Читать книгу Operation Spandau - Reginald Rosenfeldt - Страница 3
1.
ОглавлениеMichael Herold schloss seinen Wagen ab und betrachtete nachdenklich die Häuser auf der anderen Straßenseite. Wie es sich für die verschlafene Spandauer Altstadt gehörte, brannte hinter fast allen Fenstern kein Licht mehr und auch in den Geschäften hatte sich die Beleuchtung automatisch ausgeschaltet. Am nahen Rathausvorplatz zerschnitt für Sekunden das typische Geräusch eines anfahrenden BVG-Busses die Stille und Michael grinste ironisch. „Alles tote Hose“, dachte er, „absolut tote Hose“. Oder wie man es in den anderen Berliner Bezirken wesentlich treffender auszudrücken pflegte, in Spandau hatte der als Touristenattraktion eingesetzte Nachtwächter wieder einmal die Bürgersteige hochgeklappt.
Erheitert steckte Michael das Etui mit den Wagenschlüsseln in die Hosentasche und blickte auf seine Armbanduhr: 23:10 Uhr, nur noch eine Dreiviertelstunde bis Mitternacht. Das war ja genau der richtige Zeitpunkt für ein gemütliches Treffen mit Polen-Charly. Michael zog den Reißverschluss seines Blousons hoch, überquerte den Damm und betrat die Grünanlage am Stadtgraben. Hinter den Stämmen der wenigen Bäume erkannte er den Schatten des Kriegerdenkmals, und am Ende des kurzen Sandweges erhellte eine Laterne die zum Lindenufer hinüberführende Fußgängerbrücke.
Michael Herold schritt bis zur Mitte des leicht gewölbten Betonstegs, blieb stehen und musterte das Lindenufer. Die Promenade lag am westlichen Ufer der Havel und noch vor wenigen Monaten flanierten hier tagsüber die sonnenhungrigen Spaziergänger. Jetzt erinnerte an diese unbeschwerte Zeit höchstens noch das hölzerne Schild der „Stern und Kreis Schifffahrt" und Michael musste unwillkürlich an seinen geplanten Ausflug zum Wannsee denken. Wie in den letzten Jahren hatte er sich die Fahrt zum Saisonbeginn vorgenommen und sie dann solange verschoben, bis die Gesellschaft pünktlich zum Herbstanfang ihren Betrieb eingestellt hatte. An ihrer verwaisten Anlegestelle überwinterten nun die Dampfer eines Spandauer Reeders und Michael hörte bei ihrem Anblick wieder Charlys gebrochene Stimme im Telefonhörer krächzen.
„Treffen wir uns am besten auf der „Frohsinn“. Kannst du den Kahn gar nicht verfehlen, liegt er gleich vorn an der Brücke zum Stabholzgarten. Kommst Du einfach an Bord, hab ich das mit dem Kapitän abgesprochen. Trinken wir zuerst ein, zwei Schnäpschen und dann reden wir. Bitte Michael, gibt es große Neuigkeiten, wirst du begeistert sein!“
„Und wie, mein Freund, und wie“! Michael schüttelte den Kopf und versuchte möglichst nicht an Charlys letzte Tipps zu denken. Die zuerst so vielversprechend klingenden Informationen hatten sich nämlich in der Vergangenheit sehr schnell als völlig wertlose Gerüchte erwiesen, auf die höchstens noch das Feuilleton hereinfiel. Ja, Harald Seib und die von ihm betreute Klatschspalte, das waren genau die richtigen Abnehmer für Charlys Schauergeschichten.
Michael Herold verzog bei dem Gedanken an den Kollegen das Gesicht und betrat das Lindenufer. Mächtige Kastanien säumten die breite Promenade und jenseits eines niedrigen Metallgitters ankerte ein kleiner Dampfer. Michael überzeugte sich durch einen Blick auf den Namenszug am Bug, dass er wirklich vor der „Frohsinn“ stand und betrachtete dann das Schiff etwas genauer: Auf seinem Vorderdeck stapelten sich unter einer Plane winterfest vertäute Stühle und hinter den zugezogenen Gardinen des Bordrestaurants schimmerte Licht.
Michael nickte befriedigt und setzte seinen Fuß auf die zur „Frohsinn“ führende Planke. Vorsichtig balancierte er hinüber, rollte die Schiebetür zurück und bestieg das Schiff. Vor ihm lag ein quadratischer Raum, den nur das Licht ferner Straßenlaternen erhellte und Michael verharrte in seiner Mitte. Aufmerksam musterte er einen Moment die Treppe zum Oberdeck und registrierte dabei die unheimliche Stille auf dem Dampfer. Sollte Charly noch gar nicht an Bord sein? Zuzutrauen war es ihm, denn der alte Mann hasste jede Form von Reglement und dazu zählte er vor allem auch die deutsche Pünktlichkeit.
Michael nahm sich vor, nicht länger als eine Viertelstunde zu warten und ging zu der Tür neben dem leeren Andenkenstand. Ohne zu zögern drückte er die Klinke nieder, stieß die Tür mit der flachen Hand auf und blickte direkt in die misstrauischen Augen zweier ihm völlig unbekannter Männer. Die breitschultrigen Kerle blockierten mit locker hängenden Armen den Durchgang und Michael fluchte lautlos.
„Shit, Charly hatte nichts davon gesagt, dass seine dubiosen Geschäftspartner auch kommen wollten!“ Mit einem arroganten Lächeln überspielte Michael Herold seine Überraschung und musterte die schweigsamen Fremden. Aber ja, natürlich: Ausdruckslose Gesichter, akkurate Frisuren und locker geschnittene Wetterjacken; die Merkmale waren so eindeutig, dass sich Michael unmerklich wieder entspannte. Mit einer übertrieben vorsichtigen Bewegung hielt er seine rechte Hand in die Höhe und nickte den beiden aufmunternd zu.
„Ganz langsam, meine Herren! Ich ziehe jetzt nur meinen Presseausweis aus dem Blouson.“
„Lassen Sie gefälligst die Witze und kommen Sie zu mir rüber!“ Die polternde Stimme besaß einen erschreckend vertrauten Klang und Michael verzichtete auf eine Antwort. Immer noch lächelnd schob er sich an den Polizisten vorbei und schritt durch den im Halbdunkel liegenden Raum. An seinem Ende stand zwischen den beiden zum Heck führenden Türen ein weißlackierter Holztresen und hinter ihm wendete ein massiger Mann Michael den Rücken zu. Die Hände in die Taschen seiner hüftlangen Lederjacke gestopft, betrachtete er gelangweilt die drei Bilder über dem Flaschenregal und murmelte: „Armer Kerl, man könnte meinen das Heimweh hat ihn nach St. Pauli zurückgeführt.“
Der Mann klopfte mit dem rechten Zeigefinger gegen den rahmenlosen Glasträger. „Da denkt man unwillkürlich an die „Große Freiheit Nr. 7“ oder die verdammten weißen Tauben, und dann ist die Wirklichkeit so banal: Der blonde Hans filmte damals gerade im Kiez und nutzte die Drehpause einfach für ein werbeträchtiges Foto.“
„Bitte, Kowalski! Sie wollen doch nicht wirklich mit mir über Hans Albers plaudern.“ Herold ignorierte die an einer der Hamburger Landungsbrücken entstandene Aufnahme und blickte sich suchend um. „Also, was ist es diesmal? Lassen Sie mich raten, Ihre Kollegen vom Zoll haben Charly bei der illegalen Einfuhr zollfreier Waren erwischt."
„Gesellen Sie sich einfach zu mir!“
„Was immer Sie sagen, das ist Ihre Show.“ Herold übersah den strafenden Blick der blass grauen Augen und schlenderte zu dem Schanktisch. Äußerlich völlig unbeteiligt, umrundete er das mit einem Rettungsring dekorierte Möbelstück und dann traf ihn der Schock mit der Intensität eines unerwarteten Stromschlages.
„Mist!“ Michael starrte regungslos auf die weiße Markierung am Boden. Ohne jeden Zweifel stellte sie den Umriss eines liegenden Körpers dar und in der Höhe des Kopfes verschmierte ein roter Fleck die abgenutzten Planken.
„Charly?“
„Ja. Ihr alter Kumpan Polen-Charly.“ Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck blickte Kriminalhauptkommissar Hans-Jürgen Kowalski auf den breiten Kreidestrich hinab. „Es muss sehr schnell gegangen sein. Der alte Mann hat den tödlichen Hieb bestimmt nicht mehr gespürt. Zack und vorbei war es mit der Hehlerei.“
„Sehr plastisch ausgedrückt, Kowalski. Das könnte fast eine Schlagzeile von mir sein.“
„Ach kommen Sie, die Leser Ihrer Zeitung sind doch noch ganz andere Schmierereien gewohnt.“
Michael Herold überhörte die offensichtliche Provokation und versuchte sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. Mit ausdrucksloser Miene trat er hinter dem Tresen hervor, und sofort knurrte Kowalski gereizt. „Der gewaltsame Tod Ihres Geschäftsfreundes scheint Sie aber nicht besonders zu überraschen.“
„Mein Gott, sie wissen doch genauso gut wie ich, dass es irgendwann so enden musste. Das war doch nur eine Frage der Zeit.“
„Ach ja? Sprechen Sie sich nur ruhig aus.“
„Ich bitte Sie, Kowalski! Ihnen muss ich doch nicht erzählen, dass ich Charly mehrmals förmlich angefleht habe, endlich seine unbedachten Prahlereien zu unterlassen. Nach ein paar Gläsern Wodka stellte er selbst seine besten Freunde bloß und für die richtige Summe war er fast zu jeder Schweinerei fähig.“
„Ja klar, und die dreißig Silberlinge bezahlten Sie einfach aus der Portokasse.“ Kowalskis breites Gesicht verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse und er deutete mit einer vagen Handbewegung in den Raum hinein. „Es wird Zeit, dass wir uns ernsthaft unterhalten!“
„Kein Problem.“ Michael Herold drehte sich um und musterte kurz das Bordrestaurant: Rechts und links vom Mittelgang standen fünf Tischreihen, die genau wie die dazugehörenden Bänke am Boden festgeschraubt waren. Michael schritt auf die nächste Bank zu, setzte sich und kramte ein Zippo aus dem Blouson. Aufreizend ruhig ließ er die Flamme über die Spitze einer Mentholzigarette züngeln und schnippte dann den Verschluss mit einem lauten Klicken wieder zu. „Also gut, was wollen Sie von mir hören?“
„Immer langsam mit den jungen Pferden.“ Kommissar Kowalski ließ sich an der anderen Seite des Tisches nieder und zog bedächtig einen abgegriffenen Plastikkalender aus seiner Lederjacke. Mit geschürzten Lippen durchblätterte er ihn bis zum letzten Drittel und streckte ihn dann Herold mit einem provozierenden Lächeln entgegen. „Beachten Sie bitte die Eintragung in der zweiten Zeile.“
Herold beugte sich vor und betrachtete flüchtig die seltsamen Abkürzungen neben Kowalskis Daumen: „3.10.-23.00 Uhr, MH!!! 1000 S!“ Das entsetzliche Gekrakel hatte einwandfrei der alte Mann niedergeschrieben.
„Dreiundzwanzig Uhr, heute Abend! Ja natürlich, Charly wollte sich um diese Zeit mit mir treffen.“
„Gut, gut, dann wäre zumindest das geklärt! Ansonsten meine Gratulation, Tausend was auch immer, das ist schon eine stolze Summe für eine Information.“
„Wenn Sie Schillinge akzeptieren, setze ich Sie auch auf meine Liste.“
„Sparen Sie sich Ihren merkwürdigen Humor lieber für die nächsten Artikel auf.“ Kowalski bedachte Herold mit der Karikatur eines herzlich wirkenden Grinsens, das schon so manchen weniger Hartgesottenen eingeschüchtert hatte. „Diese Verabredung, haben Sie irgendeine Ahnung, was Ihnen Charly diesmal verkaufen wollte?“
„Nicht definitiv. Er rief mich gestern Abend überraschend an und versprach mir wieder einmal das Blaue vom Himmel. Sehr blumenreich und pathetisch, ohne sich wirklich konkret zu äußern.“
„Sie vergeuden Ihre kostbare Zeit doch nicht mit dem sinnlosen Geschwafel eines alten Mannes?“
„Auch hohle Phrasen enthalten oftmals ein Körnchen Wahrheit.“ Michael Herold lehnte sich zurück und starrte durch die Scheibe neben seiner Schulter in die Nacht hinaus. Vom anderen Havelufer leuchteten ihm wie ferne Fixsterne die gelblichen Lichtpunkte zweier Fenster entgegen und über ihnen bewegte sich unruhig Kowalskis mattes Spiegelbild. Der Kommissar räusperte sich lautstark und Michael drehte sich wieder um.
„Ich recherchiere jetzt seit einem halben Jahr für eine Serie über den Transitschmuggel. Eine Heidenarbeit, die ohne Charlys recht profunde Insiderkenntnisse gar nicht möglich gewesen wäre.“ Herold lächelte Kowalski herausfordernd an. „Ich denke mal, meine Enthüllungen über die Stadtreinigung sind auch an Ihnen nicht ganz spurlos vorbeigegangen.“
„Ah ja, die leidige BSR-Affäre. Die knalligen Titelseiten waren nicht zu übersehen.“
„Die Reportage verhalf den Mannschaften von mindestens drei Müllwagen zu einer empfindlichen Geldstrafe und ließ außerdem die gesamte Chefetage ziemlich im Regen stehen!“ Michael Herold lachte leise auf. „Aus der heutigen Sicht kann ich die Frechheit der Müllmänner eigentlich nur bewundern. Die Kerle gehörten einem Trupp an, der die in der DDR gelegene Deponie belieferte. Seelenruhig schweißten sie an ihre Laster unauffällige Metallkästen und tarnten sie als zusätzliche Müllcontainer. Dann fuhren sie wie gehabt zur Deponie, übernahmen dort von einem Mittelsmann zollfreie amerikanische Zigaretten und schmuggelten sie auf der Rückfahrt völlig gefahrlos durch den Kontrollpunkt. Die Sache wäre wahrscheinlich nie aufgeflogen, wenn die Herren nicht einen polnischen Hehler eingeschaltet hätten. Der informierte natürlich Charly und schon tippte ich meinen ersten Bericht.“
„Braver Charly!“ Hans-Jürgen Kowalski ergriff den vor ihm liegenden Kalender und schlug noch einmal die Seite mit der letzten Eintragung auf. „Heute Abend, erwarteten Sie da eigentlich ähnlich hochbrisantes Material von Ihrem geschwätzigen Freund?“
„Bitte Kowalski! Sie sagen es doch selber: Charly war im Grunde genommen nichts anderes als ein unermüdlicher Geschichtenerzähler. In genau dieser geheimnisvollen Manier rief er mich auch gestern an und befahl mich einfach auf die „Frohsinn“. Natürlich ohne die geringste Andeutung über das anstehende Thema: Exakte Details sollte ich schließlich erst hier und jetzt erfahren.“
„Dazu ist es ja nun nicht mehr gekommen.“
„Seien Sie doch nicht so verdammt zynisch! Vielleicht ging es Charly ja auch nur um ein Gespräch. Einen kleinen Plausch unter Freunden bei einer Flasche Wodka.“
„Mir kommen gleich die Tränen.“ Gereizt fuhr sich Kowalski mit der flachen Hand durch sein schütteres rötliches Haar. „Ehe ich jetzt noch etwas sage, was uns beiden nicht gefällt, kommen wir lieber zum Thema zurück. Also Charly merkte Sie exakt für 23:00 Uhr vor; das war genau zwei Stunden nach seinem Treffen mit dem Spree-Heinz.“
„Davon weiß ich nichts. Charly hat mir gegenüber keine andere Verabredung erwähnt.“
„Der Spree-Heinz ist der honorige Barkeeper dieses maroden Kahns und ein ziemlich cleverer Bursche. Laut seiner eigenen Aussage plante er schon seit Wochen einen kostendeckenden Deal mit Charly. Leider verzögerte der Besuch einer Dame die noble Absicht, und der gute Heinz verließ erst um 21:15 Uhr seine Wohnung. Da war die Schweinerei schon gelaufen und er konnte nur noch über Charlys Leiche stolpern.“
Mit einem undefinierbaren Funkeln in den Augen drehte Kowalski den Kopf zur Seite und musterte düster den Tatort. „Ein Gutes hatte es ja für Ihren Freund: Durch seinen unerwarteten Abgang ersparte er sich eine Menge Ärger mit der Zollbehörde.“
„Ihr Sarkasmus ist manchmal einfach unerträglich!“
„Das Leben ist unerträglich. Schauen Sie Herold: Wenn der Spree-Heinz nur eine Viertelstunde früher von seiner Lady gestiegen wäre, dann hätte er vielleicht noch den Mord verhindern können. Aber nein, er bekam einfach nicht die Hosen wieder hoch, und schon nahm das Schicksal seinen Lauf.“
„Ja, ja, das Leben ist hart und der Spree-Heinz besitzt ein Alibi. Apropos Alibi, bleiben wir doch gleich beim Thema.“ Michael schnippte die Glut seiner Zigarette in den vor ihm stehenden Aschenbecher und zog einen Notizblock aus der Blousontasche. In aller Ruhe riss er ein Blatt ab, ergriff den an Charlys Kalender angeklemmten Kugelschreiber und begann mehrere Namen aufzuschreiben. „Zusammen mit diesen Herren habe ich eine Grillplatte in den Balkanstuben gegessen und sie erst vor ungefähr zwanzig Minuten verlassen. Das müssten Sie leicht überprüfen können, zumal die Herren Ihnen nicht ganz unbekannt sein dürften.“
„Ein Arbeitsessen der Sozis! Wahrscheinlich auch noch auf Kosten der Steuerzahler.“ Mit einem verächtlichen Schnaufen überflog Kowalski den Zettel und lehnte sich dann zurück. „Na gut! Sie stehen trotz aller dialektischen Differenzen ohnehin nicht auf meiner Liste, obwohl ich schon Pferde habe kotzen sehen.“ Das Knarren der dunkelbraun gestrichenen Holzplanken unterbrach Kowalskis ohnehin fast beendetes Gespräch. Mit einer betont wichtigen Miene trat der kleinere der beiden Polizisten an den Tisch und meldete: „Die Kollegen von der Spurensicherung sind jetzt mit dem Vorderdeck fertig. Damit können wir eigentlich abrücken, oder brauchen Sie uns noch?“
„Lassen Sie sich nicht aufhalten, ich komme auch allein zurecht und Herr Herold ist ebenfalls im Gehen begriffen.“ Kowalskis stark gerötete Gesichtszüge verzogen sich zu einem nicht die Augen mit einbeziehendem Lächeln, während er den Reporter abschätzend musterte. „Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, melden Sie sich. Meine Nummer steht in Ihrem Filofax.“
„Selbstverständlich; ich kenne meine Pflichten.“ Michael Herold erhob sich und drückte seine Zigarette aus. Dann schritt er, ohne sich noch einmal umzudrehen, durch den nach einem starken Desinfektionsmittel riechenden Raum. Hinter ihm schüttelte der Beamte den Kopf und blickte seinen Vorgesetzten missbilligend an. „Ehrlich gesagt, manchmal verstehe ich dich wirklich nicht, Hans-Jürgen. Warum lässt du diesen elenden Schmierfinken so einfach verschwinden?“
„Keine Angst, der Herr Reporter geht uns schon nicht verloren. Wir brauchen nur unseren Nasen zu folgen, wenn wir Sehnsucht nach ihm verspüren sollten. Der Kerl stinkt nämlich drei Meilen gegen den Wind nach frischer Druckerfarbe.“
Sichtlich erheitert von seinem eigenen Scherz stand Kowalski auf und schlenderte zu der Bar hinüber. Vor der groben Markierung der Spurensicherung blieb er stehen und starrte widerwillig auf den getrockneten Fleck hinab. Noch vor wenigen Stunden hatte hier Charlys regungsloser Körper gelegen, seltsam verdreht, mit einer blutverschmierten Schläfe. Die eigentliche Wunde war fast nicht zu erkennen, und hätte der Schlag den Kopf nur zehn Zentimeter höher getroffen, lebte der alte Mann vielleicht noch...
Kowalski schüttelte unmerklich den Kopf und nickte dem Kollegen zu. „Ich denke, wir können den Laden jetzt versiegeln.“
„Sag ich doch. Alles nur Routine, und viel aufzuwischen gab es auch nicht.“
„Bitte?“
„Na, wenigstens ist der Kerl nicht total ausgelaufen, so wie diese Tussi vorige Woche. Ich hätte nie gedacht, dass ein einzelner Mensch eine solche Sauerei veranstalten kann.“ Der Polizist überflog mit einem verächtlichen Blick den Tatort. „Scheiß Kanaken, langsam aber sicher vermüllen die uns jede Akte.“
„Von dieser Akte werden Sie noch träumen, Schneider. Das verspreche ich Ihnen!“ Hans-Jürgen Kowalskis leise Stimme besaß jetzt einen scharfen Unterton. „Und reißen Sie sich gefälligst zusammen, hier kommt vielleicht mehr Ärger auf Sie zu, als Sie verdauen können.“
Gereizt wandte sich Kowalski ab und begann seine auf dem Tresen verstreuten Unterlagen in einen ledernen Rucksack zu stopfen, während nur wenige Meter entfernt Michael Herold die kalte Nachtluft in tiefen Zügen einatmete. Nachdenklich lehnte er sich an das feuchte Geländer der Anlegestelle und blickte auf den Fluss hinab. Winzige Lichtreflexe tanzten über dem schwarzen Spiegel des Wassers und der auffrischende Wind wehte vom Markt eine ihm nur zu bekannte Melodie herüber.
„Üb’ immer Treu und Redlichkeit“, murmelte Herold und lauschte einen Moment dem leisen Glockenspiel. Die Glöckchen hingen über dem Eingang eines Juweliergeschäftes und heute Abend spielten sie genau das passende Wiegenlied für die braven Spandauer Bürger. „Üb’ immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab.“
Michael Herold verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Lächeln und wandte sich um. Langsam ließ er seinen Blick über das Lindenufer schweifen und nahm dabei jedes noch so unwichtige Detail in sich auf. Die kleinen Dampfer, den von der fernen West-Berliner City rötlich angestrahlten Himmel und die Charlottenbrücke am Ende der Promenade. Die Stahlkonstruktion überspannte den ins Dunkle weiterführenden Weg, und jenseits der Brücke erkannte Michael die Umrisse mehrerer Schiffe. Ohne jeden Zweifel waren das Frachtkähne, die auf eine Passage durch die nahe Schleuse warteten.
Kähne aus Charlys Heimat; das konnte doch kein Zufall sein! Michael Herold kickte mit der Schuhspitze einen Stein zur Seite und betrachtete erneut die „Frohsinn“. Charly hatte ihn bestimmt nicht nur aus einer Laune heraus auf den maroden Dampfer bestellt. Irgendwo an Bord dieses Schiffes - oder in seiner näheren Umgebung-, dessen war sich Herold absolut sicher, lag der Schlüssel für die Geschehnisse der letzten Stunden verborgen.
Einen obszönen Fluch unterdrückend, musterte er noch einmal die erleuchteten Fenster des Bordrestaurants und kehrte dann der „Frohsinn“ endgültig den Rücken zu. Mit großen Schritten ging er das Lindenufer hinab, durchquerte erneut die finstere Parkanlage und eilte zu seinem in der Charlottenstraße abgestellten Wagen. Wie in Trance schloss er den Datzun auf, startete ihn und verließ etwas schneller als es die Straßenverkehrsordnung erlaubte, den Schauplatz des Verbrechens.