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3.2 Der Mensch als Mikrokosmos
ОглавлениеInmitten des von der Gottheit umfassten Kosmos steht der Mensch mit erhobenem Haupt und in Kreuzesform ausgespannten Armen und Beinen. Er ist ein Teil des Kosmos, der wiederum in Gott gegründet und ein geistdurchwirktes, sinnvolles Ganzes ist. „Mitten im Weltenbau steht der Mensch. Denn er ist bedeutender als alle übrigen Geschöpfe, die abhängig von jener Weltstruktur bleiben. An Statur ist er zwar klein, an Kraft seiner Seele jedoch gewaltig. Sein Haupt nach aufwärts gerichtet, die Füße auf festem Grund, vermag er sowohl die oberen als auch die unteren Dinge in Bewegung zu versetzen. Was er mit seinem Werk in rechter oder linker Hand bewirkt, das durchdringt das All, weil er in der Kraft seines inneren Menschen die Möglichkeit hat, solches ins Werk zu setzen. Wie nämlich der Leib des Menschen das Herz an Größe übertrifft, so sind auch die Kräfte der Seele gewaltiger als die des Körpers, und wie das Herz des Menschen im Körper verborgen ruht, so ist auch der Körper von den Kräften der Seele umgeben, da diese sich über den gesamten Erdkreis hin erstrecken.“80 Die Welt sollte dem Menschen eine „Wohnstatt“81 sein, in der er sich heimisch und geborgen fühlen kann. Dass er mit seinen Gliedern alle Sphären durchdringt, ist nicht im Sinne räumlich-körperlicher Ausdehnung gemeint. Als Mikrokosmos entspricht er in seiner leib-geistigen Struktur dem Makrokosmos. Wie in einem Brennpunkt konzentriert er alle Weltbezüge in sich: Er hat teil an den anorganischen Stoffen durch den Aufbau seines Leibes; wie Pflanzen hat er das Vermögen zu wachsen und sich zu vermehren, und er hat vitale Bedürfnisse und Gefühle wie Tiere. Darüber hinaus ist er jedoch mit Vernunft begabt, sodass er über sich und die Welt nachdenken, sein Handeln bewusst lenken und sich Gott zuwenden kann. „Gott (hat) die gesamte Schöpfung im Menschen gezeichnet. In sein Inneres aber legte Er die Ähnlichkeit mit dem Engel-Geist, und das ist die Seele.“82
Im Unterschied zu den reinen Geistwesen lebt der Mensch aufgrund seiner Leiblichkeit inmitten des Kosmos und untersteht damit auch den physischen Kräften; doch anders als Pflanzen und Tiere ist er durch seinen Geist nicht auf seine Kreatürlichkeit beschränkt. Die Vernunft dient nicht nur dem Überleben und dem möglichst effizienten Lösen alltäglicher Probleme; sie öffnet ihn zur Transzendenz. Der Mensch hat eine „doppelte Natur“83, er ist, wie man in freier Abwandlung Kants sagen kann, ein Bürger zweier Welten. Eine Sonderstellung hat er nur dadurch, dass er alle Elemente des Kosmos in sich trägt und so Sinnes- und Geisteswelt, Zeit und Ewigkeit, Himmel und Erde in sich verbindet. Als Mikrokosmos ist er nicht nur im Bilde Gottes geschaffen, sondern auch im Bild der Welt. Diese gewinnt nur durch ihn ein Zentrum, das die verschiedenen Lebensbereiche vereint. Der räumlichen Mittelpunktstellung auf der im Zentrum des Kosmos ruhenden Erde entspricht die geistige als Mikrokosmos.
Mensch und Welt sind demnach in dreifacher Weise verbunden: Der Kosmos wäre ohne den Menschen unvollständig; der Mensch wiederum kann sich nur aus der Beziehung zum Makrokosmos verstehen, durch seinen Geist schließlich weiß er um den gemeinsamen Seinsgrund. Als leib-geistige Einheit braucht er den Makrokosmos zur Erhaltung seines physischen und psychischen Gleichgewichts. Sein Leben hängt nicht nur von den Elementen, sondern auch von der Vielzahl anderer Kreaturen ab. „Denn er könnte kein Mensch sein, wenn die übrigen Geschöpfe nicht da wären.“84 Seine psycho-physische Identität, sein leibliches Wohlbefinden und seine geistige Kraft, beruhen auf einer gelingenden Beziehung zu den Mitgeschöpfen, sodass er sie nicht ausbeuten oder gar vernichten, sondern mit ihnen zusammenwirken sollte.
Als leibgebundenes Wesen muss er handeln, sodass er nur als wirkend gedacht werden kann: Er ist homo operans. Die Lebensumstände sind nicht einfach hinzunehmen, sondern durch bewusste Entscheidungen zu formen. Homo operans ist der Mensch daher nicht, weil er gelegentlich tätig ist; zu wirken ist ihm wesentlich, es ist Ausdruck seiner Lebendigkeit. So wie Gott die Welt schuf, so soll der Mensch sein eigenes Leben bewusst gestalten. Verliert er diese Fähigkeit, dann ist zwar sein Körper noch lebendig, geistig jedoch ist er tot. Die Kraft, das Handeln zumindest bis zu einem gewissen Grad selbst zu verursachen, selbstbestimmt und eigenverantwortlich tätig zu sein, kann der Mensch freilich nicht aus sich heraus erzeugen. Umgekehrt formuliert: Wäre er wirklich autonom und könnte sein Leben selbst begründen, wäre er nicht sterblich. Die Fähigkeit zum schöpferischen Wirken verdankt er der Teilhabe an der schöpferischen Kraft Gottes, die in ihm wirksam ist. „Gott ist es, der Seinem Werk auch Leben geben kann, weil Er selbst Leben ohne Lebensanfang ist.“85 Im Bilde Gottes geschaffen zu sein bedeutet, eine innere Freiheit von kausal wirkenden Ursachen zu haben. Sie zeigt sich in allen Formen bewusster Lebensführung, in kulturschöpferischen Leistungen ebenso wie in ethischen Akten, in der Freiheit, jemandem etwas zu versprechen oder ihm zu verzeihen. Doch auch als Kultur schaffendes Wesen kann der Mensch nur inmitten der Natur handeln. Deshalb braucht er sie nicht nur zur biologischen Selbsterhaltung, sondern auch für sein geistiges Werk, sein Opus. Nur aus der Beziehung zum Weltganzen kann er sein seelisch-geistiges Potenzial entfalten. Die Einbettung in das kosmische Gefüge gehört daher nicht beiläufig, sondern wesentlich zu seiner Identität.
Der Mensch ist jedoch noch nicht Mensch im vollen Sinne des Wortes; er kann und soll es erst werden. Um die Frage zu beantworten, was er ist, genügt es daher nicht zu beschreiben, wie sich eine große Zahl von Menschen gewöhnlich, statistisch gesehen, verhält. Der Mensch wird an dem gemessen, was er sein könnte, wenn er sein Potenzial ausschöpfen würde. Die Deskription des Verhaltens muss daher durch einen normativen Anspruch ergänzt werden. Mit der Schöpfung der Welt ist ihm ein Ziel gesetzt, das er verwirklichen soll. Auch die Schöpfung hat ihre endgültige Gestalt noch nicht erreicht, sodass der Mensch dazu berufen ist, auch an ihrem Entfaltungsprozess mitzuwirken. Indem er sich in seinen Tätigkeiten verwirklicht, trägt er dazu bei, dass sich die ganze Schöpfung auf ihren Schöpfer zubewegt. Die Welt, wie wir sie kennen, kann daher nur der Weg, nicht das Ziel sein. Dennoch beinhaltet die Rückwendung zum Ursprung keine Weltverachtung, sondern eine sich vertiefende Beziehung zu allen Kreaturen. Das Verhältnis von Mensch und Natur ist also keineswegs einseitig. Es ist nicht nur der Mensch, der die Natur braucht; auch diese ist auf ihn angewiesen, damit sich die in ihr schlummernden Möglichkeiten entfalten. Auch die Inkarnation war für Hildegard kein reiner Gnadenerweis als Folge des Sündenfalls, sondern von Anbeginn im Plan der Schöpfung angelegt. Nur durch sie ist dessen Vollendung möglich.
Eine wechselseitige Beziehung von Mensch und Natur ist nur möglich, weil der Mensch als Mikrokosmos strukturell alle Geschöpfe in sich trägt. Gemäß dem Grundsatz, dass nur das Ähnliche das Ähnliche erkennen kann, kann er auf allen Ebenen mit ihnen in eine Beziehung treten. Er partizipiert durch seinen Leib, seine Gefühle und seine Vernunft an der Natur, die ihrerseits von Geist durchdrungen ist. Dadurch ist das Verständnis des Menschen, die Anthropologie, ein Schlüssel für das Verständnis des Kosmos und umgekehrt. Im Unterschied zu natur- und kulturwissenschaftlichen Theorien, die entweder nur die Natur oder die Kultur thematisieren, denkt Hildegard das Ganze des Kosmos; das Weltenrad umschließt Natur und Kultur.
Der Kosmos ist ein Gefüge dynamisch aufeinander einwirkender Kräfte, die sich gegenseitig steuern, verstärken und bremsen. Die diese Dynamik bestimmenden Winde werden zwar allegorisch als Tierköpfe dargestellt, doch sie „haben keineswegs die genannten Gestalten, sie gleichen nur in ihren Kräften der Natur der angeführten Tiere.“86 Mit dieser Charakterisierung erfüllt Hildegard die Kriterien, die Cassirer als kennzeichnend für den Übergang vom Mythos zur Religion herausarbeitet.87 Während im mythischen Weltbild die Kräfte mit Tieren identifiziert werden, verwandeln sie sich im Übergang zur Religion in Symbole. Wie im Mythos sind zwar auch bei Hildegard die Himmelsrichtungen keine rein geometrischen Orte in einem homogenen Raum, sondern qualitativ bestimmt; doch die Qualitäten haften nicht den Himmelsrichtungen selbst an, sondern sind nur der sinnlich-sichtbare Verweis auf bestimmte Eigenschaften. Wie im Mythos hat die Natur einen physiognomischen Charakter; sie ist voller Zeichen, die untereinander ein Netz von Verweisungen bilden. Durch ihre Bedeutung sprechen sie den Menschen an und vermitteln ihm eine Orientierung für sein Handeln, über Heil und Unheil. Im Unterschied zum Mythos werden sie jedoch nicht durch das Wirken dämonischer Mächte erklärt, sondern repräsentieren sittliche Qualitäten, freundliche wie feindliche. Auf diese Weise wird das Sinnliche zu einem Gleichnis für die geistige Welt, die ihrerseits dem Sinnlichen eine Bedeutung verleiht. Alle Kräfte haben zwei Seiten: Sie können für eine Entscheidung hilfreich sein, − oder eine Gefährdung beinhalten; sie können beflügeln, − oder Kampf und Bedrohung bedeuten. Die Ablösung von einer mythischen Welterklärung spiegelt sich auch in einer grundlegenden Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses: Die Menschen sehen sich nicht mehr als Spielball göttlicher Mächte wie die Helden in Homers ‚Ilias‘. Sie stehen zwar, wie diese, inmitten eines komplexen Gefüges von natürlichen und sozialen Kräften, doch sie verstehen sich als eigenverantwortliche Individuen, die über Gut und Böse entscheiden müssen. Sie müssen sich in dem Gefüge aufeinander verweisender Bedeutungen selbst orientieren.
Das Menschenbild von Hildegard ist daher keineswegs nur an Vernunft und rationaler Einsicht ausgerichtet. In ein ethisches Leben müssen auch die Emotionen einbezogen werden, die das Handeln motivieren und ihm Kraft verleihen. Nur wenn sie in der richtigen Weise zusammenwirken, kann ein Mensch tugendhaft handeln. Er antwortet durch seine Entscheidung auf die auf ihn zukommenden Anforderungen und wirkt seinerseits auf das Kräftespiel der Umgebung ein. Die Ordnung des Kosmos wird daher nicht nur durch physische Kräfte, sondern auch durch die menschlichen „Tugendkräfte“88 aufrechterhalten. Umgekehrt beinhaltet die Zerstörung der Weltkräfte die körperliche und seelische Selbstzerstörung des Menschen.
Auch durch die zeitliche Rhythmik der Natur ist der Mensch in den Makrokosmos eingebettet. Wie in Platons ‚Timaios‘ ist auch bei Hildegard die Zeit am Modell des Lebens ausgerichtet. Ohne die Errungenschaften der modernen Technik, ohne elektrisches Licht und durchgehend beheizte Räume, vollzogen sich alle Werke der Kultur, Säen und Ernten, das Bauen eines Hauses, die Schmiedekunst und das künstlerische Schaffen inmitten der von der Natur vorgegebenen Rhythmik, die nur von der sakralen Ordnung der Zeit, den Festtagen, durchbrochen wurde, die den Menschen eine Auszeit vom Joch der Arbeit gewährten und sie an die Zeitlosigkeit Gottes erinnerten. So wie die Lebenszeit durch den Wechsel verschiedener Phasen mit je besonderen Aufgaben strukturiert ist, gliedert sich auch das Jahr in die einzelnen Jahreszeiten mit unterschiedlichen Qualitäten, die den Menschen ihre Aufgaben vorgeben. Erfolgreich können nur die Handlungen sein, die auf die Anforderungen der Natur abgestimmt sind, sodass nicht alles zu jeder Zeit möglich ist. Die zyklisch bestimmte Lebenszeit ist wiederum eingebettet in den Gang der Heilsgeschichte.
Den Menschen als homo operans zu bestimmen bedeutet, ihn als Einheit aus Leib und Seele zu denken. Beide Momente unterscheiden sich in ihrer Funktion und lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Vermittels des Leibes nimmt der Mensch teil an der Sinneswelt, durch seine Seele hat er eine strukturelle Offenheit zur Transzendenz. Während die Seele zwischen Gott und Leib vermittelt, vermittelt der Leib zwischen der Seele und der Natur. Hildegard selbst verwendet die Begriffe Geist und Seele oft im selben Sinne: Mit Seele ist in diesem Kontext nicht nur das Gemütsleben, das Gesamt von Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen und Bedürfnissen gemeint; ebenso wenig bezieht sich der Terminus Geist nur auf die Fähigkeit, auf Motive, Gedanken und Handlungen zu reflektieren und Begriffe zu bilden. Die Geistseele ist das Lebensprinzip, das auch Denken und Fühlen ‚beseelt‘. Als Hauch Gottes ist sie unvergänglich und unteilbar; weder wächst noch vergeht sie. Obwohl sie vermittels des Leibes in Zeit und Geschichte wirkt und auch dem Gemütsleben seine Lebendigkeit verleiht, ist sie überzeitlich und ewig. Im Unterschied zur Seele ist der Leib in seiner Stofflichkeit äußeren Einwirkungen ausgesetzt. Er braucht die Natur, um sich zu erhalten. Er wächst und vergeht. Seine Lebensdauer ist begrenzt. Sterblichkeit und mit ihm Leid gehören daher zur conditio humana.
Obwohl die Seele unteilbar und einfach ist, äußert sich ihre Tätigkeit in unterschiedlichen Funktionen, die im Handeln zusammenwirken müssen. Nicht allein die geistige Vorbereitung einer Handlung setzt die Fähigkeit voraus, verschiedene Einzelschritte zu verknüpfen; ein Opus vollbringt nur der, der einen Entschluss unter konkreten, ständig wechselnden Lebensbedingungen beharrlich verfolgt. Das Ziel ist aus den äußeren Gegebenheiten nicht ableitbar, sondern bestimmt seinerseits, wie man sich zu ihnen verhält. Es ist kein Produkt äußerer Umstände oder neuronaler Mechanismen, sondern Ausdruck intentionaler Einstellungen, von Absichten und Werten. Sie gehen dem Vollzug der Handlung voran, die wiederum den Gang der Dinge beeinflusst. Nicht die körperlichen Funktionen erzeugen auf unerklärliche Weise Ziele und Werte, sondern der Geist verleiht dem Leib Ausdruckskraft und den körperlichen Bewegungen ihre Zielgeleitetheit. Obwohl die Ausführung der Handlung nur vermittels des Leibes möglich ist, ist die Seele „der Kraftpunkt jedweden schöpferischen Tuns.“89 Insofern ist die Seele, wie Hildegard betont, in der Tat wirkungsmächtiger als der Körper.
Obwohl die Absicht, die eine Handlung leitet, nicht unmittelbar erkennbar ist, manifestiert sie sich vermittels des Leibes in einer Handlung. Dadurch ist der Leib kein äußerlich bleibendes Mittel, sondern das Medium, durch das hindurch sich der Geist mit seinen Zielen und seiner emotionalen Befindlichkeit ausdrückt. Der Geist greift nicht in einen physikalisch bestimmten Körper ein, wohl aber zeigt er sich vermittels des Leibes. Dadurch gewinnt auch dieser die Struktur von Intentionalität; in seiner sinnlichen Erscheinung wird er zum Träger von Sinn. Auch Wahrnehmungsvermögen und Empfindsamkeit verdankt der Leib der Seele. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf etwas und beurteilt es in seiner Bedeutung. Als geistiger Akt verleiht die Aufmerksamkeit dem Leib die Sensibilität für einen bestimmten Gegenstand. Nur durch die Seele hat der Mensch, mit Scheler gesprochen, „Leibbewusstsein“90.
Doch obwohl die Seele dem Leib seine Lebendigkeit verleiht, lässt sich ihr Verhältnis nicht einseitig vom Geist her bestimmen. Um in der Welt zu leben, benötigt der Mensch nicht nur Vernunft, sondern auch Sensibilität und Empfindungsvermögen. Er ist „vernunftbegabt, weil er alles versteht, empfindungsfähig, weil er spürt, was in seinem Bereich liegt.“91 Leib und Seele sind demnach gegenseitig aufeinander verwiesen. „Der Körper wäre nichts ohne die Seele, die Seele würde nichts ohne den Körper verwirklichen. So sind sie nun im Menschen eins.“92 Einerseits wird der Leib von den Kräften der Seele durchdrungen; andererseits ist er das Haus der Seele, ihr „Zelt“ und ihre „Wohnstatt“93. Durch den Leib wird der Geist versinnlicht; er ist verkörpert, inkarniert; der Leib seinerseits wird durch die Seele vergeistigt. „Und so ist der Mensch von der ersten Bestimmung an zusammengesetzt; oben wie unten, außen wie innen, allüberall existiert er als Leiblichkeit.“94
Ziel ist letztlich die Übereinstimmung von Leib und Seele: „Wo nämlich Seele und Leib in rechter Übereinstimmung miteinander leben, da erreichen sie in einmütiger Freude den höchsten Lohn.“95 Die Seele schämt sich nicht für ihren Leib und sollte ihn nicht quälen. Er ist kein ‚Gefängnis der Seele‘, sondern als von Gott geschaffen gut. Er ist der schwächere Partner in einem Gespann und bedarf der Aufmunterung. Zwar wird der Leib erst durch die Seele zu „einem empfindsamen Wesen“96, diese sorgt jedoch ihrerseits dafür, dass dessen Bedürfnisse befriedigt werden. Nicht die leiblichen Bedürfnisse sind schlecht; verfehlt wäre es nur, sie zum Lebensziel zu machen. Die Seele muss daher jedes Bedürfnis und jede Handlung ethisch beurteilen. Sie ist es, die dem Leib die Kraft zu guten wie zu bösen Handlungen gibt. Sogar die Geschlechtlichkeit ist für Hildegard keine blinde Triebhaftigkeit. Da der Leib als ganzer beseelt ist, hat auch sie Anteil an der Vernunft.
Auch diese Gedanken lassen sich in die moderne Sprache übersetzen: Im Unterschied zu allen anderen materiellen Objekten kann man sich vom eigenen Körper nie vollständig distanzieren. Bei einer Berührung werden nicht die physikalisch zu berechnende Kraftübertragung, sondern die Qualität der Empfindung und die mit ihr für den Lebensvollzug verbundene Bedeutung bestimmend für die Einstellung zu anderem. Der physiologisch funktionsfähige Körper ist immer zugleich empfundener Leib. Doch das qualifizierte Spüren des Leibes bleibt nicht auf ein rein innerliches Erleben beschränkt. Ein Wesen, das sich selbst erlebt, bringt sein Inneres – bewusst oder unbewusst, willentlich oder unwillkürlich – durch Laute, Blicke und Gesten zum Ausdruck. „Jede Lebensregung der Person“, so Plessner, „die in Tat, Sage oder Mimus fasslich wird, ist ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie zum Ausdruck, ob sie den Ausdruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung, Objektivierung des Geistes.“97 Alle Funktionen des Leibes, Wahrnehmung, Bewegung, Ernährung und auch Sexualität, sind daher nicht einfach als physiologische Prozesse, Triebmechanismen oder Mittel zur Selbsterhaltung zu beschreiben; sie sind Modi, in denen eine bestimmte Person mehr oder weniger bewusst existiert.
Je besser Leib und Geist zusammenwirken, je mehr ein Mensch mit sich eins und in sich gesammelt ist, desto größer ist für Hildegard seine Kraft zum Handeln, desto besser kann er Widerstände überwinden und schwierige Situationen meistern. Es entsteht ein Gefühl der Leichtigkeit des Seins. „Denn der Seele Freude ist es, im Leibe wirksam zu sein.“98 Das Bewusstsein, dass sie ihr Werk nur mit dem Leib ausüben kann, ist begleitet von einem Gefühl der Liebe: „Und doch besitzt die Seele alles in allem die umarmende Liebe zu ihrem Leibe, mit dem sie am Werk ist.“99
Da Leib und Seele jedoch verschiedene Naturen und damit unterschiedliche Bedürfnisse haben, kann es auch zu Konflikten kommen. Obwohl die Seele aufgrund ihrer geistigen Natur ihr Lebensziel nicht in der Befriedigung sinnlicher Genüsse sehen kann, kann sie ihr Ziel aus dem Blick verlieren. Für Hildegard entsteht jedoch aus dem Ausleben sinnlicher Bedürfnisse kein wirklicher Genuss. Im Gegenteil: Nicht nur der Geist, auch der Leib leidet. Der Geist verliert seine Klarheit und der Leib seine Empfindsamkeit. Verloren geht nicht nur die Lebensfreude, die aus der Übereinstimmung von Leib und Seele entspringt, sondern auch die Freude an der Welt. Diese wird nur noch als Mittel zur Triebbefriedigung wahrgenommen, sodass sich der Lebenshorizont verengt. Der Mensch überschreitet sich nicht mehr zur Welt, er nimmt nicht mehr an ihr teil, sondern ist in seinen Begierden gefangen. Er ist ein ‚homo curvatus in seipso‘, wie Augustinus sagte, ein Mensch, der nur noch um sich selbst kreist und dadurch seine eigenen Möglichkeiten verfehlt.