Читать книгу Die Wiederentdeckung der Natur - Regine Kather - Страница 12
Оглавление3 Hildegard von Bingen: ‚. . . denn er könnte kein Mensch sein, wenn die übrigen Geschöpfe nicht da wären‘
3.1 Die Struktur der Welt
Vermutlich werden sich einige Leser fragen, warum ausgerechnet Hildegard von Bingen für die Darstellung der mittelalterlichen Naturphilosophie ausgewählt wurde. Zwei Gründe waren leitend: Hildegard hat in einer für Antike und Mittelalter beispielhaften Weise die dynamische Vernetzung der Lebensformen und die Verantwortung für sie dargestellt und damit eine Art Ökotheologie entwickelt; dadurch bietet sich die Möglichkeit, bei der Darstellung unterschiedlicher Konzeptionen der Natur auch die Stimme einer Frau zu berücksichtigen.
Wie Plotin argumentiert auch Hildegard, dass es einen Grund dafür geben muss, dass es das Universum als in sich strukturiertes Ganzes, die Materie, die sie bestimmenden Gesetze und die Vielfalt an Lebensformen überhaupt gibt. Von Gott, der, wie es im ersten Schöpfungsbericht und im Prolog des Johannes-Evangeliums heißt, ‚im Anfang‘ ist, geht jedes zeitliche Beginnen aus. Alle endlichen Entitäten sind in ihrer Eigenstruktur und ihrem Verhältnis zueinander zeitlos im „Vorherwissen“69 Gottes gedacht. Sie sind nicht gleichewig mit ihm, sondern werden durch das schöpferische Wort, das ohne jeden Anfang vor dem Beginn der Schöpfung in Gott ist, ins Sein gerufen. Anders als das raumgebundene Wort der menschlichen Rede ist es „raumlos“70 und, da es schon vor dem Beginn der Welt war, zeitlos und immateriell. Es entfaltet sich nicht sukzessive wie die menschliche Rede und spricht nicht über einen Gegenstand, der von ihm unterschieden ist. Als reine, schöpferische Dynamik ist das Sein des göttlichen Wortes identisch mit seinem Wirken. So schuf Gott im „Tönen des Wortes“71 die ganze Welt.
Durch seine dreifaltige Struktur thront Gott nicht wie ein unbewegter Beweger teilnahmslos über der Welt. Der Vater erzeugt den Sohn, und aus beiden geht der Heilige Geist hervor. Während Gott Vater den Kosmos überschreitet und der Heilige Geist ihn mit dem Sohn verbindet, umgreifen dessen Arme den Kosmos bergend und schützend. Der Kosmos, in dessen Mitte der Mensch steht, gleicht einem Organ Gottes; er ist sein Leib. Wenn, so kann man argumentieren, das Unendliche dem Endlichen ontologisch vorangeht, dann kann dieses nur entstehen, indem das Unendliche ihm in sich selbst Raum gibt. Außerhalb des kugelförmigen, endlichen Kosmos ist kein unermesslich weiter, leerer Raum, ‚denn‘, so wird Spinoza sagen, ‚alles, was ist, ist in Gott‘.
Die schöpferische Dynamik, durch die die Welt ins Sein tritt, ist weder kausal bedingt noch mathematisch darstellbar noch wirkt das Entstandene auf Gott zurück. Sie kann sich frei verschenken, kann geben, ohne auf eine Gegengabe angewiesen zu sein. Gott wirkt nicht im Sinne eines Handwerkers, der etwas gestaltet, das ihm selbst äußerlich bleibt. Während die Gottheit die Welt überschreitet, ist das göttliche Wort allem Seienden als Leben spendende Kraft immanent. „Als nun das WORT Gottes erklang, da erschien dieses WORT in jeder Kreatur, und dieser Laut war das Leben in jedem Geschöpf.“72 Da das Wirken Gottes keines äußeren Anstoßes bedarf, ist er in seiner vollendeten Bewusstheit im höchsten Sinne lebendig. Alle endlichen Wesen sind dagegen nur lebendig, weil ihnen ein Funken der göttlichen Lebendigkeit innewohnt, und sie sind es in dem Maße, in dem sie das göttliche Sein aufgrund ihrer Beschaffenheit aufnehmen können. Auf diese Weise ist die Welt zugleich umfangen und durchdrungen von der schöpferischen Macht Gottes, sodass keine Kreatur völlig geistlos ist. Der Lebensprozess lässt sich daher nicht auf physiologische Funktionen reduzieren, und er dient nicht nur der biologischen Selbsterhaltung. Kein Lebewesen ist nur Produkt der Umstände; jedes hat zumindest bis zu einem gewissen Grad die Fähigkeit, sich aus eigenem Antrieb und gemäß seiner Eigenart zu entwickeln. Jeder Versuch, die Welt rein empirisch zu erklären, muss daher scheitern. Das Vorherwissen Gottes legt allerdings nicht fest, wie die einzelnen Lebewesen ihr Sein unter konkreten historischen Umständen vollziehen. Bestimmt ist nur, was etwas von seinen Möglichkeiten her sein könnte. Mit seinem Ursprung ist ihm daher auch ein Ziel gesetzt, das es erreichen kann und soll. Obwohl die Welt von ihren Möglichkeiten her vollkommen ist, ist der Weltprozess selbst nicht abgeschlossen. Es entstehen allerdings keine neuen Arten; alle Kreaturen existieren gleichzeitig.
Vor dem Hintergrund des ptolemäischen Weltbildes erscheint das All als ein Gebilde übereinander gelagerter Kreise, das Hildegard in ‚Scivias‘ mit einem Ei und in ‚De operatione Dei‘ mit einem Rad vergleicht. Auf die im Zentrum des Kosmos ruhende Erde folgt ein Luftkreis, die Atmosphäre, dann eine wässrige Luftzone, die umgeben ist vom sternenübersäten Äther, der wiederum von einem Feuerkreis als äußerstem Rand des Kosmos umschlossen wird. Das Rad symbolisiert die kreisförmig geschlossene Dynamik des Kosmos, die in ihrer Endlosigkeit ein Abbild des Ewigen ist, das alle Zeiten zeitlos in sich schließt. Doch, so Hildegard, weder das Ei noch das Rad stellen die wirkliche Gestalt der Welt dar, denn diese ist rundum heil, rund und kreisend. Die Visionen Hildegards dürfen daher weder unmittelbar wörtlich genommen noch als bloße Phantasiegebilde betrachtet werden. Es handelt sich um Gleichnisse, die eingebettet in die mittelalterliche Symbolik einen bestimmten Sinn vermitteln. Jedes Bild setzt sich aus einem Mosaik von Bedeutungen zusammen. Verändert sich der Kontext durch die Veränderung eines Details, dann ändert sich mit dem Sinn des Ganzen auch der der anderen Elemente.73
Das All wurde mit Sternen erleuchtet und mit einer Vielfalt unterschiedlicher Geschöpfe erfüllt; es wurde mit Winden verstärkt, die die Weltkräfte symbolisieren und es im Gleichgewicht halten. Mit dem Wehen der Winde beginnt das Weltenrad sich zu drehen und erzeugt mit der Zeit Entwicklung und Verfall. Der unaufhörliche Wechsel von Wachsen und Vergehen, Blühen und Verwelken, Schlafen und Wachen, Geburt und Tod wird zum Sinnbild für die Rhythmik der Jahreszeiten und der Lebensalter. Da das Ende immer wieder in den Anfang der Bewegung mündet, erfolgen alle zeitlich begrenzten Prozesse in einer kreisförmig-zyklischen Bewegung, die die sich ständig erneuernde Kraft der Natur symbolisiert.
Da Gott als seinsverleihende Macht das höchste Gut ist, ist auch alles, was von ihm ausgeht, gut; es hat einen Eigenwert. Er ist unabhängig von menschlichen Interessen und kann nur anerkannt und respektiert werden, sodass dem menschlichen Gestaltungswillen Grenzen gesetzt sind. Alle Lebewesen sollen sich entfalten. „Ein jedes Tier sollte seine Art in sich tragen.“74 Es genügt jedoch nicht, nur einzelne Individuen zu schützen, weil sie, modern gesprochen, leidensfähig sind oder zu den bedrohten Arten gehören. Jedes Lebewesen benötigt ein seiner Lebensart entsprechendes Umfeld; nur in ihm kann es sich entwickeln. „Gott schuf Himmel und Erde. Zwischen diesen beiden hat Er die übrigen Geschöpfe gesetzt, so wie es für jede Kreatur notwendig war.“75
Der Kosmos besteht daher nicht aus einem Nebeneinander für sich bestehender Substanzen; Pflanzen, Tiere und Menschen können nur existieren, weil sie mit Kreaturen in Verbindung stehen, die andere Eigenschaften haben. Wie bei Platon gleicht der Kosmos einem Organismus, dessen komplexe Einheit sich aus dem dynamischen Zusammenspiel aller Wesen bildet. „So ist jedes Geschöpf mit einem anderen verbunden, und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten.“76 Die wechselseitige Angewiesenheit geht einher mit einer Differenzierung in unterschiedliche Fähigkeiten. Gott „hat jedes Ding weise vorherbestimmt und ihm im Weltall seinen Platz angewiesen, indem Er kraft Seiner Weisheit die einzelnen Wesen voneinander unterschied.“77 Durch seine Tätigkeit hat jedes Lebewesen eine spezifische Funktion für das Ganze; sein Wesen bestimmt sich aus seinem Wirken im Zusammenspiel mit allen anderen, von ihm unterschiedenen Kreaturen. Vielfalt, nicht Gleichförmigkeit ist die Grundlage des Lebens. Indem sich ein Lebewesen in seiner Besonderheit in das Netz des Lebens einfügt, wächst es über sich hinaus. „Gott hat alle Dinge der Welt so eingerichtet, dass eins auf das andre Rücksicht nehme. Je mehr einer vom anderen lernt, wo er von sich aus nichts weiß, um so mehr wächst doch in ihm das Wissen.“78 Die Natur ist nicht primär durch Konkurrenz, sondern durch Kooperation und Abstimmung der Lebewesen aufeinander bestimmt. Die Welt ist eine Ordnung, in der alles miteinander kommuniziert und einander Antwort gibt. „Die Kräuter bieten einander den Duft ihrer Blüten; ein Stein strahlt seinen Glanz auf die andern, und jedwede Kreatur hat einen Urtrieb nach liebender Umarmung.“79