Читать книгу Operation Spandau - Reginald Rosenfeldt - Страница 5
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ОглавлениеMichael Herold meinte seine Ankündigung durchaus ernst; gleich am nächsten Vormittag fuhr er in der Kinkelstraße und besuchte zuerst das von Seib erwähnte Sanitärfachgeschäft. Mit einem hilflosen Gesichtsausdruck schlenderte er an den ausgestellten Spiegelschränken vorbei und näherte sich dem zur Straße hin offenen Schaufenster. Vor der Scheibe stand ein Regal mit Mischbatterien und Michael ergriff eines der glitzernden Teile. Unschlüssig drehte er es zwischen den Fingern und schon fragte ihn eine geschulte Stimme: „Guten Tag, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“
„Äh, ja...“ Michael bemerkte erst jetzt den jungen Mann neben der Duschkabine. „Vielen Dank, aber ich warte noch auf meine Frau. Wir haben uns hier verabredet und sie müsste jeden Augenblick eintreffen.“
„Ich verstehe. Schauen Sie sich ruhig um und falls Sie eine Frage haben, rufen Sie einfach.“
„Gerne, ich melde mich.“ Michael Herold legte die Mischbatterie zurück und musterte dabei unauffällig Leo Oblonskys Videothek auf der anderen Straßenseite.
„NO TABU“ verkündete eine erloschene Neonschrift über dem seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr geputzten Schaufenster und hinter der genauso dreckigen Tür verwehrte ein Poster den weiteren Einblick. Michael bedachte die überdimensionalen Brüste auf dem Foto mit einem müden Lächeln und wandte sich wieder um. Absichtlich etwas lauter sprechend, erklärte er dem im Hintergrund wartenden Verkäufer: „Ich fürchte, meine bessere Hälfte verspätet sich etwas, und ich möchte die Auswahl nicht alleine treffen. Sie wissen ja, wie Frauen sind.“
„Kein Problem; wir haben bis 18 Uhr geöffnet.“
„Bis dann.“ Herold schritt zum Ausgang und blieb noch einen Moment hinter der Glastür stehen. In aller Ruhe zog er den Reißverschluss seiner Velourslederjacke hoch und blickte dabei auf die Straße hinaus. Vor dem Laden stritten sich zwei aufgeregte Schulmädchen lautstark um einen Jungen namens René, und auf der Fahrbahn rollte ein hellblauer Mercedes im Rückwärtsgang vorbei. Der verbeulte Wagen bremste quietschend ab, fuhr einen halben Meter in die entgegengesetzte Richtung und parkte mit laufendem Motor direkt vor dem Sexshop. Fast synchron sprangen die Wagentüren auf, und drei junge Männer zwängten sich ins Freie. Ihre durchtrainierten Körper bekleideten schwarze Lederblousons, Jeans und Springerstiefel und die gesamte Aufmachung wirkte auf Michael so gleichgeschaltet, dass er alarmiert die Augen zusammenkniff.
Instinktiv wich er einen Schritt zurück und beobachtete angespannt die förmlich nach Ärger stinkenden Burschen. Zwei von ihnen lehnten jetzt gelangweilt an Leos Schaufenster, während sich der Dritte mitten auf der Fahrbahn postiert hatte und die umliegenden Häuserfronten mit einem prüfenden Blick absuchte. Nach ein, zwei Minuten drehte er sich plötzlich um, starrte noch einmal kontrollierend die Straße hinab und reckte den rechten Daumen in die Höhe. Sofort stieß sein Kamerad mit der Halbglatze die Ladentür auf, grinste verächtlich und marschierte als erster in die Videothek.
„Shit!“ Michael Herold drehte es bei der widerlichen Show fast den Magen um, eine so primitive Zurschaustellung latenter Gewaltbereitschaft hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Tief durchatmend verließ er das Bädergeschäft und versuchte dabei die mahnende Stimme in seinem Kopf zu überhören.
„Vergiss es!“ flüsterte die von unzähligen Berufsjahren gespeiste Erfahrung, „verschieb deine Erkundigung auf einen anderen Tag.“ Michael schüttelte unmerklich den Kopf und blinzelte in den für diese Jahreszeit ungewohnten Sonnenschein. Zumindest äußerlich völlig gelassen wirkend, überquerte er die Fahrbahn und schlenderte an dem Mercedes vorbei. Hinter der Frontscheibe trommelten klobige Finger auf dem Lenker und eine breitschultrige Gestalt bewegte sich unruhig auf dem Sitz.
„Du mich auch!“ murmelte Michael unbeeindruckt und betrat Leopold Oblonskys Sexboutique. Gutgelaunt grüßte er lautstark: „Guten Tag auch“, doch die einzige Person im Raum übersah ihn völlig. Der Bursche mit dem kurzgeschnittenen Haarkranz blätterte gähnend in einem Hochglanzmagazin und verdeckte dabei einen kitschigen Perlenvorhang. Hinter den Plastikkugeln knarrte eine Diele, jemand hustete trocken und Herold konnte ein spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. „Okay“, dachte er voller Genugtuung, „da steckt also die Sippschaft!“
Michael Herold drehte sich um und betrachtete den schäbigen Laden etwas intensiver. In seiner Mitte präsentierte ein Ständer einschlägige Pornomagazine, an den beiden Längsseiten standen Regale mit Videokassetten und vor der gegenüberliegenden Wand befand sich der Kassentisch. Michael musterte kurz die auf ihm gestapelten Kondom-Schachteln und lauschte erneut den Geräuschen aus dem Hinterzimmer. Etwas polterte laut, Schranktüren wurden zugeschlagen und eine hasserfüllte Stimme brüllte: „Es reicht uns bis hierher du Schlampe! Spar’ dir deine albernen Märchen!“
„Bitte, meine Herren! Weiß ich wirklich nicht, wo sich Leo aufhält! Habe ich seit drei Tagen nichts mehr von ihm gehört. Kein Anruf, kein Lebenszeichen, nicht ein einziges Wort. Werde ich Sie doch nicht anlügen, ehrlich nicht!“ Verständliche Panik verzerrte den sonst sicher wohlklingenden Alt der Frau. „Was soll ich denn machen? Kann ich Leo doch nicht herbeizaubern. Aber, verspreche ich Ihnen, bei allem was mir heilig ist, telefoniere ich sofort, wenn er sich wieder meldet.“
„Für wie dumm hältst Du uns eigentlich? Verscheißern können wir uns auch alleine und damit du uns besser verstehst...“ Zwei knappe Schläge schallten durch den Vorhang, gefolgt von einem ungläubigen Aufschrei.
„Oh Mist“, durchzuckte es Michael. Instinktiv trat er einen Schritt vor und schon setzte sich der bis dahin regungslose Wächter in Bewegung. Mit pendelnden Armen stellte er sich vor den Tresen, während sein scheinbar gleichgültiger Blick die unmissverständliche Warnung aussandte: „Bis hierher und nicht weiter!“
Michael Herold seufzte gequält. „Immer mit der Ruhe, junger Freund. Keine Aufregung!“ Bedächtig, um den Mann nicht unnötig zu provozieren, zog er aus seiner Jackentasche einen Ausweis mit dem Polizeiemblem und schwenkte ihn gebieterisch durch die Luft.
„Ich darf doch mal?“ Michael zwängte sich an dem zur sprichwörtlichen Salzsäule erstarrtem Burschen vorbei und klopfte kräftig gegen den Türrahmen. „Frau Oblonsky?“ Jenseits des Vorhanges herrschte innerhalb von Sekundenbruchteilen die Stille eines versiegelten Mausoleums.
„Dethlevsen, BKA! Bitte Frau Oblonsky, es geht um eine Auskunft, die Ihren Mann betrifft!“ Herold warf der immer noch den Raum blockierenden Gestalt einen verschwörerischen Seitenblick zu. „Dieses Polenpack glaubt doch tatsächlich, dass es sich alles herausnehmen kann, aber jetzt ist Schluss mit lustig. Frau Oblonsky!“ Erneut hämmerte Michaels Faust gegen den Holzrahmen. „Kommen Sie nun freiwillig, oder muss ich Sie erst holen?“
Leise raschelnd teilten sich die Perlenschnüre und eine schlanke, mindestens 1,75 Meter große Frau blieb abwartend auf der Schwelle stehen. Ein verächtliches Lächeln spielte um ihre vollen Lippen, während sie sich mit den manikürten Fingerspitzen unsicher über die Hüften strich.
„Na also, es geht doch!“ Herold musterte für einen Atemzug ungeniert ihre makellose Figur, dann kreuzte er den Blick mit den hinter ihr erscheinenden Schlägern. „Tut mir echt leid Jungs, aber die Party ist vorbei.“
„Ist schon in Ordnung, Boss.“ Dem Mann mit der Halbglatze war deutlich anzusehen, dass er nicht genau wusste, wie er die Situation einschätzen sollte. „Ich meine, Sie buchten das Flittchen ja nicht gleich für immer ein. Irgendwann taucht sie wieder auf und dann feiern wir einfach weiter.“
„Nur zu, lasst euch nicht aufhalten.“ Michael Herold klatschte aufmunternd in die Hände. „So, Frau Oblonsky und jetzt setzen Sie mal langsam Ihren Hintern in Bewegung. Ich habe nämlich keine Lust mir den eigenen Arsch aufreißen zu lassen, nur weil wir zu spät im Büro antanzen!“
Um Frau Oblonskys Mundwinkel zuckte es unmerklich und sie schritt, ohne die Männer weiter zu beachten, auf den Ausgang zu. Graziös setzte sie dabei wie ein Modell immer einen Fuß direkt vor den anderen und nichts von den Geschehnissen der letzten Minuten schien sie wirklich zu berühren. Fast gelangweilt blieb sie vor der geschlossenen Ladentür stehen und ein Hauch von Ironie vibrierte in ihrer dunklen Stimme, als sie Michael fragte: „Nun, Herr Kommissar, worauf warten wir eigentlich noch? Hatten Sie es doch eben noch besonders eilig, mir Ihre Diensträume zu zeigen.“
„Keine Angst, wir sind hier schneller weg, als Ihnen vielleicht lieb ist!“ Michael Herold registrierte beruhigt die rasche Auffassungsgabe der Polin. Selbstsicher lehnte sie am Türrahmen und wirbelte herausfordernd die Ladenschlüssel um den Zeigefinger. „Würde ich gerne abschließen.“
„Tja, meine Herren. Sie haben es gehört, Ende der Vorstellung!“ Herold deutete in die Richtung der Tür. „Ich denke, wir haben uns verstanden. Von mir aus können Sie sich gerne ein andermal weiter amüsieren, aber bitte nicht in meiner Gegenwart.“
„Alles klar Chef!“ Die Halbglatze schlug dem vor ihr stehenden Kameraden auf die Schulter. „Auf geht’s. Ihr habt den Chef gehört, morgen ist auch noch ein Tag!“
Betont langsam, um sich nicht eine allzu große Blöße zu geben, schlenderten die Drei zum Ausgang und auf der Schwelle blieb der Mann mit den schütteren blonden Haaren noch einmal stehen. Mit einer affektierten Geste hob er die rechte Hand und strich der zurückzuckenden Frau leicht über die Wange. „Hey, Baby! Leo hat dich doch gar nicht verdient. Also vergiss den Looser und lass uns richtig gute Freunde werden.“
Frau Oblonskys nickte nur stumm, während sich auf ihrer weißen Haut eine hauchdünne blutrote Linie bildete. Provozierend ballte die Halbglatze die Finger zur Faust und hauchte auf den schweren Silberring mit dem eingravierten Totenschädel.
„Schluss jetzt! Es reicht, überspann den Bogen nicht!“ Herolds Stimme verschärfte sich unmerklich, nun besaß sie genau jenen autoritären Ton, den der brutale Kerl nur allzugut kannte. Unbehaglich verlagerte er sein Gewicht auf das rechte Bein und grinste entwaffnend. „Aber Hallo Boss, es gibt wirklich keinen Grund heftig zu werden. Wir gönnen dir doch den Spaß mit der Lady.“
Michael zog statt einer Antwort ein Papiertuch aus der Tasche und hielt es Leos Frau entgegen. „Putzen Sie sich in Gottes Namen das Gesicht ab und dann verriegeln Sie endlich ihren Laden, sonst stehen wir alle noch zu Weihnachten hier.“
„Vielen Dank. Geht es schon.“ Vorsichtig den Schnitt abtupfend wandte sich Frau Oblonsky der Tür zu und Michael bedachte währenddessen das neben dem Mercedes wartende Rollkommando mit einem nachdenklichen Blick. Im Augenblick behandelten ihn die Männer noch mit einem gewissen lässigen Respekt, aber das konnte sich sehr schnell ändern. Diese Kerle waren von Natur aus misstrauisch veranlagt und jede weitere untätig verstrichene Minute vergrößerte nur die Gefahr eines Sinneswechsels. Hier durfte er nicht länger verweilen, ungeduldig drehte sich Michael wieder zu der Frau um. „Falls Sie irgendwann fertig werden sollten, folgen Sie mir einfach. Ich sitze in dem Datzun auf der anderen Straßenseite.“
„Nur eine Sekunde noch, bitte! Habe ich Leo schon seit Wochen gesagt, dass er das Schloss ölen muss!“ Michael Herold schüttelte nur entsagungsvoll den Kopf und trat auf die Fahrbahn. Klappernd erklangen hinter ihm hektische Schritte, dann fühlte er eine leichte Berührung auf der Schulter und eine atemlose Stimme wisperte in sein Ohr. „Nicht so schnell, kann ich Ihnen sonst nicht folgen!“
„Das ist hier keine Modenschau. Reißen Sie sich gefälligst zusammen!“ Getreu seiner Rolle vergaß Michael Herold weiterhin seine guten Manieren, obwohl ihm die schöne Frau aufrichtig leid tat. Ihre hochhackigen Pumps und der enge Rock zwangen sie regelrecht trippelnd neben ihm herzurennen. Jetzt hob sie stolz den Kopf, als Michael nicht auf ihre Bitte einging und stolperte schweigend weiter. Jeder Schritt musste ihr auf dem unebenen Pflaster Schwierigkeiten bereiten, aber Frau Oblonsky lächelte nur verächtlich. Sie hatte den primitiven Kerlen in ihrem Laden erfolgreich getrotzt und nun würde sie auch diese erneute Demütigung durchstehen.
„Steigen Sie endlich ein, wir vertrödeln schon genug Zeit!“ Michael Herold riss herrisch die Wagentür auf und winkte ungeduldig. „Mein Gott, dass ihr Weiber euch immer so unpraktisch aufdonnern müsst.“
„Sind sie vielleicht keine gut angezogenen Frauen mehr gewöhnt?“ Frau Oblonsky schwang mit zusammengedrückten Knien anmutig ihre langen Beine in den Wagen und Michael fluchte lautlos. Es wurde langsam Zeit, dass er seine lausige Rolle endlich beendete. Frustriert schnallte er sich an und versicherte halbwegs glaubwürdig: „Entspannen Sie sich; ab jetzt werden Ihnen diese feinen Herren nicht mehr zu nahe treten.“
„Versprechen Sie lieber nichts, was Sie nicht halten können.“ Leos Frau beobachtete skeptisch den hellblauen Wagen. „Geben die doch nicht auf, nur weil ihnen ein Polizist in die Quere gekommen ist. Oh, Entschuldigung, habe ich das nicht persönlich gemeint, wissen Sie ja bestimmt selber, wie gemein diese Typen sein können.“
„Dann sollten wir ihnen keine weitere Gelegenheit bieten.“ Michael Herold drehte den Zündschlüssel herum und kurvte aus der engen Parklücke. Angespannt behielt er dabei den Mercedes im Auge, der im Rückspiegel zuerst auf Spielzeuggröße zusammenschrumpfte und dann endgültig hinter der nächsten Ecke verschwand.
„Sind, sind wir sie wirklich los?“ Zweifelnd belauerte Frau Oblonsky den zähflüssigen Verkehr.
„Wenn Sie sich richtig verhalten, sehen Sie diese Ratten nie wieder. Aber darüber reden wir später, im Augenblick genügt uns schon ein minimaler Vorsprung um endgültig unterzutauchen.“
Michael fädelte sich in die schleppende Blechkarawane der Umgehungsstraße ein und überdachte dabei sein nächstes Problem. Langsam aber sicher wurde es Zeit, dass er Frau Oblonsky über seine wahre Identität aufzuklären begann und das geschah am Besten im Beisein eines für sie vertrauten Menschen. Besser noch, eines gemeinsamen Bekannten und da kam eigentlich nur eine Person in Frage, sein alter Freund Bronslav. Lech Bronslav, der gute Hirte von Spandau! Jeder in Spandau ansässige Pole hatte schon einmal Backobst mit Schneeklößchen in seinem Wohnzimmer gelöffelt, und Frau Oblonsky bildete da bestimmt keine Ausnahme.
Michael konnte direkt vor sich sehen, wie sie Lech auf seiner eigenen Couch mit ihrem Charme becircst hatte und bedachte seine Begleiterin mit einem kurzen Seitenblick. Ihre makellose Figur war ihm natürlich schon vorhin aufgefallen, aber nun, da sie so hautnah neben ihm saß, spürte er auch ihre überwältigende sexuelle Ausstrahlung.
Frau Oblonsky trug ihr kastanienbraunes Haar in einer glatten bis zum Kinn fallenden Frisur. Ihre Augen verdeckte eine schwarz gefasste Ray-Ban, während der bis über die Schenkel hochgerutschte Rock des dezenten silbergrauen Kostüms umso offensichtlicher ihre wohlgeformten Beine enthüllte. Selbstsicher rückte sie jetzt die teure Sonnenbrille zurecht und Michael bemerkte verwirrt ein geschwollenes Auge, dessen vielfarbige Pracht unmöglich von dem Schlag in der Videothek herrühren konnte.
„Sprechen Sie es ruhig aus! Denken Sie doch ganz tief in Ihrem Herzen, dass ich eine raue Behandlung gewohnt sein muss. Geschieht es mir nur recht, wenn mich diese Kerle richtig hart anpacken. Bin ich nichts anderes als eine dumme Kuh, die Frau eines schäbigen Hehlers.“
Michael Herold sparte sich wohlweislich jeden unnötigen Kommentar. Schweigend klopfte er eine Zigarette aus der Packung und bot sie seinem unfreiwilligen Fahrgast an.
„Danke, vielen Dank! Müssen Sie sich nicht unnötig bemühen!“ Frau Oblonsky klang ungewohnt aggressiv, als sie sich Herold zuwandte „Rauche ich nämlich nur, wenn ich mich sehr wohl fühle und kann davon im Augenblick ja wohl nicht die Rede sein. Und außerdem, warum biegen Sie in Richtung Neuendorfer Straße ab? Ist das doch nicht der Weg zum Polizeirevier!“
Die erschreckende Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ließ Leos Frau zusammenzucken. „Sie sind genauso wenig ein Polizist wie die anderen Verbrecher!“
Ohne Vorwarnung krachte ihr Fuß auf Michaels Schuh nieder und der Datzun bremste für Sekundenbruchteile brutal ab. Sofort brach er nach rechts aus, verfehlte knapp ein parkendes Auto und raste einen schrecklichen Moment lang völlig unkontrolliert über den Bürgersteig. Ein Laternenmast zischte bedrohlich nahe vorbei und schon schleuderte der Wagen wieder auf die Fahrbahn zurück.
Wütendes Hupen begleitete das halsbrecherische Manöver und für einen Augenblick konnte es Michael überhaupt nicht fassen, dass er immer noch unverletzt war. Mit beiden Händen umklammerte er fest das Lenkrad und blieb eisern auf der leeren Spur neben dem fließenden Verkehr.
„Gut reagiert“, murmelte er erregt. „Es ist nichts passiert! Nichts...“ Kreischend krallte Frau Oblonsky ihre Finger in Herolds rechten Arm und zerrte an dem Stoff. Michael riss sich mit einem Ruck los und versetzte ihr eine so schallende Ohrfeige, dass die Brille im hohen Bogen gegen die Scheibe knallte. Empört schrie die Frau auf und Michael Herold stieß zischend die angehaltene Luft aus. „Verdammt noch mal, sind Sie jetzt völlig durchgedreht? Sie hätten uns eben fast in die Ewigkeit katapultiert!“
Michael schüttelte gereizt den Kopf und lenkte den Datzun in die Parkbucht einer Bushaltestelle. Mit leicht zitternden Händen stellte er den Motor ab und blickte Leos Gattin beschwörend in das bleiche Gesicht. „Mein Gott, ist Ihnen eigentlich klar, wie nahe wir an einer Katastrophe vorbeigeschlittert sind? Seien Sie bloß froh, dass kein anderer Wagen die Autobusspur benutzt hat!“
„Ja, ja, bin ich dem Allmächtigen dankbar, dass nichts passiert ist und vor allem keine Menschen auf dem Bürgersteig waren! Nicht auszudenken, aber, verstehen Sie mich doch: sind Sie einfach an der Polizeiwache vorbeigefahren. Habe ich deutlich die hässliche Figur vor dem Eingang erkannt!“
Zwei dezente Schluchzer erschütterten Frau Oblonskys schmale Schultern. „Ist mein Verhalten einfach unverzeihlich, so peinlich, habe ich mich einfach idiotisch verhalten.“
Schon etwas milder gestimmt reichte Michael der Polin ein Papiertuch. „Hier! Jetzt trocknen Sie sich die Augen und dann beruhigen Sie sich wieder. Es ist ja niemand zu Schaden gekommen. Einverstanden?“ Frau Oblonsky schnäuzte statt einer Antwort diskret in das Taschentuch und blickte kokett auf ihre Knie. „Und nun? Wollen Sie mich immer noch auf Ihre Wache bringen?“
„Ich werde direkt an dem Denkmal vorbeifahren, und- im Vertrauen gesagt; ich finde es genauso geschmacklos wie Sie!“ Michael grinste aufmunternd und startete den Wagen. Vorsichtig reihte er sich in den Kreisverkehr des Falkenseer Platzes ein und verließ die Spur erst wieder an der Abzweigung zum Polizeipräsidium. Schon aus der Ferne leuchtete ihm die mehr einem unförmigen Walross, als einem Pferd gleichende Plastik entgegen und Michael schüttelte unwillkürlich den Kopf. So misstrauisch, wie Frau Oblonsky jedem einzelnen vorbeihuschenden Haus nachblickte, war es im Augenblick bestimmt am klügsten, erst einmal die Kantine des Präsidiums aufzusuchen. Der nüchterne Raum beruhigte sicher ihr angekratztes Nervenkostüm und bis sie ihn erreicht hatten, beschäftigte er sie am besten mit ein paar längst fälligen Routinefragen: „Wann erfolgte nun genau der letzte Kontakt zu Ihrem Mann?“
„Meinen Sie, wann ich Leo das letzte Mal gesehen habe? Oh, war das vor drei Tagen, wollte er nach Krakau reisen. Hat er mir noch extra befohlen, den Shop wenigstens an den Vormittagen zu öffnen und ist dann ohne Abschied gegangen. Einfach so, verstehen Sie, verschwindet er in letzter Zeit immer öfter und ich bin deswegen nicht gerade traurig. Besitzt Leo nämlich ein sehr impulsives Temperament und wenn gerade eines seiner phantastischen Geschäfte geplatzt ist.“
Mit einer verschämt wirkenden Geste setzte Frau Oblonsky wieder ihre Sonnenbrille auf. „Schauen Sie nicht so, haben Sie ein vollkommen falsches Bild von Leo. Ist er ein guter Mann, auch wenn es im Moment nicht so aussieht.“
„Sie müssen mit ihm leben.“ Herold grinste entwaffnend und schaltete die Kupplung einen Gang zurück. Im Schritttempo durchquerte er die Durchfahrt zum Hof des Präsidiums und stellte den Datzun frech auf der reservierten Fläche eines ihm noch eine kleine Gefälligkeit schuldenden Wachmeisters ab.
„Da wären wir also.“ Michael löste den Gurt und nickte Frau Oblonsky aufmunternd zu.
„Ja, ja, hätte ich ehrlich gesagt, noch vor ein paar Minuten keinen Groszy darauf gewettet. Aber kommen wir doch hoffentlich nicht zu spät. Möchte ich nicht, dass Sie wegen mir Ärger mit dem Herrn Kommissar bekommen.“
„Da machen Sie sich mal keine unnötigen Sorgen. Der Herr Kommissar hat mich schon seit vielen Jahren in sein großes Herz geschlossen.“
„Oh, große Liebe unter Männern beruhigt mich immer sehr!“
„Sehr schön, dann sind wir wenigstens beim richtigen Thema. Reden wir über Lech Bronslav und Joseph Zcybulski.“
„Entschuldigung; verstehe ich nicht ganz?“
„Nicht doch.“ Herold verriegelte den Wagen und deutete auf die Doppeltür des Hauptgebäudes. „Sie werden mir doch jetzt nicht erzählen wollen, dass Sie nie bemerkt haben, wie sich Leo um die Gunst der beiden Männer bemüht hat. Lech Bronslav, Mädchen! Einer schönen Frau konnte der doch nichts abschlagen und Ihr Mann hat Sie bestimmt schon aus diesem Grunde mitgenommen.“
„Ja gut, weiß ich natürlich wer Lech Bronslav ist, aber begreife ich immer noch nicht den Zusammenhang!“
„Sofort, Frau Oblonsky, sofort!“ Michael Herold trat zur Seite und ließ seine Begleiterin zuerst durch die aufgleitende Glastür in die Eingangshalle schreiten. An der gegenüberliegenden Wand hingen die Hauben mehrerer Fernsprecher und Herold steckte eine Münze in den ersten Apparat. „Ich möchte, dass Sie sich mit Lech unterhalten.“
Am Ende der Leitung klingelte ausdauernd das Freizeichen und Michael verzog angewidert das Gesicht. „Lech findet garantiert sein Telefon nicht. Bestimmt liegt es wieder unter den Zeitungen verbuddelt.“
„Jaaa?“ Wie gewöhnlich meldete sich der ewig misstrauische Bronslav nicht mit seinem Namen.
„Hallo Lech, Michael! Pass auf, ganz kurz!“ Mit wenigen Worten informierte Herold den alten Mann über die Geschehnisse des Vormittages und unterbrach dann energisch die folgende Schimpfkanonade. „Nun beruhige dich wieder. Du kannst die Frau nicht für die Praktiken ihres Mannes verantwortlich machen! Rede lieber mit ihr, sie hält mich nämlich im Augenblick für einen von Kowalskis Kollegen. Bitte Lech, das ist nicht witzig, du musst mit ihr sprechen! Ja Lech, was immer du willst!“
Michael Herold verdrehte die Augen und hielt der Frau Oblonsky den Hörer entgegen. „Es wird langsam Zeit, dass Sie die volle Wahrheit erfahren. Also..., plaudern Sie mit meinem alten Freund, er mag Ihre Stimme.“
Leos Frau bedachte Michael mit einem abschätzenden Blick, den er nicht recht zu deuten wusste und presste gehorsam die Plastikmuschel an ihr Ohr. Aufmerksam lauschte sie den fernen Worten und antwortete zuerst in leisen, beherrschten Sätzen. Dann steigerte sich merklich die Lautstärke des in Polnisch geführten Gespräches, bis Frau Oblonsky plötzlich den Hörer sinken ließ. „Bei allen Heiligen, wie konnte ich nur so schändlich von Ihnen denken!“ In einer spontanen Geste legte sie ihre linke Hand auf Michaels Unterarm. „Was soll ich nur sagen? Schäme ich mich so, habe ich Sie völlig verkannt! Hat mir erst Lech die Augen geöffnet. Mein Gott, wenn Sie nicht so mutig gewesen wären! Wer weiß, was diese Verbrecher vielleicht noch alles mit mir angestellt hätten.“ Frau Oblonskys Stimme erstarb und eine einzelne Träne rann unter ihrer Ray-Ban hervor.
„Schon gut, es ist vorbei. Für diesmal haben Sie es überstanden.“ Herold entwendete der Frau mit sanfter Gewalt den Telefonhörer. „Kommen Sie, ich lade Sie zu einem Kaffee ein. Ist das ein Angebot?“
„Elzbieta Bitte, nennen Sie mich Elzbieta! Bin ich so froh, dass ich endlich Ihre wahre Identität kenne. Muss Bronslav Sie sehr mögen, hat er voller Achtung von Ihnen gesprochen und mir geraten“ - ein stilles Lächeln erhellte Elzbietas Gesicht - „mich mit Ihnen gut zu stellen. Trinken wir also einen heißen Kaffee, oder darf es auch ein Cappuccino sein?“
„Ich fürchte, Sie überschätzen die deutschen Polizeikantinen Elzbieta! Seien Sie froh, wenn uns der Automat wenigstens Milchkaffee in die Becher plempert.“
Michael Herold führte Elzbieta in die im ersten Stock liegende Cafeteria und blieb mit ihr am Eingang stehen. „Na, das nenne ich gut abgefüllt.“ Mit einer vagen Handbewegung umfasste er den nüchternen Raum. „Ich besorge uns am besten den Kaffee und Sie schauen, ob Sie vielleicht einen freien Platz organisieren können.“
„Oh, im Organisieren bin ich schon seit meiner Jugend ein Profi!“
„Das glaube ich Ihnen unbesehen.“ Michael Herold reihte sich in die Warteschlange vor dem Buffet ein und erstand die versprochenen Getränke. Behutsam balancierte er die Tassen um die voll besetzten Tische und trug sie zu der an der Fensterfront sitzenden Frau. „Vorsicht! Der Cappuccino ist zwar nicht besonders stark, aber garantiert heiß!“
„Hauptsache, er weckt meine Lebensgeister.“ Elzbieta blickte Michael unerwartet ernst an und für einen flüchtigen Augenblick schimmerte ihr wahres Ich durch die Maske vorgetäuschter Sorglosigkeit.
„Tut mir meine Entgleisung vorhin im Wagen sehr leid. Ehrlich! Weiß ich doch, dass ich mich hysterisch aufgeführt habe! Geht es mir einfach nicht so gut, und hat das auch nichts mit dem Überfall zu tun. Ängstigt mich einfach schon seit Wochen das Gefühl einer drohenden Katastrophe; schnürt es mir regelrecht den Atem ab.“
„Ihr Mann?“
„Ja. Hat er sich in der letzten Zeit sehr zum Negativen verändert, kapselt er sich richtig ab. Verstehen Sie, redet er schon seit Wochen nicht mehr mit mir, kein einziges, wirklich wichtiges Wort. Frage ich ihn nach seinen neuen Freunden, belügt er mich oder erzählt mir irgendwelche Märchen.“
Mit unbewegter Miene nippte Elzbieta wieder an ihrem inzwischen kühler gewordenen Kaffee und warf dann Michael einen herausfordernden Blick zu. „Gut, ist das natürlich schon früher vorgekommen, aber neuerdings versucht er seine immer schlechter gehenden Geschäfte vor mir zu verbergen. Oh mein Gott.“
Leise aufschluchzend stellte Elzbieta die Tasse ab und starrte auf ihre zitternden Fingerspitzen. „Aber warum erzähle ich Ihnen das überhaupt? Interessieren Sie sich doch nicht wirklich für meine lächerlichen Eheprobleme.“
„Ich bin tiefer in sie verstrickt, als es mir lieb ist.“
„Sagen Sie das doch nur, um mich zu beruhigen.“ Mit einem traurigen Lächeln tastete Frau Oblonsky über ihre feuchte Wange. „Entschuldigung, bin ich im Augenblick wirklich nicht gut drauf, sehe ich bestimmt fürchterlich aus!“
Ein kleiner Taschenspiegel blitzte in Elzbietas Hand auf und sie studierte einen Augenblick lang leise seufzend ihr Konterfei. Flink, ohne jede falsche Scham, wischte sie sich die verschmierte Wimperntusche mit einem Tuch ab und klappte dann das vergoldete Etui wieder zu. Zögernd blickte sie einen Moment auf das teuer wirkende Utensil und erklärte dann mit leiser Stimme: „Vielleicht sollten Sie sich selbst einen Eindruck von Leo verschaffen. Auch wenn Bilder oft täuschen können.“
Elzbieta öffnete die Rückseite des Spiegels und zog ein Passfoto hervor. Mit zwei Fingern reichte sie es über den Tisch und Michael betrachtete neugierig das ihm unbekannte, smarte Gesicht.
„Schauen Sie nur genau hin.“ Elzbieta räusperte sich verlegen. „Ist es irgendwie bezeichnend für Leo, dass er sich in Polen als erste Fremdsprache französisch beigebracht hat. Spricht er deswegen auch sein Deutsch mit einem winzigen französischen Akzent. Können Sie gar nicht ermessen, wie stolz er darauf ist, wenn ihn viele für einen Südländer halten. Müssten Sie einmal sein Gesicht sehen, wenn ihn irgendeine schöne Frau fragt: Sie kommen von der Cote d‘ Azur, mein Herr?“
Michael Herold zweifelte keinen Augenblick an Leos primären Talenten. Mit seinen straff nach hinten gekämmten schwarzen Haaren und dem dunklen Dreitagebart wirkte er wie der perfekte Prototyp des Latin Lovers. Ein richtiger Sonnyboy, der sein verführerisches Image, zu Elzbietas Kummer, bestimmt gern mit Leib und Seele ausfüllte.
„Nun, sagen Sie nichts zu dem Foto? Keine ehrliche Bemerkung von Mann zu Mann, oder wenigstens eine höfliche Floskel?“ Elzbieta schob die Brille in ihre Frisur zurück und strich vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Schwellung unter dem linken Auge. „Verstehe, ist es auch nicht nötig, sehe ich auch so, dass Sie Leo genauso verachten wie all die anderen feigen Kerle, die irgendwo auf der Welt ihre Frauen schlagen. Sehr ehrenwert, nur Michael, sind Sie so viel anders? Ahnten Sie doch bestimmt nichts von meiner Existenz als Sie vorhin die Videothek betraten. Was also hofften Sie dort zu finden? Billige Sensationen und vielleicht die Chance, Leo etwas ans Zeug zu flicken?“
Elzbietas perfekt geschminkte Lippen überzog der Hauch eines ironischen Lächelns. „Nein, nein, müssen Sie nichts erwidern! Halte ich Sie bestimmt nicht für den Gandhi von Spandau, nur weil Sie mich zufällig gerettet haben. Bin ich ein großes Mädchen und kann sehr gut die Wahrheit vertragen, auch wenn sie mir nicht immer gefällt. Weiß ich wie das Leben geht und kriege mich deshalb immer schnell wieder ein. Also seien Sie ein netter Junge und spendieren Sie mir einfach die vorhin versprochene Zigarette. Fühle ich mich dann schon wieder halbwegs versöhnt mit diesem schrecklichen Tag.“
Michael Herold klopfte die verlangte Zigarette aus der Packung und bot Elzbieta Feuer an. Die Polin inhalierte den ersten Zug und hustete plötzlich krampfhaft. „Das schmeckt ja abscheulich!“
„Menthol! Ich gewöhne mir momentan das Rauchen ab.“
„Verstehen Sie es aber wirklich, einem Mut zu machen!“ Elzbieta drückte die Zigarette in dem vor ihr stehenden Aschenbecher aus. Die eben erst überwundene Melancholie überzog wieder ihr Gesicht und sie stocherte ratlos mit der Kippe in der Plastikschale herum. „Ist das wieder typisch für mich, ziehe ich in letzter Zeit einfach das Unglück an. Alles was ich anfasse, rinnt mir wie Wasser durch die Finger. Nichts gelingt mehr und jetzt, jetzt wird auch noch meine dumme Eifersucht bestraft.“
„Leopold betrügt Sie?“
„Wäre es nicht das erste Mal, weiß Gott! Kenne ich schließlich meinen Mann und besaß er wieder diesen hungrigen Blick. Dachte ich wirklich, er fickt irgend so ein billiges Weibsstück.“
Elzbieta lachte gequält auf: „Waren jedenfalls die Anzeichen nicht zu übersehen, und als er dann angeblich noch einen speziellen Kunden treffen wollte, bin ich ihm bis zu dieser verdammten Engländerkneipe nachgefahren. Hätten Sie mich sehen sollen, kauerte ich die ganze Zeit über wie eine Idiotin hinter dem Steuer meines Wagens und das Herz schlug mir bis zum Hals. Immer und immer wieder malte ich mir aus, wie er gerade seine neue Schlampe zu beeindrucken versuchte und dann kam es ganz anders. Als Leo endlich den Pub verließ, hatte er keine dürre Blondine mit großer Oberweite im Arm. Nein, zwei Kerle begleiteten ihn, absolut finstere Gestalten, sah ich denen den Ärger schon auf hundert Meter Entfernung an.“
„Solche Typen wie unsere charmanten Gesprächspartner?“
Elzbieta nickte nur stumm und berührte mit einer vertraulichen Geste Herolds Arm. „Ach, Michael! Warum muss ich mit meinen bösen Vermutungen nur immer recht behalten? An diesem Abend habe ich das Verhängnis förmlich gespürt, und nur ein paar Stunden später packte Leo seine Flugtasche und verließ unsere Wohnung. Ging er ohne sich zu verabschieden oder umzudrehen. Fuhr er einfach fort und habe ich seitdem nichts mehr von ihm gehört. Kein einziges Lebenszeichen; nicht einen seiner sonst üblichen Kontrollanrufe!“
„Das klingt nicht gut. Dein Mann hat in seiner Gier nach einem Happen geschnappt, der einfach eine Nummer zu groß für ihn war. Nun ist er verschwunden und Polen-Charly ermordet.“ Michael blickte ernst in Elzbietas braune Augen. „Du bist für die mysteriösen Kerle einfach die nächste Kontaktperson.“
„Weiß ich doch nichts, absolut nichts! Hat mich Leo nicht in seine Geschäfte eingeweiht.“
„Irgendein winziges Detail muss dir aufgefallen sein! Ein Name, Adressen, diese Engländerkneipe, kannst du dich noch erinnern, wo du da auf der Lauer gelegen hast?"
„Tja, ist das eine gute Frage. Habe ich bei der Hinfahrt nur auf Leos Rücklichter geachtet und zurück kannte ich mich erst wieder in der Klosterstraße aus. Aber die Kneipe selbst, wirkte sie wie die Kulisse in einem Edgar Wallace Krimi. Verstehst du schon, auf den Fenstern klebten Reklameplakate für Guinnessbier und Dartspiele und direkt über der Tür hing ein großes Schild. Richtig aus Holz geschnitzt, mit einem roten Stierkopf in der Mitte.“
„Die „Bull Eyes Taverne“ in der Seeburger Straße.“ Michael Herold unterbrach seinen angefangenen Satz und schaute unwillig auf. Ein schäbig gekleideter Mann war lautlos an den Tisch getreten und taxierte frech die Wölbung von Elzbietas Kostümjacke. „Herold, altes Lästermaul! Wollen Sie mich nicht der Dame vorstellen?“
„Ach Bube, warum kriechen sie nicht einfach ihrem Herrn und Meister in den Allerwertesten?“ Herold betrachtete missbilligend das fettig glänzende Gesicht von Kommissar Kowalskis rechter Hand. Karl-Heinz Bubes gesamte Erscheinung wirkte wieder so zerknittert, als ob er die drei letzten Nächte im Freien verbracht hatte. Doch Herold ließ sich von diesem bewussten Image des ewigen Versagers nicht täuschen. Dieser Mann war ein einsamer Wolf, der ein einmal aufgespürtes Opfer stets bis zum bitteren Ende hetzte. Gnadenlos und ohne die geringste Rücksicht auf die normalen menschlichen Umgangsformen. Auch jetzt ergriff er einfach einen freien Stuhl an der Lehne und stellte ihn mit einem penetranten Grinsen neben Elzbieta Oblonsky ab.
„Keine Angst, schöne Frau! Wir werden schon miteinander auskommen. Was allerdings Ihren schlauen Freund betrifft... “ Karl-Heinz Bube kramte eine Blechschachtel aus den Tiefen seiner Wolljacke, schnippte den Deckel zurück und klemmte sich einen kurzen Zigarillo zwischen die Lippen.
„Clever Herold, wirklich clever! Sie lassen sich hier doch nur sehen, weil mein verehrter Boss Ihnen nicht in den Arsch treten kann.“ Bube beugte sich vertraulich zu Frau Oblonsky hinüber. „Ihr Freund weiß natürlich ganz genau, dass der Herr Hauptkommissar um diese Zeit immer in der sogenannten Tafelrunde sitzt. Das ist das wöchentliche Informationsmeeting aller Ressortleiter und meinen Chef ärgert es fürchterlich, dass er dieses Kasperletheater nur einem einzigen karrieregeilen Fuzzy aus dem Rathaus zu verdanken hat. Sie hätten ihn sehen sollen, als der Schleimer dann auch noch mit einem Posten in der Friesenstraße belohnt wurde.“
Karl-Heinz Bubes bleiches Gesicht verschwand fast hinter der ihn umhüllenden Tabakswolke. Selbstgefällig zog er an seinem stinkenden Zigarillo und ließ dabei Elzbieta nicht aus den Augen.
„Tja, so ist halt das Leben, Ungerechtigkeit lauert überall. Das erinnert mich übrigens an Kollege Scherpel von der Schutzpolizei.“
„Strapazieren Sie Ihren Freundschaftsbonus nicht allzu sehr, Karl-Heinz!“ Angewidert verteilte Herold mit einer flüchtigen Handbewegung den in seine Richtung ziehenden Rauch.
„Aber mon ami! Sie wissen doch genau, wie sehr ich offene Rechnungen hasse. Deshalb noch einmal, zum Mitschreiben! Scherpel spielt wieder einmal den Sündenbock für die Medien. Seine ohnehin gebeutelte Abteilung übernimmt die Verantwortung für die Kronenausstellung, während der Öffentlichkeit eine gut bezahlte Schutztruppe präsentiert wird.“
„Verstehe ich das richtig, Bergmeier hat von seinem geringen Etat extra einen Wachdienst angeheuert?“
„So ist es, mein Guter. Zwanzig ehemalige Top Killer vom GSG 9, alle hochmotiviert und dank dem Viermächteabkommen praktisch kastriert.“
Ungeniert spuckte Bube eine Tabakkrume auf den Boden und zwinkerte Elzbieta zu. „Die scharfen Jungs müssen nämlich ohne ihre Knarren antanzen und damit hätte man sie genauso gut entmannen können.“
„Was Herr Bube erklären will“, Michael Herold räusperte sich dezent, „in Westberlin ist Dank unserer alliierten Freunde der Besitz von Feuerwaffen für Privatpersonen verboten und dazu zählt natürlich auch ein Wachdienst.“
„Sag ich doch! Für diese impotente Truppe verplempert Bergmeier unsere sauer verdienten Steuergroschen. Ein himmelschreiender Skandal ist das!“ Nachlässig drückte Kommissar Kowalskis Assistent den qualmenden Stummel im Ascher aus und ließ einen letzten Blick über Elzbietas Knie streifen. „Aber was soll man machen, wir können die Welt ja doch nicht ändern! War nett mit euch zu plaudern und Herold, wir sehen uns ja spätestens bei Bürgermeister Davids Geburtstag im Schützenhof.“
Ohne sich noch einmal umzudrehen, schlenderte Bube langsam zum Buffet und Elzbieta schüttelte ungläubig den Kopf. „Was für ein widerlicher Typ! Steht der etwa auch auf Ihrer Gehaltsliste?“
„Bube? Der ist nur das inoffizielle Sprachrohr von Kowalskis Frustrationen. Vergessen Sie den penetranten Kerl und machen Sie sich lieber Gedanken über Ihre speziellen Freunde.“
„Nehmen Sie die großen Jungs nicht ein bisschen zu wichtig?“
„Elzbieta, ich habe es Ihnen doch schon erklärt bevor wir von Bube unterbrochen wurden: Ihr Mann hat offensichtlich seine Verpflichtungen nicht erfüllt, und das lassen solche Leute nicht auf sich beruhen. Die kommen wieder und dann bleibt es nicht bei zwei Ohrfeigen!“ Mit einem kräftigen Griff umspannte Michael Herold Elzbietas schmale Handgelenke und blickte ihr beschwörend in die Augen. „Sie dürfen nicht in Ihre Wohnung zurückkehren! Besuchen Sie Ihre Familie in Polen oder quartieren Sie sich wenigstens bei einem Bekannten ein.“
„Ich verstehe. Das lässt sich arrangieren. Kann ich bei einer guten Freundin übernachten von der nicht einmal Leo die Adresse besitzt. Telefoniere ich nur schnell mit ihr und dann brechen wir sofort auf.“ Elzbieta erhob sich und glättete instinktiv ihren Rock. „Worauf warten Sie? Müssen Sie mich noch vorher in die City zum Einkaufen fahren. Verreise ich schließlich nicht ohne Zahnbürste und Pyjama!“