefriedigend, oder?“

„Was faselst Du denn da? Lass gefälligst meine Kumpels in Ruhe. Wenn Du geknechtete Arbeiter vollquatschen willst, dann geh gefälligst nach Drüben, hier hält Dich bestimmt keiner auf!“

„Ja, Kalle, watt will der Bolschewik überhaupt von uns?“ Kulieckes vom Alkohol- und Tabaknebel betäubter Verstand fühlte sich ebenfalls angegriffen, obwohl er den tieferen Sinn der Beleidigung nicht einmal ansatzweise erkannt hatte. Kalle dagegen, der aus bitterer Erfahrung wusste, wie schnell der Kommunist aus einer anscheinend harmlosen Bemerkung ein loderndes Feuer zu entfachen vermochte, versuchte den beginnenden Disput krampfhaft eine ihm genehmere Wendung zu geben. Sich an seine Zechbrüder wendend, nickte er ihnen beruhigend zu, und blickte dann Szymanek drohend an. „Na gut, Hotte! Wenn Dich schon der Hafer sticht, dann zeig uns doch mal ob Du es wirklich drauf hast! Aber diesmal ohne Deine üblichen Tricks oder Rückzieher, kein dummes Gequatsche, klopf einfach nur die Karten. Und, flenn nicht etwa, wenn wir Dir die Taschen leeren!“

„Keine Angst, Sputnik! Ich weiß mit Anstand zu verlieren.“ Statt das Spiel aufzunehmen, erhob sich Szymanek und schlüpfte aus seiner Caban-Jacke. In aller Ruhe hängte er sie über die Stuhllehne, zog aus der Innentasche eine Börse und legte sie vor sich auf den Tisch. Kalle, den die umständliche Prozedur bis aufs Blut reizte, verdrehte die Augen, und musterte Kuliecke auffordernd. Der verstand den unausgesprochenen Hinweis trotz seines derangierten Zustandes sehr wohl, und lallte undeutlich: „Watt denn, wird Dir jetzt schon heiß? Wir ham Dir doch noch jar nicht Zunder jejeben.“

„Ach Fritzchen, Du hast es gerade nötig. Anstatt hier den Obermacker zu mimen, solltest Du lieber gut aufpassen, denn jetzt erhältst Du eine unvergessliche Lektion. Völlig gratis, und von Herzen kommend.“

„Verdammter roter Spinner.“ Der Rest des undeutlichen Gemurmels verstand selbst Kalle nicht mehr, und Szymanek, der anscheinend noch auf eine weitere Beschimpfung gewartet hatte, ergriff ungefragt die Karten. Mit seinen derben Händen teilte er den Stapel und wölbte die beiden Hälften mit den Daumen nach innen. Nach und nach verringerte er den Druck und fächerte geschickt die Karten ineinander. Die für einen Laien recht routiniert wirkende Prozedur wiederholte er mehrmals, was Urban, der seinen Blutdruck in bedrohliche Höhen steigen fühlte, erneut aufregte. „Es hat sich schon einmal einer zu Tode gemischt, gib endlich!“

„Du willst Dich über Beerdigungen unterhalten? Na, dann bestell doch schon mal einen Kranz.“ Locker aus dem Handgelenk verteilte Szymanek das Blatt auf dem Tisch und eröffnete damit eine Reihe von Partien, die Kalle bald wie ein Strafgericht der neidischen Glücksgöttin vorkamen. Die ihm sonst so geneigten Königinnen schienen alle Beleidigungen, die er je gegenüber irgendeiner Frau geäußert hatte, gnadenlos rächen zu wollen, und als wenn das nicht genug war, verschlimmerte sein unbeherrschter Jähzorn auch noch die zumeist ausweglosen Situationen.

Dazu kam, dass die Spiele durch das Fehlen der „Bank“ mehr einer Pokerpartie als dem vertrauten 17 + 4 glichen, und die Einsätze zum Entsetzen der verbliebenen Kumpane bald ungeahnte Höhen erreichten. Angesichts seines schmelzenden Geldhaufens vergaß Kalle nun jede Vorsicht und reizte trotzig noch die trostlosesten Blätter aus, so dass sich am frühen Morgen selbst sein unantastbarer Notgroschen in Luft aufgelöst hatte.

Was für ein entsetzliches Debakel! Fassungslos starrte Kalle auf die leere Fläche neben seiner rechten Hand und konnte es einfach nicht fassen. Wie hatte ihn das rote Schwein nur so über den Tisch ziehen können?

„Na, was ist los Sputnik? Wie gewonnen so zerronnen? Geht`s jetzt ab in die Heia, oder traust Du Dir noch eine letzte Runde zu? Ich nehm auch einen Schuldschein, vorausgesetzt, Deine Sauklaue ist noch einigermaßen lesbar.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schnippte Horst Szymanek drei Karten über den Tisch, und Kalle, der schon längst nicht mehr Herr seiner selbst war, nahm sie automatisch auf. Sie auseinanderfächernd, musterte er hilflos die erbärmliche Herz Sechs und den grinsenden Kreuz König, und wusste nur eines, der Mist war zu viel zum passen, und zu wenig zum gewinnen.

Den nahenden Untergang vor Augen, fühlte Kalle wie ihm der Schweiß ausbrach, und von seinem Haaransatz in den Kragen sickerte. Klebrige, eiskalte Furcht schüttelte den gedemütigten Mann, der gerade noch die Kraft besaß, sich mit einem Stofftaschentuch das Gesicht abzuwischen. Der „rote Horst“, der ihm dabei amüsiert beobachtete, bleckte seine vom Nikotin verfärbten Zähne zu einem wölfischen Grinsen. „Was nun, reicht’s Dir, oder brauchst Du noch einen dritten Glücksbringer?“

Karl Urban nickte stumm, und schon rutschte eine Karte über den Tisch und kam direkt vor seinen Fingerspitzen zur Ruhe. Ihre rote Oberfläche leuchtete unschuldig, ja verheißungsvoll, während ihre verdeckte Seite ihm wie der Bote eines ungerechten Schicksals erschien.

Trumpf oder Lusche, fragte es ihn, Glück oder Verderben? Die Antwort war simpel, er musste nur das hässliche Stück Pappe umdrehen, das wie eine rostige, nicht entschärfte Fliegerbombe mitten auf dem Tisch lauerte.

Kalle atmete tief durch, dann wendete er die Spielkarte mit dem Zeigefinger um, und eine Pik Neun grinste ihm frech ins Gesicht. Eine verdammte Neun, die ihm in so vielen, vorangegangenen Spielen das Leben gerettet hätte.

Resigniert knallte Urban die beiden anderen Verräter ebenfalls auf den Tisch und lehnte sich ergeben, fast teilnahmslos zurück. In seinen Ohren rauschte das Blut und durch das statische Geräusch hörte er eine ferne Stimme höhnen: „Fünf, zusammen eine mickrige Fünf, das nenne ich wirklich Pech!“

„Mensch Horst, muss datt sein? Verscheißern kann sich Kalle alleene!“ Kuliecke blickte Szymanek drohend an, doch der ignorierte den dicken Mann. Überheblich lächelnd, zog er ein Notizbuch aus der Jacke, riss ein Blatt heraus, und legte es zusammen mit einem blauen Plastikkugelschreiber auf den Tisch.

„Dreihundert Mäuse, Kalle! Drei schöne Dürerbilder für den braven Horst! Schreib es einfach auf und vergess nicht Deine Unterschrift.“

Kuliecke hielt unwillkürlich die Luft an, auf einen so provokanten Tonfall antwortet sein Freund normalerweise mit der Faust. Ein satter Uppercut, und schon hätte er das Problem geregelt. Aber an diesem unseligen Abend galt das Gesetz der Straße nicht mehr, Kalle saß wie versteinert auf dem Stuhl, und sein Blick verlor sich in wesenlosen Fernen. Szymanek, der die Anzeichen sehr wohl zu deuten wusste, stichelte weiter: „Hey Sputnik, komm zurück aus dem Kosmos, Du wirst noch auf der guten alten Erde gebraucht.“

Gebieterisch klopfte der „rote Horst“ auf den Zettel, und als keine Reaktion erfolgte, trank er erst einmal den letzten Schluck Pils. Sich pedantisch den Schaum von den Lippen wischend, starrte er auf den provisorischen Schuldschein und schüttelte nachdenklich den Kopf. Unmerklich zogen sich seine Augen zusammen, so als wenn ihm gerade eine gute Idee erleuchtet hätte, und schlug dann unvermittelt vor: „Warte mal Kalle! Soviel Gedöns um die bourgeoise Kohle! Das ist doch nicht gerade solidarisch unter uns Proletariern, was? Das müssen wir doch anders, ich meine, irgendwie vernünftiger regeln können.“

Horst Szymanek gestattete sich ein gekünsteltes Lächeln. „Jetzt mal ehrlich, ich geb`s ja zu, Du hast eine Pechsträhne, aber die endet normalerweise spätestens in der nächsten, oder übernächsten Runde. Mensch Sputnik, Kalle, das Glück verlässt Dich doch auch sonst nicht so schnell; Du musst nur fest daran glauben, dann geht die Sonne wieder auf.“

Um seine hoffnungsvollen Worte zu bekräftigen, knüllte Szymanek den Zettel zusammen, und legte die Hände flach auf den Tisch. Die friedfertige Geste senkte beträchtlich das aggressive Klima im Raum, und da der sonst so geizige Mann die Stimmung noch etwas mehr heben wollte, gab er sogar eine Runde aus. Auf seinen auffordernden Blick hin erhob sich Kuliecke, um im Schankraum sechs „Halbe“ zu ordern.

Während hinter der beachtlichen Wampe von „Schweinchen Schlau“ die Tür zufiel, wendete sich Szymanek erneut an Kalle und forderte beharrlich: „Jetzt aber Nägel mit Köpfen, doppelt oder nichts! Mit einem bisschen Glück gehst Du hier schuldenfrei raus, und wenn nicht, na, dann gewähre ich Dir im schlimmsten Fall einen doppelten Kredit!“

Das klang zumindest für Kalles nur noch teilweise zurechnungsfähigen Verstand absolut fair. Nach der letzten, beschissenen Woche erschien ihm jeder noch so dürre Strohhalm fast wie ein Geburtstagsgeschenk, und so nickte er zustimmend und betrog damit letztendlich nur sich selbst. Ohne nachzudenken, verriet er seine harmlosen Träume für ein trügerisches Blatt, dass ihm Szymanek scheinheilig lächelnd hinschnippte.

Die Karten schlitterten schneller über die Tischplatte, als Kalles verschleierter Blick ihnen folgen konnte, und auf einmal erschienen sie ihm wie die dunklen Boten einer Nemesis, die ihn endgültig in die Knie zwingen wollte.

Seine eigene Dummheit nachträglich verfluchend, öffnete er dennoch die Büchse der Pandora, und starrte, starrte ohne zu begreifen, auf das kleine Wunder in seiner Hand.

Pik König, Karo As, und eine wunderbare, unfehlbare Neun! Das war es, das rettete ihm den Hals, das gab dem roten Arschloch endgültig den Rest!

„Zwanzig, Hotte, grandiose, unbesiegbare Zwanzig!“

„Ach Sputnik, wann wirst Du es endlich lernen? Das Spiel heißt nicht ohne Grund Siebzehn und Vier.“ Mit einer flüchtigen, geradezu verächtlichen Handbewegung präsentierte Szymanek seine ganz eigene Version der Apokalypse und blätterte drei ihrer Reiter auf den Tisch: Eine Neun, und zwei Sechsen!

„E I N U N D Z W A N Z I G, Du schuldest mir sechshundert Mark.“ Jedes weitere Wort übertönte Karl Urbans wütendes Geschrei. Unflätige Beschimpfungen brüllend, erhob er sich unsicher, stieß den Stuhl zurück, und starrte Szymanek hasserfüllt an. „Dich mach ich jetzt fertig, Du rote Sau! Danach erkennt Dich nicht einmal mehr Deine eigene Mutter wieder!“

„Mensch, Kalle, mach doch keinen Scheiß“ Kuliecke versagte fast die Stimme, als er vergeblich versuchte seinen Kumpel zu beruhigen. Doch der so schrecklich gedemütigte Mann hatte sich inzwischen derart aufgeregt, dass er keinen verbalen Argumenten mehr zugänglich war. Schwankend begann er den Tisch zu umrunden, die Fäuste geballt für den finalen Schlag, der ihn von allen Qualen erlösen würde. Nur noch wenige Schritte trennten ihn von seinem Opfer, als die Zimmertür gegen die Wand krachte. In ihrem Rahmen stand der nicht minder zornige „dünne Herbert“ und flüsterte mit heiserer Stimme: „Was habe ich Euch immer wieder gepredigt? Keine Händel unter meinem Dach!“

Kuliecke musste trotz des ihn würgenden Brechreizes unwillkürlich grinsen, da hatte Kalle ja wieder einmal die Rechnung ohne den Wirt aufgemacht. Hinter Herbert Naumann, dem allmächtigen Budiker des „Schwarzen Kater“ versperrten zwei massige Silhouetten den Blick in den Schankraum; ohne jeden Zweifel gehörten sie den Bierkutschern aus der nahen Schultheiss-Brauerei, die sich gerade einen Feierabendschluck genehmigten. Die durch nichts zu erschütternden Kolosse rollten mehrmals in der Woche fünfzig Liter-Fässer in die Kneipen, und zu besonderen Anlässen lenkten sie immer noch ihre Pferdezüge durch den Bezirk. Fast jeder der Kutscher besaß eine eiserne Konstitution, und das Bändigen eines volltrunkenen Berserkers gehörte wahrscheinlich mit zu ihren leichteren Übungen.

Wie ferngesteuerte Maschinenmenschen nahmen sie nun Kalle in die Zange, packten mit eisernem Griff seine Arme, und hebelten sie ihm auf den Rücken. Derart kaltgestellt, half ihm auch kein unbeherrschtes Aufbegehren; jeder Versuch sich loszureißen, beantworteten die hartgesottenen Burschen mit einem Boxhieb in die Nieren. Nach dem dritten Schlag gab Urban endlich auf, und blickte Naumann mit dem letzten, flackernden Rest von Widerstand trotzig an.

Den Wirt beeindruckte das grimmige Gesicht nicht im Geringsten, dafür hatte er einfach zu viele hässliche Lebensläufe kennengelernt; erschütternde Dramen, die ihn fast bis zur Gefühlslosigkeit abstumpfen ließen. Eiskalter Pragmatismus statt jämmerliches Mitleid füllte die in seinem Herzen entstandene Leere, und so hatte er auch heute kein Problem damit, Peter und Gerd ungerührt zu befehlen: „Setzt das besoffene Schwein endlich an die frische Luft! Aber vorher…“

Herbert Naumann bedachte Szymanek mit einem warnenden Blick, „Sieh zu, dass Du Land gewinnst, und Dich zu Deinen Kumpels trollst! Ich kann keinen Zoff vor meiner Kneipentür gebrauchen, die letzte von Euch angezettelte Bullenrazzia ist mir schon teuer genug zu stehen gekommen.“

„Spielen Sie sich nicht so auf, Naumann, Sie haben selber genug Dreck am Stecken! Da benötigen die Senatsbüttel wohl kaum meine, oder Sputniks Hilfe, um ihr Etablissement zu durchfilzen.“ Der Stalin so beängstigend ähnelnde Mann schlüpfte in seine Jacke und begann sie zuzuknöpfen. „Ansonsten, danke, dass Sie eingegriffen haben, damit haben Sie Urban eine Menge Ärger erspart.“

Szymanek schenkte dem grollenden Riesen einen warnenden Blick. „Nächsten Monat, Sputnik! Solange lasse ich Dir Zeit um das Geld einzutreiben, dann stehst Du mit den sechshundert Riesen hier auf der Matte…“ Mit einer Kopfbewegung überzeugte sich Szymanek davon, dass der Budiker ein erneutes Treffen in seiner Kneipe durchaus akzeptierte, „Also in vier Wochen, vorne an der Theke! Vergiss das bloß nicht, und versuche nicht Dich zu drücken! Du weißt ja was passiert, wenn sich meine Genossen Deiner annehmen!“

Szymanek ballte die rechte Hand zur Faust, bedachte die ihn finster anstarrenden Männer mit der in Westberlin verpönten Losung „Freundschaft“, und verließ aufreizend langsam das Hinterzimmer. Hinter ihm fiel die Lokaltür mit einem derart provozierenden Knall zu, dass der sonst durch nichts zu erschütternde Wirt unbeherrscht schimpfte: „Idiot!“

„Verfluchte Idioten!“ wiederholte er wütend, und wandte sich an den anderen Störenfried. „Was ist nun, Sputnik? Hast Du Dich wieder eingekriegt?“ Karl Urban nickte nur, und Naumann fuhr fort: „Dann zisch ab, und sieh zu, dass Du spätestens Morgen Deine offenen Bierdeckel begleichst, sonst kannst Du Dir eine andere Kneipe suchen. Mir reicht es nämlich.“

„In drei Tagen, dann bin ich wieder flüssig.“ Kalle schüttelte die ihn nur noch locker festhaltenden Fäuste ab und verließ ohne ein weiteres Wort den „Schwarzen Kater“. Mühsam seine ungeheure Wut unterdrückend, torkelt er über die Fahrbahn zu der gegenüberliegenden Häuserfront, und schloss die schwere Holztür mit der Nummer 101 auf. Seine Bude lag zum zweiten Hof hinaus, und als er endlich in sie hineinwankte, erfüllte ein gleichmäßiges Rauschen seinen Kopf. Nicht mehr Herr seiner selbst, ließ er sich angekleidet auf das ungemachte Bett fallen, und driftete schon nach wenigen Minuten in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Requiem für West-Berlin

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