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1 Platon: Aus Chaos wird Ordnung. Der Kosmos als Voraussetzung des menschlichen Lebens

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Paläoanthropologische Funde deuten darauf hin, dass sich Menschen, seit sie sich symbolisch in Malerei, Musik und Riten ausdrücken, nicht damit begnügt haben, nur die drängenden Probleme des Alltags zu lösen.1 Das Bedürfnis, sich und die Welt zu verstehen, Staunen und Neugier, trieben sie immer wieder über das faktisch Vorhandene und einfach nur Nützliche hinaus. Vor allem eine Frage hat sie zu allen Zeiten und in allen Kulturen bewegt: Wie sind die Welt und ihre Ordnung entstanden? Noch in der Sprache des Mythos schildert Hesiod etwa um 700 v. Chr. in der ‚Theogonie‘, dass am Anfang von allem das Chaos entstand, die klaffende Leere, das gänzlich Unbestimmte und Ungestaltete. Aus der schöpferischen Dynamik des Chaos entstanden Gaia, die Erde, Sitz der Götter und Lebensraum der Menschen, in deren Innerem sich die Unterwelt, der Ort der Toten befindet, Eros als kosmische, verbindende Kraft, die dunkle Nacht und die Tageshelle und schließlich Uranos, der Himmel. Damit haben sich die drei großen Unterteilungen des Kosmos gebildet, die über mehr als zwei Jahrtausende bestimmend blieben und die noch Dante in der ‚Göttlichen Komödie‘ zugrunde legt: Himmel, Erde und Unterwelt. Die ungeheure Dynamik, die mit der Weltentstehung verbunden war, schildert Hesiod als den Kampf verschiedener Göttergenerationen um Macht. Die kosmische Ordnung, die in der Herrschaft des Zeus gipfelt und von Themis und Dike, von Wohlverhalten und Gerechtigkeit, erleuchtet ist, ist die Voraussetzung für das menschliche Leben. Damit ist ein Grundgedanke des griechischen Denkens formuliert: Der Kosmos, die Natur ist geordnet. Wahres Sein ist gestaltet. In ihm lebt der dieser Ordnung bedürftige Mensch. Hesiod beruft sich in seiner Schilderung noch nicht auf eigenständiges Denken. Quelle des Wissens sind die Musen, die ihm berichten, „was ist, was sein wird und was vorher war.“2

Mit dem Übergang vom ‚Mythos zum Logos‘ in der Zeit von 650−550 v. Chr. verliert die Natur ihren physiognomischen Charakter. An die Stelle göttlicher Mächte treten physische Stoffe und ontologische Prinzipien. Was, so lautet nun die Frage, sind der Urstoff der Welt und die Ursache von Dauer und Beständigkeit? Empedokles, der in Sizilien wirkte, entwickelte die Elementenlehre, die erst im 18. Jh. durch den französischen Chemiker Lavoisier, der das Periodensystem aufstellte, abgelöst wurde. Die Welt wird aus den Urteilchen von Erde, Wasser, Luft und Feuer aufgebaut. Alle sichtbaren Dinge unterscheiden sich nur durch die Menge und die Art der mechanisch erfolgenden Kombination kleinster Teilchen, von Atomen. Als polar wirkende Kräfte halten Liebe und Streit durch Vereinigung und Trennung den Weltprozess in Gang.

Für Heraklit wird das unablässige Werden und Vergehen zum Ausgangspunkt der Überlegung. Alles, was lebt, entsteht aus einem anderen, das stirbt. Leben und Tod, Tag und Nacht, Krieg und Frieden fordern sich gegenseitig. Indem ein Pol immer wieder in den anderen umschlägt, entsteht die Dynamik der Natur. Obwohl nichts jemals in genau derselben Weise wiederkehrt, entsteht gerade durch den Umschlag der Gegensätze im unaufhaltsamen Wandel eine Ordnung, die dauert.3 Als unsichtbare Ordnung durchwaltet der Logos das sichtbare Geschehen und bringt alle Dinge in ein Verhältnis zueinander. Auch für Pythagoras aus Samos ist das Prinzip der Weltordnung nicht der Stoff, sondern die Zahl, die alles Seiende gestaltet und harmonische Beziehungen erzeugt. Schon in ihren Anfängen blieb die Naturphilosophie daher nicht bei der Beschreibung des Sinnlich-Wahrnehmbaren stehen, sondern erklärt es durch eine andere, unsichtbare Ordnung.

In einem wesentlichen Aspekt stimmt die griechische Sicht mit dem ersten Schöpfungsbericht der ‚Genesis‘ überein: Vor allen bestimmten und begrenzten Formen, vor der Entstehung der Elemente und vor allen Lebewesen, die den Kosmos bevölkern, war das Chaos, das Tohuwabohu, eine ungestaltete, lebensfeindliche Leere. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.“4 Die Erde, so kommentiert noch Hildegard von Bingen, „war leer, da sie noch keine Gestalt hatte.“5 Erst durch das Wort Gottes, eine rein geistige Kraft, wurden einzelne Bereiche voneinander geschieden: Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Wasser und Land. Schöpfung ist Formgebung, Unterscheidung, Trennung, das Hervorgehen vieler Gestalten aus einer ungeschiedenen Einheit. Schritt für Schritt wird das uranfängliche Chaos durch eine schöpferische Macht gegliedert, bis Lebewesen entstehen: Pflanzen, Vögel, Fische und Säugetiere. Wie bei Hesiod muss auch nach der ‚Genesis‘ eine gewisse Ordnung da sein, bevor Menschen erschaffen werden können. Nur Gott, der Herr über das Chaos, kann die Welt wieder in ihren Urzustand zurückversetzen. Die Dichter, so resümiert Augustinus im 4. Jh., stellen das „Chaos als unförmige, gestaltlose Materie dar, ohne Eigenschaft noch Maß, ohne Ordnung noch Unterscheidung, ein verworrenes Etwas.“6

Der Gedanke einer ‚creatio ex nihilo‘, einer Schöpfung aus dem Nichts, der sich erst in den ersten Jahrhunderten nach Christus durchsetzte, wird zum ersten Mal im zweiten Makkabäerbuch des Alten Testaments erwähnt. „Alles“, so heißt es, „was es da gibt, hat Gott aus dem Nichts erschaffen.“7 Auch die Urmaterie wird nun erschaffen; sie ist deshalb nur „beinahe nichts“8. ‚Vor‘ der Schöpfung, so betont Augustinus, war nichts außer Gott.9 Der Ursprung der Welt ist daher kein Ursprung in der Zeit, sondern der Ursprung von Zeit. Da alle endlichen Seienden aus dem Nichts geschaffen wurden, haben sie eine gewisse Tendenz zur Auflösung; sie stehen zwischen Sein und Nichtsein und haben einen Anfang und ein Ende.

Die erste systematische Kosmologie des Abendlandes entwirft Platon im ‚Timaios‘. Sie wurde in ihren Grundzügen bis zur Neuzeit akzeptiert und noch im 20. Jh. für Wissenschaftler wie Heisenberg und Philosophen wie Whitehead zur Quelle der Inspiration. Kosmologie im Sinne des ‚Timaios‘ bedeutet eine Untersuchung über das Weltganze, zu der die Erklärung des physischen Aufbaus ebenso wie die der Stellung des Menschen gehören. Möglich ist jedoch nur eine „wahrscheinliche Rede“10, da der Erkennende keinen absoluten Standpunkt außerhalb des Kosmos einnehmen kann und sich alle Aussagen auf zeitlich Wandelbares beziehen. Dass dennoch ein erkenntniskritischer Realismus möglich ist, beruht darauf, dass zwischen Erkennendem und Erkanntem aufgrund des gemeinsamen Ursprungs eine Affinität besteht, sodass den Erkenntnisstrukturen Seinsstrukturen entsprechen.

Die Ausgangsfrage des ‚Timaios‘, in der sich das Staunen über das Gewordene spiegelt, ist, ob der Himmel „stets war und keinen Anfang seines Entstehens hat oder ob er, von einem Anfang ausgehend, geworden ist.“11 Diese Frage wird, bei wechselnden Antworten, noch in der modernen Astrophysik gestellt. Anders als Aristoteles bejaht Platon einen Anfang der Welt: Der Kosmos ist sinnlich wahrnehmbar und damit, wie alles durch die Sinne in Verbindung mit Mutmaßung Erkennbare, werdend und vergehend. Will man einen regressus ad infinitum ausschließen, dann darf die Ursache allen Werdens selbst nicht mehr werdend sein. Der Grund allen Seins, der kein Glied einer unabsehbaren Kausalkette mehr ist, entzieht sich daher der an die Sinne gebundenen empirischen Erkenntnis. Nur argumentativ kann und muss man auf ihn schließen. Die Frage, ob die Welt entstanden ist, führt so zu einer ersten Unterscheidung zwischen Sein und Werden.

Doch warum gibt es überhaupt etwas? Platon stellt die Frage noch in einer anderen Weise als Leibniz: Er fragt nicht, warum es nicht nur nichts gibt, sondern warum der Urgrund nicht selbstgenügsam in sich verharrte. Die Güte des Weltenbildners, so Platon, sei der Grund, warum das Weltall in der Vielfalt seiner Formen entstanden ist. Aufgrund seiner Neidlosigkeit wollte er, dass es etwas gibt, das ihm so ähnlich wie möglich ist. Wie in der ‚Genesis‘ wird die Welt bewertet: Sie ist gut, und sie hat ein Ziel: die Verähnlichung mit dem Göttlichen als der Idee des Guten.

An die Fragen, ob und warum das All entstanden ist, schließt sich die Frage an, wie es geworden ist. Erklärungsbedürftig ist vor allem, dass es überhaupt begrenzte, wohlgeformte Seiende gibt. Das Werden des Alls vollzieht sich durch die Überführung von Unordnung in Ordnung, von Gestaltlosigkeit zu Gestalt. Da nur durch diesen Prozess endliche Entitäten entstehen, sind Gestalt und Ordnung besser als Ungestaltetheit und Chaos. Anders als Empedokles und Demokrit lehnt Platon, und Aristoteles wird ihm darin folgen, den Zufall und rein kausalmechanische Wirkungen als Ursachen gleichbleibender Formen ab. Kausal wirkende Kräfte können zwar mit einer gewissen Regelmäßigkeit immer wieder bestimmte Effekte erzeugen; doch durch die ungerichtete Einwirkung zahlloser einzelner Geschehnisse aufeinander entsteht keine innere Einheit, geschweige denn die harmonische Abstimmung der unüberschaubar großen Zahl an Seienden im Kosmos. Damit verschiedene, völlig disparate Momente zu einem Ganzen werden, bedarf es der Antizipation des Endzustandes, einer Ausrichtung auf ein Ganzes, das entstehen soll. Zeitlose Gestaltprinzipien, Ideen, erzeugen als Fülle alles Möglichen im ruhelos bewegten Stoff wohlunterschiedene, in sich strukturierte Gestalten. Zweckursachen wirken allerdings nicht losgelöst von Wirkursachen und von dem Stoff, in dem sie sich ausprägen. Dadurch gibt es auch zufällige, regellose und rein mechanisch entstandene Ereignisse, sodass die Ideen das Geschehen in der Welt nicht vollständig bestimmen. Die Welt ist keine Kopie einer zeitlosen, idealen Ordnung, obwohl im kosmischen Maßstab betrachtet trotz der Wirkung der blinden Notwendigkeit die Vernunft dominiert, Zwecke die richtungslose Kausalität des Geschehens lenken. Da in jedem Prozess Wirk- und Zweckursachen ineinander greifen, ist der Kosmos nicht nur stabil; durch den Anteil am intelligiblen Sein, an Zielen und Werten hat er einen intrinsischen Wert. Natur und Vernunft, Sein und Sollen gehören zusammen.

Die Muster und die schöpferische Dynamik, die die Vielfalt endlicher Formen hervorbringen, entstammen einer immateriellen Sphäre. Obwohl materielle Prozesse im Kosmos eine notwendige Bedingung für geistige sind, verleihen diese jenen erst ihre Form. Sogar die Atome als kleinste materielle Partikel sind schon bestimmte Entitäten mit charakteristischen Eigenschaften, sodass es keine Materie ohne Geist gibt. Wenn es besser ist, zu sein als nicht zu sein, dann sind Form und Gestalt erstrebenswert und damit das, was sie ermöglicht: die Idee des Guten, die jedes innerweltliche Ziel transzendiert. Für den Menschen als bewusstem Wesen wird die Erkenntnis des Seinsgrundes daher zum Lebensziel, wie Platon im ‚Höhlengleichnis‘, ‚Symposion‘ und ‚Phaidros‘ betont.

Die fünfte Frage ist, woraus bzw. worin der Kosmos entstanden ist: Es gibt Seiendes, Werdendes und eine Art Urraum, in dem sich das Werden vollzieht. Der Raum ist „allen Werdens bergender Hort wie eine Amme.“12 Gerade weil er ohne Bestimmtheit und formende Kraft ist, eignet er sich als Urstoff für alle möglichen Seienden. Wie die Ideen, wenngleich in anderer Weise, entzieht sich die „Prägemasse“13 dem Bereich sinnlich-wahrnehmbarer und begrifflich fassbarer Entitäten. Da sich das Denken immer auf etwas Bestimmtes und damit Definierbares richtet, ist sie nur einem „Bastard-Denken“14, einem „unechten Denken“15, wie Plotin sagen wird, zugänglich. Die Funktion des Raumes als Prägemasse deutet darauf hin, dass er, anders als bei Newton, nicht leer ist, sich also nicht von der Materie trennen lässt. Außerdem ist er kein unveränderlicher, homogener Behälter; er befindet sich nicht im Gleichgewicht, sondern „schwankt ungleichmäßig auf und ab.“16 Ursache für dieses Ungleichgewicht ist das Werden und Vergehen endlicher Seiender. Durch seine Instabilität übt der Raum Kräfte aus; er wird zu einer Art „Rüttelgerät“17, das leichtere und schwerere Elemente voneinander trennt und so zur Ordnung des Kosmos beiträgt.

Dem Raum eignet somit eine eigentümliche Ambivalenz: Im Bild der Amme erscheint er als bergend, nährend, Werden ermöglichend; aufgrund seiner Unbestimmtheit wird jedoch alles, was entstanden ist, wieder vergehen. Zumindest in seiner Einseitigkeit ist der häufig gegen Platon erhobene Vorwurf unberechtigt, die Sinneswelt werde, wie die Leiblichkeit, nur negativ als Schattenwelt gezeichnet. Mit der Bestimmung des Werdenden zwischen dem reinen Sein der urbildlichen Formen und der bloßen Unbestimmtheit des Raumes hebt Platon auch für die Kosmologie die vermittlungslose Gegenüberstellung von Sein und Nicht-Sein auf, die Parmenides vollzogen hatte. Das Werdende ist zwar nicht Sein im vollen Sinne, aber es ist auch kein bloßes Nichtsein. Dank der immateriellen Formen eignet ihm ein gewisses Maß an Sein. Es dauert trotz seiner Vergänglichkeit und ist nur als Werdendes. Damit lässt sich auch ein anderer Vorwurf entkräften, der heute vor allem von neodarwinistisch eingestellten Biologen und Vertretern einer reduktionistischen Kosmologie erhoben wird: dass nämlich eine Welt, die in einem göttlichen Sein gründet, vollkommen sein müsse, sodass es kein Leid geben dürfe. Für Platon ist die Welt dem Göttlichen nur ähnlich, sie ist nicht mit ihm identisch. Das All ist „soweit möglich“18 seiend; nur „das meiste des im Entstehen Begriffenen“19 wird dem Besten entgegengeführt; das, was vormals „ohne Verhältnis und Maß“ war, wird „zu möglichst“20 Schönem und Gutem. Stets bleibt eine gewisse Einschränkung der Vollkommenheit bestehen, weil die Durchformung der Materie, die Bestimmung des gänzlich Unbestimmten, nie vollständig gelingen kann. Einerseits ist die Welt nicht so vollkommen wie es die Ideen sind; andererseits gäbe es ohne den chaotischen Urstoff überhaupt keinen Kosmos und damit auch kein Werden. Der Ambivalenz chaotischer Elemente werden wir bei Whitehead wieder begegnen, für den sie eine Voraussetzung für das indeterminierte Entstehen von Neuem und damit für die Evolution sind.

Die Ideen erzeugen im uranfänglichen Chaos zunächst die vier Elemente, die sich dem chemisch ungebildeten Beobachter in der Natur zeigen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Während jedoch die Vorsokratiker die Ausdifferenzierung der Körper aus einem Urstoff, etwa dem Wasser (Thales), annahmen oder die Elemente als gegeben hinnahmen (Empedokles), formt Platon, der darin den Pythagoreern folgt, die Lehre seiner Vorgänger mithilfe mathematischer Prinzipien neu. „Diese damals von Natur so Beschaffenen gestaltete der Gott also zunächst durch Formen und Zahlen.“21 Zahlen sind in diesem Fall kein Mittel, um bereits vorgefundene Einheiten zu quantifizieren oder ihre räumliche Ausdehnung zu messen; als Strukturprinzipien ermöglichen sie die Gliederung des Urstoffs und damit, dass es überhaupt qualitativ unterscheidbare Einheiten gibt, die dann auch quantitativ zählbar sind. Die Elemente sind keine starren, stofflichen Substanzen, sondern qualitative Bestimmungen eines sich nur in diesen Modi darstellenden Urstoffs, der zugleich Raum, Materie und Energie ist. Da sie aus der Verbindung der Formen mit dem Urstoff entstehen, sind sie, anders als bei Newton und wie in der heutigen Physik, nicht unwandelbar.

Nicht nur die einzelnen Elementarkörperchen sind nach mathematischen Prinzipien gebildet; das Gesetz der Proportion bestimmt auch das äußere Verhältnis der Elemente zueinander und setzt sie so untereinander in eine wohlbestimmte Relation. Die innere Proportion tritt als Verhältnis zu anderen Elementen äußerlich in Erscheinung. Proportionen verbinden das Unterschiedene in sich und mit anderem. Durch innere und äußere Relationen entsteht im Kosmos ein „freundschaftliches Einvernehmen.“22 Die dreidimensionale Räumlichkeit des Kosmos verdankt dem Gesetz der Proportion seine Stabilität. Es handelt sich um ontologische Strukturen, die mathematisch darstellbar sind. Dennoch sind die Gesetze von Geometrie und Arithmetik nicht mit der Ideenwelt identisch, wie Platon im ‚Liniengleichnis‘ der ‚Politeia‘ zeigt.

Da die Welt durch Werden und Vergehen bestimmt ist, ist sie nie vollständig das, was sie von ihren Möglichkeiten her sein könnte. Immer steht etwas aus, das noch nicht ist, sondern erst werden kann, und immer ist etwas nicht mehr, das einmal war. Alles Geschehen in der Welt hat eine zeitliche Dynamik. Sogar die Zeit selbst hat einen Anfang, sie „entstand mit dem Himmel.“23 Sowenig wie es einen leeren Raum gibt, gibt es den Kosmos ohne Zeit, sodass, wie in der modernen Astrophysik, Raum, Zeit und Materie zusammen gehören. In ihrem ursprünglichen Sinn ist die Zeit daher nicht „die Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ‚davor‘ und ‚danach‘“24, wie Aristoteles in der ‚Physik‘ definiert; zählbar ist nur, wie oft sich bestimmte, regelmäßig wiederkehrende Prozesse wie die Kreisbewegung der Gestirne oder der Sonnenaufgang wiederholen. Diese sind jedoch ihrerseits bereits zeitlich verfasst.

Da Chronos, die Zeit, geworden ist, kann man sie ebenso wenig wie den Kosmos aus sich heraus verstehen, sondern nur durch den Bezug auf ihr unvergängliches Urbild, den Aion. Sie ist „ein bewegliches Abbild der Ewigkeit.“25 Die sich von der Ewigkeit herleitende Zeit interpretiert Platon mithilfe des Modells der Lebenszeit. Als Urbild des Kosmos ist der Aion die Idee eines Lebens, das nicht wird und vergeht. In ihm sind alle Lebensphasen, die Chronos sukzessive zur Entfaltung bringt, ungeteilt gegenwärtig. Im Unterschied zur gemessenen Zeit, die nur ein äußerlicher Parameter ist, der nichts zur Strukturierung der Prozesse beiträgt, bildet die Lebenszeit ein Ganzes, das die verschiedenen Lebensphasen zu einer inneren Einheit verbindet. Das Leben rundet sich, wenn alle Phasen durchlaufen werden. Während die Ideen alles, was möglich ist, zeitlos in sich schließen, wird die Welt ihrem Urbild dadurch ähnlich, dass sie das zeitlos Gegenwärtige im Durchgang durch die drei Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchläuft.

Man würde freilich dem Modell der Lebenszeit nicht gerecht, wenn man sie nur als Nacheinander einzelner Zeitabschnitte begreifen würde. Die Phasen unterscheiden sich qualitativ und bauen aufeinander auf, sodass ihre Abfolge nicht beliebig ist. Da die Lebenszeit nicht homogen ist, ist es nicht gleichgültig, in welcher Reihenfolge etwas geschieht. Kindheit, Jugend, Reife und Alter sind verschiedene Phasen mit je unterschiedlicher Länge, besonderen Fähigkeiten und spezifischen Aufgaben, die das Individuum in der Gesellschaft hat. Auch Tag und Nacht, Monat und Jahr sind qualitativ verschiedene Momente eines in sich zusammenhängenden Zeitverlaufs; sie sind Glieder in einem komplexen Gefüge, das nur in seiner Ganzheit den Aion zum Ausdruck bringt. Das Jahr gliedert sich in die einzelnen Jahreszeiten, der Tag in verschiedene Tageszeiten, die wiederum mit unterschiedlichen Aktivitäten bei allen Lebewesen verbunden sind. Die Qualität des Lebens hängt weniger von der Zahl der Jahre ab als davon, ob alle Phasen durchlaufen werden. Dann ist es erfüllt.

Wie die Raummaterie ist auch die Zeit janusköpfig: Als Abbild der Fülle der Zeiten ist sie nicht pure Vergänglichkeit, sondern Bedingung des Werdens, der Entwicklung von Möglichkeiten. Da diese jedoch nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander entfaltet werden können, schafft erst das Vergehen den Raum für neue Möglichkeiten. Um erwachsen zu werden, muss man die Kindheit hinter sich lassen, um weise zu werden, muss man eine Fülle von Erfahrungen durchlebt haben. Damit etwas Neues entstehen kann, muss das, was entstanden ist, vergehen. Ohne den Tod wäre die Entfaltung des Lebens unmöglich.

Auch für die Zeit sind Proportionen entscheidend: Platon bestimmt sie als „in Zahlenverhältnissen umlaufend.“26 Im Kosmos hat jedes Lebewesen, in Hinblick auf seine Lebensdauer und seine Lebensphasen, sein eigenes zeitliches Maß. Doch nur wenn die unterschiedlichen Lebenszeiten aufeinander abgestimmt sind, wird der Kosmos zu einem in sich gegliederten Ganzen. Als Urbild ist die Ewigkeit in gewisser Weise eine zeitlose Momentaufnahme, in der die zeitlichen Proportionen aller Lebewesen gleichzeitig vorhanden und aufeinander abgestimmt sind. Deshalb ist auch das Werden und Vergehen in der Welt kein bloßes Nach- oder Nebeneinander von Geburten und Toden, sondern wird durch die Verhältnisse der Lebenszeiten aller Lebewesen zueinander strukturiert. Erst das Zusammenspiel der Vielzahl einzelner Zeiten bildet die zeitliche Dynamik des Kosmos als ‚großem Lebewesen‘. Die Ordnung der Natur, so kann man diesen Gedanken übersetzen, ist nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche. Die Zeit ist nicht nur die Form der inneren Anschauung, wie Kant dachte, und keine bloß mentale und soziale Konstruktion; sie ist eine notwendige Voraussetzung für die Erhaltung und Entfaltung einer Vielfalt von Lebewesen, von denen jedes eine Eigendynamik hat.

Es liegt nahe, die platonische Zeitkonzeption in eine Beziehung zur modernen Ökologie zu bringen: Stabilität und Regenerationsfähigkeit eines Ökosystems beruhen auf der Abstimmung der Lebenszyklen der verschiedenen Lebewesen und der Stoffströme aufeinander. Zugvögel etwa können erst Nahrung finden, wenn Insekten vorhanden sind, die wiederum auf bestimmte Blumen angewiesen sind. Die Ankunft der Vögel und ihre Brut, die Blüte der Pflanzen und das Reifen der Früchte, die Eiablage und das Schlüpfen der Insekten müssen miteinander koordiniert sein. Ein Problem des Klimawandels besteht gerade darin, dass die unterschiedlichen Zeiten entkoppelt werden. Obwohl Platon nichts von der modernen Ökologie ahnen konnte, war die Beobachtung, dass die Aktivitäten unterschiedlicher Lebewesen miteinander korreliert sind, in einer stark von Landwirtschaft geprägten Gesellschaft vermutlich Allgemeingut.

Platon charakterisiert die Zeit außerdem als umlaufend: Der Versuch, diese Aussage durch den Hinweis zu erklären, dass die antiken Denker die Erde als Mittelpunkt der Welt betrachteten, die von den Gestirnen umkreist wurde, greift zu kurz. Nicht nur am Firmament, sondern in der ganzen Natur lassen sich zyklisch wiederkehrende Prozesse beobachten. Nur wenn das Ende eines Jahres in den Beginn eines neuen mündet, auf einen Winter wieder der Frühling folgt, kann sich die Natur in ihrer Formenvielfalt entfalten und als gleichförmige Ordnung nahezu unbegrenzt erhalten. Nur als Kreisbewegung, die sich endlos wiederholt, kann die Zeit, so glaubte daher Platon, ein Abbild der Ewigkeit sein. Auch der Bestand einer Gesellschaft hängt davon ab, dass sich Geburten und Tode einigermaßen die Waage halten. Nur wenn ungefähr genauso viele Menschen geboren werden wie sterben kann sie sich erhalten. Wenn kaum Menschen sterben und gleichzeitig weiter Kinder geboren werden, sind Überbevölkerung und ein Raubbau an der Natur unausweichlich. Werden langfristig weniger Menschen geboren als sterben, stirbt die Menschheit aus. Die zyklische Abfolge ist daher nicht nur ein Bild für die Einheit der Lebensphasen, sondern auch eine Bedingung der Erneuerung des Lebens auf der Erde, seiner Regeneration im buchstäblichen Sinn.

Den Kosmos vergleicht Platon mit einem „beseelten und mit Vernunft begabten Lebewesen“27, das „alle von Natur ihm verwandten Lebewesen in sich faßt.“28 Die Metapher des Lebewesens drückt die Einsicht aus, dass auch in diesem Kontext Werden und Vergehen in einem qualitativen Sinne zu verstehen sind. Wie bei einem Organismus bildet sich das Ganze aus dem Zusammenspiel der Teile, die ihrerseits ihre Funktion erst aus dem Bezug zum Ganzen gewinnen. Jeder Teil gewinnt seine eigentümliche Bestimmung erst durch die Beziehung zu etwas, was er nicht ist, was andere Eigenschaften und Fähigkeiten hat. Alles hat in seinem Sein Anteil an dem, was es nicht ist. Erst die dynamische Verschränkung von Sein und Nichtsein ermöglicht die Komplexität des Universums. Das Nichtsein, so argumentiert Platon im ‚Sophistes‘, ist das alles Seiende durchdringende Verschiedene: „Wir werden mit Recht sagen, daß gleichermaßen alles nichtseiend ist und daß es doch wiederum, weil es am Seienden teilhat, ist. Wenn wir Nichtseiendes sagen, so meinen wir nicht ein Entgegengesetztes des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes.“29

Im Unterschied zum Vergleich des Kosmos mit einem Uhrwerk, der sich in der Neuzeit durchsetzen wird, beinhaltet die Metapher des Organismus die Durchdringung materieller und geistiger Prozesse. Der Kosmos wird in ähnlicher Weise von der göttlichen Vernunft durchwaltet wie der Leib von der Seele. Sieht man den Geist als höchste Form der Lebendigkeit, dann gibt es im Kosmos nichts, das völlig leb- und geistlos wäre. Wie ein Lebewesen hat der Kosmos das Prinzip der Organisation in sich, sodass die vielen Lebewesen keine Fremdkörper in einem ansonsten toten Universum sind, sondern Unterarten, Teile und Spezifikationen des Weltorganismus. Die Ordnung des Ganzen bleibt im Auf- und Abbau der Teile erhalten.

Die Ordnung des Kosmos wird allerdings nicht nur durch die Gesetze bestimmt, die die Materie und das Verhältnis der Lebewesen zueinander regeln, sondern auch durch die Lebensweise der Menschen. Auch sie sind ein integraler Teil des Weltganzen, sodass eine Kosmologie ohne Anthropologie genauso unvollständig wäre wie eine Anthropologie ohne Kosmologie. In mythischer Rede schildert Platon die Entstehung einer Vielzahl von Lebewesen, die sich in vier große Gattungen unterteilen lassen und sich in unterschiedlicher Nähe zum höchsten Sein befinden: Götter; Lebewesen, die die Luft bevölkern, solche, die im Wasser leben und die, die auf der Erde wohnen. In jeder Lebensform hat eines der vier Elemente den Vorrang und bestimmt dadurch Lebensumfeld und Lebensweise.

Das Geschlecht der Menschen entsteht aus gemischter Materie, sodass es an allen Elementen Anteil hat. Ihm kommt eine eigentümliche Zwischenstellung zu zwischen dem Wissen der Götter und der dumpfen Unwissenheit der Tiere, zwischen der göttlichen Unsterblichkeit und den ohne Wissen um ihren Tod lebenden Tieren und Pflanzen, zwischen dem Streben nach bloß vitaler Selbsterhaltung und dem nach der Erkenntnis des höchsten Seins. Das Verhalten kann sich an der Befriedigung der Triebe orientieren oder an der Vernunft ausrichten. Strukturell ist der Mensch ein gefährdetes Wesen. Die menschliche Seele ist zwar an den Leib gebunden, aber nicht aus der materiellen Organisation ableitbar. Schon im ‚Phaidon‘ argumentiert Sokrates, dass die Physik seiner Zeit nur materielle Ursachen berücksichtigt und versucht zu beweisen, dass Ziele und Absichten nicht aus der körperlichen Organisation ableitbar sind. Er berichtet, wie seine anfängliche Begeisterung für Anaxagoras einer großen Enttäuschung gewichen sei, als er feststellte, dass die Vernunft bei ihm funktionslos ist und, modern gesprochen, bestenfalls ein Epiphänomen materieller Prozesse sein kann. Die Argumente von Sokrates bzw. Platon klingen wie eine Kritik am modernen Naturalismus: „Mich dünkte, es sei ihm so gegangen, als wenn jemand zuerst sagte: Sokrates tut alles, was er tut, mit Vernunft, dann aber, wenn er sich daran machte, die Gründe anzuführen von jeglichem, was ich tue, dann sagen wollte, zuerst daß ich jetzt deswegen hier säße, weil mein Leib aus Knochen und Sehnen besteht und die Knochen dicht sind und durch Gelenke voneinander geschieden, die Sehnen aber so eingerichtet, daß sie angezogen und nachgelassen werden können, und die Knochen umgeben nebst dem Fleisch und der Haut, welche sie zusammenhält. Da nun die Knochen in ihren Gelenken schweben, so machten die Sehnen, wenn ich sie nachlasse und anziehe, daß ich jetzt imstande sei, meine Glieder zu bewegen, und aus diesem Grunde säße ich jetzt hier mit gebogenen Knien. Ebenso, wenn er von unserm Gespräch andere dergleichen Ursachen anführen wollte, die Töne nämlich und die Luft und das Gehör und tausenderlei dergleichen herbeibringen, ganz vernachlässigend, die wahren Ursachen anzuführen, daß nämlich, weil es den Athenern besser gefallen hat, mich zu verdammen, deshalb es auch mir besser geschienen ist, hier sitzen zu bleiben, und gerechter, die Strafe geduldig auszustehen, welche sie angeordnet haben.“30 Klar unterscheidet Platon zwischen kausal wirkenden Ursachen und Gründen, die dem Handeln eine Richtung verleihen und ethische Urteilsakte beinhalten. Nur durch die Vernunft kann eine angemessene Beziehung zu einem Ziel hergestellt werden, das auch gegen äußere Widerstände verfolgt wird.

Da sich die Menschen anders als Tiere durch die Vernunft an den Ideen orientieren können, werden ihnen, so berichtet Platon im ‚Timaios‘, „die Natur des Alls und die vom Schicksal verhängten Gesetze“31 verkündet. Dass die Menschen die Ordnung der Natur zumindest in bestimmten Zügen erkennen können, ist eine Voraussetzung für das Überleben; doch anders als die evolutionäre Erkenntnistheorie will die platonische Philosophie nicht nur die Möglichkeit des Überlebens begründen, sondern die Voraussetzung für ein im ethischen Sinne gutes Leben, das die Orientierung an Werten wie Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Wahrheitsliebe beinhaltet. Wie alle anderen Lebewesen sind auch die Menschen mit ihrer Lebensweise ein Teil des Ganzen, sodass ihre innere Einstellung und ihr Handeln den Gang der Dinge beeinflussen. Wenn sie sich an der idealen Ordnung orientieren, können sie zumindest einen Teil der in der Welt herrschenden Unvollkommenheit in Vollkommenheit verwandeln. Die Orientierung am göttlichen Urbild des Kosmos ist nicht nur für das Schicksal des Einzelnen wesentlich; sie ist die Voraussetzung dafür, dass das gesellschaftliche Leben insgesamt an der Idee des Guten und der Gerechtigkeit orientiert ist. Es liegt jedoch nicht in der menschlichen Macht, eine ideale Ordnung zu schaffen.

Dass Menschen in die Natur eingreifen und sie zerstören können, war bereits Platon bekannt. Die Verkarstung unterhalb der Akropolis führt er im Dialog ‚Kritias‘, in dem er die Kämpfe zwischen Ur-Athen und der im Meer versunkenen Insel Atlantis schildert, auf die Abholzung der Wälder zurück, die dazu führt, dass die Erde nicht mehr von Wurzeln festgehalten, sondern durch das Regenwasser weggeschwemmt wird. „Übriggeblieben sind nun – wie auf den kleinen Inseln – im Vergleich zu damals nur die Knochen eines erkrankten Körpers, nachdem ringsum fortgeflossen ist, was vom Boden fett und weich war, und nur der dürre Körper des Landes übrigblieb. Jetzt bieten einige der Berge nur den Bienen Nahrung, es ist jedoch nicht lange her, als von Bäumen, die hier als Dachbalken für die gewaltigsten Bauten geschnitten wurden, die Dächer noch erhalten sind. Es gab viele andere hohe veredelte Bäume, die Erde trug unermeßlich viel Weidefutter für die Herden.“32 Eine gewisse Maßlosigkeit des Lebensstils, die sich im Wunsch nach repräsentativen Gebäuden zeigt, der Schiffsbau für Handel und Kriegsführung sowie Minen zum Abbau von Erzen führten zur Abholzung und der nachfolgenden Verkarstung der Landschaft, die artenarm ist und regelrecht krank wirkt. Aus diesen Missständen zieht Platon Schlüsse für eine Form der Landwirtschaft, die der Natur die Möglichkeit gibt, sich zu regenerieren. Sie fordert vom Landwirt einen ästhetischen Sinn und von der Bevölkerung einen maßvollen Lebensstil, der in der Mitte zwischen Luxus und Askese liegt und auf Tätigkeiten verzichtet, die einen Raubbau an der Natur bedeuten. Zu einem maßvollen Leben gehört auch die Regulierung der Bevölkerungszahl. Nur dann können Land und Besitz an die kommenden Generationen unverändert vererbt werden und einen gleichbleibenden Wohlstand ermöglichen. Das Land „war, wie es sich erwarten läßt, gehörig in Ordnung gebracht von echten Landwirten, die eben nur dies betreiben, von schönheitsliebenden, wohlbegabten Männern, welche trefflichsten Boden, reichlichstes Wasser und über dem Land besttemperierte Jahreszeiten besaßen. Die Stadt aber war zur damaligen Zeit in folgender Weise angelegt: Zunächst war die Akropolis damals nicht so beschaffen, wie sie es jetzt ist. Jetzt nämlich hat eine einzige besonders regenreiche Nacht sie ringsum aufgeweicht und erdentblößt gemacht. In ihrer früheren Größe zur andren Zeit war (sie) durchgängig mit Erde bedeckt. Ihre Nordseite bewohnten sie, wo sie gemeinsame Häuser und Speiseräume für den Winter eingerichtet hatten und all das, wovon es sich ziemte, daß es dem gemeinsamen Staatsleben auf Grund von Baumaßnahmen für sie selbst und für die Heiligtümer zur Verfügung stand, doch ohne Anwendung von Gold und Silber; − dessen bedienten sie sich in keinem Falle, sondern sie erbauten, die Mitte zwischen Überheblichkeit und niedriger Dürftigkeit haltend, schmucke Wohnhäuser, in denen sie selbst und ihre Kindeskinder alt wurden und die sie stets in demselben Zustand anderen, die wie sie waren, übergaben. In dieser Form nun wohnten sie dort, ihrer eigenen Mitbürger Beschützer, der übrigen Griechen Anführer auf deren Wunsch; und sie gaben sorgsam darauf acht, daß ihre Anzahl an Männern und Frauen möglichst für alle Zeit dieselbe bliebe.“33 Das Zusammenspiel des Lebensstils, der von ethischen Haltungen geprägt sein sollte, mit den natürlichen Gegebenheiten prägt das Gesicht einer Kulturlandschaft – im Guten wie im Schlechten. Nicht in der Hand des Menschen liegen dagegen Naturkatastrophen wie die, die den Untergang der Insel Atlantis bewirkt haben soll. Anders als für Platon galt jedoch den meisten Menschen in der Antike die Übernutzung der Natur als legitimes Mittel, um Kultur, Wohlleben und exzessiven Luxus zu ermöglichen. Nicht umsonst war für Aristoteles, der seine Aufmerksamkeit vor allem Lebewesen zuwandte und für die Stoiker, die den Menschen mit seiner Vernunft in die vom Logos durchdrungene kosmische Ordnung einbetteten, eine der vier Kardinaltugenden die Fähigkeit zum Maßhalten.

Anders als in der berühmt-berüchtigten Stelle des ‚Phaidon‘, an der Sokrates unmittelbar vor seinem Tod den Körper als Gefängnis der Seele bezeichnet, ist das Menschenbild im ‚Timaios‘ an der Harmonie von Leib und Seele ausgerichtet.34 Auch die Sinne sind ambivalent: Einerseits können sie den Menschen in die Irre leiten, andererseits haben sie, wie Platon im ‚Phaidros‘ und ‚Symposion‘ betont, eine unverzichtbare Bedeutung für eine angemessene Lebensführung. Nur durch das Sehvermögen kann man die Himmelsbewegung in ihrer Gleichförmigkeit betrachten und eine Ahnung von der urbildlichen, zeitlosen Ordnung gewinnen, die ihr zugrunde liegt. Dadurch wird die sinnliche Betrachtung der Natur zum Anstoß für die Hinwendung zu Wissenschaft und Philosophie. Vor allem die mit der Mathematik verwandte Astronomie gewinnt eine ethische Aufgabe: Sie wird zum Medium, durch das die Menschen die verwirrten, unruhigen Bewegungen der eigenen Emotionen der gleichförmigen Bewegung der Gestirne, jenem Abglanz der Ewigkeit, angleichen können. Die Verwirklichung des Lebenszieles, die kontemplative Schau der Idee des Guten, wird unterstützt durch die Übereinstimmung der Bewegungen von Leib und Seele, dem Einklang von Erkennen und Handeln.

Gestalt, Struktur und Form galten dem griechischen Empfinden nicht nur als Voraussetzung dafür, dass überhaupt endliche Entitäten existieren, sondern auch als Ausdruck von Schönheit, sodass der Kosmos eine ästhetische Dimension besitzt. Unabhängig von menschlichen Urteilen ist er objektiv schön. Die ästhetische Dimension beruht auf den Proportionen, die einer Entität ihre Gestalt verleihen und sie mit anderen Entitäten in eine Beziehung setzen. Nur das, was Form und Gestalt hat, hat überhaupt Anteil am Sein; durch seine seinsverleihende Kraft erscheint dieses als ein erstrebenswertes Gut, sodass alle endlichen Entitäten bis zu einem gewissen Grad an ihm partizipieren, seiend und gut sind; nur weil sie eine Struktur besitzen, sind sie von anderen unterscheidbar und damit erkennbar; durch ihre Proportionen eignet ihnen schließlich auch ein ästhetisches Moment. Jede Entität ist durch ihre Teilhabe an der idealen Ordnung zugleich erkennbar, gut und schön. Inzwischen entdeckt, wie wir noch sehen werden, auch die moderne Ökologie den Zusammenhang von ästhetischen, ethischen und funktionalen Aspekten wieder.

Da in der Natur geistige Prinzipien gegenwärtig sind, ist der Mensch als leibgeistige Einheit ein integraler Teil des Kosmos. Er kann sich nur selbst erkennen, wenn er auch um seine Stellung im Kosmos weiß. Dadurch thematisiert Platon auch die Fragen, die eine rein physikalische Kosmologie nicht mehr stellt. Dass jedoch zuerst über die Entstehung des Kosmos in seinen zeitlichen und materiellen Aspekten berichtet wurde, weist auf eine fundamentale Grunderfahrung hin, die die platonische Kosmologie, trotz aller Unterschiede, mit der physikalischen Kosmologie des 20. Jh. verbindet: Die großräumigen materiellen Strukturen des Alls und seine Gesetze gehören zu den ontologischen Voraussetzungen allen Lebens. Im Unterschied zu Kant, der den Ausgang der Welterschließung in das erkennende Subjekt verlagert, begreift sich der Mensch bei Platon aus dem ihn umgebenden Weltzusammenhang, den er mit seinem Geist überschreiten kann. Beide Argumente haben, so wird bei Whitehead deutlich werden, ihre Berechtigung.

Die Wiederentdeckung der Natur

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