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2 Plotin: Die schöpferische Dynamik der Natur
ОглавлениеDer Platon-Interpret Plotin beginnt im 3. Jh. n. Chr. nicht mehr, wie Platon und Aristoteles, mit der Analyse der sinnlichen Welt, um den Blick Schritt für Schritt auf den Seinsgrund zu lenken. Er geht von der umgekehrten Perspektive aus: Wenn es einen absoluten Ursprung gibt, dann muss die Erklärung bei ihm beginnen, denn ohne ihn gäbe es den Kosmos nicht und damit nichts, was zu erklären wäre. Da aus dem reinen Nichts − auch nach der modernen Physik − nicht etwas werden kann, muss es einen Grund dafür geben, dass es das Universum als ein in sich strukturiertes Ganzes mit der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit an Seienden überhaupt gibt. Der Kosmos erscheint als eine Art Beweis, dass es ein Sein gibt, das ihn transzendiert, das von anderer Art und vor allem wirkungsmächtiger ist als alles, was zeitlich und räumlich begrenzt ist. Da es ontologisch früher ist als alles Gewordene, ist es vor jeder Vielfalt; und da jeder Gedanke und jede Aussage bereits eine Unterscheidung von Erkennendem und Erkanntem beinhaltet, ist es undenkbar und unaussagbar. Wie die platonische Idee des Guten ist das Eine ‚jenseits des Seienden‘.35
Das absolute Sein, so glaubte Plotin, sei gleichsam übergequollen. Als Fülle aller Möglichkeiten ist es ein unerschöpfliches Vermögen, das den Kosmos aus sich hervorgehen lässt, ohne dabei seine Wirkungskraft einzubüßen. „Stell dir einen gewaltigen Baum vor, dessen Lebenskraft den ganzen Baum durchläuft, sein Urgrund aber verharrt in sich und zerstreut sich nicht über das Ganze, da er gleichsam in der Wurzel seinen festen Sitz hat; so verleiht dieser Urgrund dem Baum sein ganzes Leben in all seiner vielfältigen Fülle, bleibt jedoch selbst an seiner Stelle, denn er ist nicht selber Vielheit, sondern Urgrund dieses vielfältigen Lebens.“36 So wie die Zweige des Baumes nur lebendig sind, weil sie mit den Wurzeln verbunden sind, die sie nähren, so ist auch das schöpferische Prinzip nicht nur transzendent, sondern allem immanent. Nur weil es Anteil am Sein hat, entschwindet es nicht ins Nicht-Sein. Das Bild des Weltenbaumes, der im Himmel wurzelt, findet sich allerdings bereits in einem viel älteren Text eines anderen Kulturkreises, der Bhagavadgita, einem Schlüsseltext des Hinduismus, der sich wiederum auf die Upanishaden stützt.37
Indem das Eine Plotins sich selbst denkt, unterscheidet es sich von sich und bildet eine erste Form von Andersheit: den göttlichen Geist. Sein Leben besteht in der Bewegung des Aus-Sich-Hervorgehens und Zu-Sich-Zurückkehrens. Da der Geist nicht irgendein Objekt denkt, das außerhalb seiner selbst ist, sondern, wie der aristotelische Gott, sich selbst, ist seine Bewegung ohne Anfang und Ende, ewig. Wenn, wie Aristoteles definierte, das lebendig ist, was sich aus sich heraus bewegt, besitzt der göttliche Geist die höchste Form von Leben. Es beruht nicht auf dem Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit oder der Behebung eines Mangels, sondern ist in jedem Augenblick alles, was es sein kann, eine ungeteilte Ganzheit, „das klare und vollendete Leben.“38 Im Hervorgang aus dem Einen werden auch die Grundkategorien erzeugt, die für die Ordnung und die Erkenntnis der Welt konstitutiv sind: Sein, Bewegung und Ständigkeit, Identität und Andersheit. Mit der Bestimmung der endlichen Seienden werden auch ihre Unterschiede und möglichen Relationen festgelegt.
In einer absteigenden Hierarchie entsteht nach dem göttlichen Geist und der Weltseele die Vielfalt endlicher Entitäten. Obwohl alle bis zu einem gewissen Grad Anteil an der Dynamik des göttlichen Geistes haben, sind sie bereits in ihrer Lebensspanne und schöpferischen Kraft begrenzt. Lebensintensität und Bewusstheit nehmen mit der Entfernung vom göttlichen Ursprung ab. Je dumpfer die Wahrnehmungsfähigkeit eines Lebewesens ist, desto weiter ist es vom schöpferischen Urgrund entfernt und desto geringer ist seine Kraft, sich zu erhalten und selbst etwas zu erzeugen. Die Stufenleiter des Seins nähert sich immer mehr dem Nichtsein. Obwohl auch die gänzlich ungestaltete Materie noch ein letzter, ferner Abglanz der Wirkungsmacht des göttlichen Ursprungs ist, verfügt sie über kein schöpferisches Potenzial mehr, mit dem sie eine weitere Seinsstufe erzeugen könnte. Sie ist der gestaltlose Urgrund, der, wie bei Platon, gerade durch seine Unbestimmtheit das Werden aller Seienden, auch der Atome, ermöglicht. Mit dem Kosmos und der Vielfalt der aus Stoff und Form gebildeten Entitäten, die ihn bevölkern, entstehen Werden und Vergehen, Geburt und Tod, sodass alle endlichen Wesen zeitlich verfasst sind.
Da die schöpferische Dynamik nicht nur in den einzelnen Lebewesen, sondern in der ganzen Natur wirksam ist, kann man diese nicht mit einem „mechanischen Hebelspiel“39 vergleichen. Nicht kausalmechanisch und richtungslos wirkenden Kräften, Zug, Druck oder Stoß, sondern einer gestaltverleihenden Dynamik verdankt die Vielfalt sinnlich-sichtbarer Entitäten ihre innere Einheit und ihre charakteristischen Merkmale. Letztlich beruht die „Wirkungskraft“40 der Natur, wenngleich in abgeschwächter Form, auf der seinsstiftenden und seinserhaltenden Dynamik des Einen. Sie beinhaltet freilich weder Bewusstheit noch Gefühle oder Empfindungen. Der Begriff des Geistes ist nicht auf den menschlichen oder den göttlichen Geist beschränkt, sondern umfasst bereits die Dynamik, durch die sich kohärente Formen ausprägen. Schon den einfachsten natürlichen Entitäten eignet daher eine Art Streben, eine Ausrichtung auf das Erlangen einer Gestalt. Plotin vergleicht die Eigendynamik der Natur mit dem Zustand eines Menschen, der im Schlaf befangen ist: „Wollte einer sie fragen, um wessentwillen sie schafft, und sie ließe sich herbei auf den Frager zu hören und Rede zu stehen, so würde sie wohl antworten: Mein Betrachten bringt das Betrachtete hervor, so wie die Mathematiker zeichnen, indem sie betrachten; und während ich freilich nicht zeichne, sondern nur betrachte, treten die Linien der Körper ins Dasein, gleichsam wie ein Niederschlag.“41 So wie ein Maler den Pinsel führt, während er vor seinem geistigen Auge das Gemälde sieht, so erzeugt die Natur aus der bewusstlosen Vertiefung in zeitlose Formen die sinnlich-sichtbaren Gestalten. Das Erfassen einer in sich stimmigen Gestaltganzheit, eines Wesens, geht der Ausprägung der konkreten Gestalten voraus, die man gemeinhin als Natur bezeichnet. Nicht Konstruktion, sondern Kontemplation ist die Voraussetzung schöpferischer Aktivität. „Zeugung“, so Plotin, „ist Kraft der Betrachtung.“42 Lebensfähige Organismen entstehen nicht durch die allmähliche, zufällige Verbindung einzelner Elemente und Fähigkeiten, sondern nur durch deren zielgeleitetes Arrangement. Dass die Natur kein unzusammenhängender Haufen toter, kausalmechanisch bewegter Dinge ist, sondern sich immer wieder erneuert, Lebendigkeit und Ausdruckskraft besitzt, verdankt sie einer unsichtbaren, geistigen Dynamik. Obwohl keine neuen Formen entstehen, ist die Natur nicht statisch. Bereits bei Plotin findet sich somit die Unterscheidung zwischen natura naturata und natura naturans, zwischen der sinnlich-sichtbaren Natur und der sich in ihr manifestierenden schöpferischen Dynamik, die noch die ‚Ethik‘ Spinozas bestimmen wird.
Dass etwas erst durch eine formende Kraft zu einer organischen Einheit wird, verdeutlicht Plotin am Beispiel des künstlerischen Schaffens. Eine Idee, die sich in diesem Fall im Geist des Schaffenden befindet, dient als Leitbild für die Bearbeitung eines bestimmten Materials; nur ihr eignet die schöpferische Dynamik, durch die der Stoff so durchformt wird, dass eine kohärente Gestalt entsteht. Anders als eine mechanische Konstruktion, bei der die Bauelemente nach einem ihnen äußerlich bleibenden Plan zusammengefügt werden, gewinnt ein Kunstwerk seine Ausdruckskraft erst durch die Durchformung des Materials. Die Formen sind dem Stoff immanent, sodass sich der sinnliche Ausdruck nicht von der Idee trennen lässt, die ihn erzeugt. Dadurch verweist das Kunstwerk zurück auf den Künstler, der es geschaffen hat. In analoger Weise bilden auch in der Natur Geist und Materie, mechanisch wirkende Kräfte und geistige Formen eine Einheit. Das Geistige manifestiert sich in der sinnlichen Erscheinung, diese enthält immer ein Moment des Geistigen. Da jedoch die Idee, wie wir bei Platon gesehen haben, den Stoff nie vollständig durchdringen kann, hätte Plotin in der Verschleißanfälligkeit einiger Körperteile keine Widerlegung seiner Überzeugung gesehen, dass Organismen nicht durch zahllose zufällige Modifikationen entstehen. Da sie, so argumentieren auch Biologen wie Portmann, nur als Funktionsganzheit überlebensfähig sind, gehört das Problem der Gestaltentstehung zu den übergangenen Fragen der Evolutionstheorie.
Wie moderne Biologen hat auch Plotin beobachtet, dass Lebewesen in unterschiedlichem Grad lebendig sind. Pflanzen, die nur vegetative Funktionen haben, durch die sie sich erhalten und reproduzieren, wirken weniger lebendig als Tiere, die sich frei im Raum bewegen und zu komplexen Verhaltensweisen fähig sind. Im Unterschied zur modernen Naturwissenschaft können für Plotin jedoch aus toter Materie nicht Leben und Geist entstehen. Tot ist gerade das, was keine Eigendynamik hat und sich deshalb weder selbst entfalten noch etwas anderes erzeugen kann. Nur Leben kann wieder Leben erzeugen. Und da die Stufenleiter des Seins aus einer einzigen Quelle stammt, haben alle Wesen, wenngleich in unterschiedlichen Graden, an ihrer Seinsfülle Anteil. In allen Seinsstufen sind Geist und Leben untrennbar verbunden, sodass Leben nie schlechthin irrational und Geist kein bloßes Begriffsvermögen ist, das die Dinge nur klassifiziert. Die Eigendynamik endlicher Entitäten ist immer schon bis zu einem gewissen Grad strukturiert und deshalb auch erkennbar.
Um die Lebensformen einzuteilen, wählt Plotin, wie vor ihm Aristoteles, ein Merkmal, das sich auf ihre Innenwelt bezieht und nicht empirisch überprüfbar ist. Je bewusster ein Wesen ist, desto näher ist es am göttlichen Sein als vollendeter Bewusstheit. Dadurch beinhaltet die Hierarchie des Seins eine Wertung: Obwohl alle endlichen Wesen durch die Teilhabe an der schöpferischen Dynamik des Einen einen intrinsischen Wert haben, ist der Wert ihres Lebens umso höher, je größer Lebensintensität und Bewusstheit sind. Die Qualität des Lebens wird durch den Grad der Bewusstheit bestimmt, der auch festlegt, in welchem Ausmaß ein Wesen aktiv werden kann. Nicht nur das Sein, auch die mit ihm verbundene Bewusstheit und Lebendigkeit sind erstrebenswert, sodass das Eine nicht nur der Ursprung, sondern auch das Ziel aller Wesen ist: das höchste Gut.
Jeder Organismus hat die Tendenz, die Möglichkeiten, die er in sich birgt, zu entfalten; er überdauert einige Zeit, um schließlich zu sterben und zu zerfallen. Aus einem Tannensamen wird sich eine ausgewachsene Tanne entwickeln, wenn die notwendigen äußeren Bedingungen wie Wasser und Licht vorhanden sind. Die befruchtete menschliche Eizelle wird unweigerlich zu einem Embryo, dann zum Säugling und Kind und schließlich zum erwachsenen Menschen. Bestimmend für die grundlegenden Eigenschaften einer Entität, für ihr Entwicklungsziel, ist die Form. Dadurch sind Organismen nicht vollständig durch die Umwelt determiniert, sondern können Einflüsse selbstständig verarbeiten. Die kausal wirkenden äußeren Faktoren bestimmen nicht, was ein Lebewesen ist, sondern sind lediglich für seine Entfaltung förderlich oder hinderlich. Entwicklungsstörungen sind daher ein Indiz für äußere Hemmungen und Beschädigungen. Um den Heilungsprozess zu unterstützen, muss die Eigendynamik angeregt und eine angemessene Umgebung bereitgestellt werden. Werden die Möglichkeiten, die in einem Wesen schlummern, vollständig verwirklicht, ist das Telos, das Lebensziel, erreicht. Der Tod kann daher kein Lebensziel sein; er ist lediglich unvermeidbar. Da die Lebenserfüllung für jedes Wesen in „dem seiner Anlage gemäßen Vollzug des Lebens“43 besteht, wäre es für Plotin verfehlt, das Leben auf den Kampf ums Überleben, auf Selbsterhaltung und Selbstbehauptung zu beschränken. Dennoch ändert sich durch die Differenzierung des Begriffs des Lebens das, was für unterschiedliche Arten erstrebenswert ist. Pflanzen haben ein anderes Lebensziel als Tiere und Menschen. Obwohl alle höheren Lebewesen viel mit den einfacheren gemeinsam haben, sollten sie sich an dem orientieren, was ihre höchsten Möglichkeiten sind. Wenn ein Wesen „Vielfalt in sich hat“, d. h. komplex ist, dann ist „sein Gutes die Betätigung seiner besten Kraft.“44 Obwohl die Menschen viele Bedürfnisse und Eigenschaften mit Tieren teilen, beruht ihr Lebensziel gerade auf dem, was sie von diesen unterscheidet: auf der Betätigung ihres Geistes.
Das Streben, das eigene Potenzial zu entfalten, wird für Plotin bei allen Lebewesen durch das Streben nach „Glückseligkeit“45 motiviert. Doch was bedeutet Glückseligkeit? Ungeachtet aller Unterschiede besteht auch für nicht-menschliche Lebewesen die Lebenserfüllung darin, „ungehemmt ihrer Anlage gemäß ihr Leben darzuleben.“46 Die „Vollbringung des wesenseigenen Geschäftes“47 beinhaltet Wohlbefinden als Ausdruck der Übereinstimmung mit den eigenen Möglichkeiten. Nicht der Nutzen für menschliche Ziele, sondern ihr eigenes Sein bildet den Maßstab für ihre Lebensweise und den Umgang mit ihnen. Zumindest rudimentär sind alle Lebewesen affizierbar; sie haben eine Sensitivität für ihre Zuständlichkeit und damit für das, was förderlich oder schädlich ist. Doch erst bei komplexeren Lebensformen wird der eigene Zustand gefühlt und schließlich sogar bewusst wahrgenommen.
Auch Pflanzen haben daher bereits die Tendenz, ihre Anlagen zu entfalten und Sensorien für den Unterschied zwischen Erfüllung und Mangel. Im Unterschied zu Aristoteles streben auch sie bereits nach Wohlbefinden. „Leben muß immer entweder erfüllt sein oder das Gegenteil, wie es denn auch bei den Pflanzen ein Wohlbefinden und ein Nicht-Wohlbefinden gibt, d. h. ein Fruchttragen und Nicht-Fruchttragen. Wenn also die Lust der Zielwert ist und in ihr die Lebenserfüllung besteht, so ist es ein Unding, den außermenschlichen Wesen die Lebenserfüllung abzusprechen.“48 Tiere, so hatte auch Aristoteles gelehrt, verfügen bereits über Sinneswahrnehmungen, sodass „einem Wesen seine eigene Affektion nicht verborgen ist.“49 Sie fühlen, was ihnen gut tut und was nicht. Da sich alle Lebewesen nur durch die Teilhabe am Sein selbst erhalten können, zielen auch sie in ihrem Streben nach der Entfaltung ihres Potenzials letztlich auf den Ursprung von allem. Plotins Überzeugung, dass Lebewesen ein intrinsisches Ziel haben, konvergiert mit modernen Forderungen nach einer artgerechten Tierhaltung und dem Schutz der Integrität von Pflanzen, dem sich die Schweizer Bundesverfassung verpflichtet hat. Nur wenn nicht-menschliche Kreaturen ihrer Art gemäß leben können, lässt sich vermeiden, dass sie unter der Behandlung von Menschen und für deren Ziele leiden.
Doch obwohl die meisten antiken Denker davon ausgingen, dass die Natur insgesamt und damit auch alle Lebewesen einen Eigenwert haben, waren es nur wenige Autoren, die ausdrücklich zu einem behutsamen Umgang mit Tieren aufforderten. Einer von ihnen, der für die platonische Tradition maßgeblich wurde, ist Pythagoras. Man solle, so lehrte er, Tiere nur töten, wenn sie für Menschen gefährlich werden, denn Menschen und Tiere sind lebende Wesen. Daher, so die Begründung, „gleicht das Teilhaben der Lebewesen aneinander einer Verwandtschaft, sind doch diese durch die Gemeinschaft des Lebens, derselben Elemente und der aus diesen bestehenden Mischung gleichsam geschwisterlich mit uns verbunden.“50 Und wer tut schon einem Verwandten Unrecht und fügt ihm willentlich Schmerz und Leid zu?
Bei der Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier fällt einem unwillkürlich auch die jüdisch-christliche Tradition ein, vor allem jenes viel Zitierte ‚Macht Euch die Erde untertan‘ des ersten Schöpfungsberichtes der ‚Genesis‘. Betrachtet man die Passage jedoch genauer, können damit unmöglich Willkür und Macht über die Mitwelt gemeint sein, heißt es doch schon einige Zeilen weiter: „Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.“51 Im Garten Eden, so die Bibel, lebte der Mensch in unmittelbarer Gottesgegenwart und war im Einklang mit den Tieren, die zu ihm kamen, um benannt zu werden. Herr der Schöpfung ist er, weil nur ihm die Gabe der Gotteserkenntnis verliehen wurde, die ihn vor den anderen Lebewesen auszeichnet. Damit ist ihm, wie einem König, Macht verliehen, die immer zwiespältig ist: Die Macht eines weisen Herrschers ist mit einem hohen Maß an Verantwortung verbunden für das, was ihm anvertraut wurde; sie kann jedoch auch skrupellos zur Befriedigung eigener Interessen missbraucht werden. Da der Mensch im Bilde Gottes geschaffen ist, soll er, wie Gott, der im Bild eines fürsorglichen Königs erscheint, über die Erde herrschen. Noch im Noachidischen Bundesschluss, in dem, lange nach der Vertreibung aus dem Paradies, eine neue Weltordnung errichtet wurde, wird der Tiere ausdrücklich gedacht: Der Bund, so heißt es, wird geschlossen zwischen „Gott und allen lebenden Wesen, allen Wesen aus Fleisch auf der Erde.“52 Obwohl als Zugeständnis an die menschliche Schwäche zur Nahrung nun auch Fleisch gehören kann, wird der Genuss von Blut, in dem nach antiker Vorstellung die Lebenskraft, die Seele, war, ausdrücklich untersagt. Erst wenn es vollständig entwichen ist, darf das nun entseelte Fleisch gegessen werden.
Das tiefe Empfinden für die Verbundenheit aller lebenden Wesen ist auch für Einstein der Sinn des jüdischen Gebots, die Sabbatruhe auch Tieren zu gönnen: „Es ist charakteristisch, daß im Gebot der Heiligung des Sabbats auch die Tiere ausdrücklich eingeschlossen waren, so sehr fühlte man die Forderung der Solidarität des Lebenden als Ideal.“53 Man stelle sich vor, dass die Kühe unter den Bedingungen der intensiven Massentierhaltung wenigstens am Sonntag einmal ohne jeden Produktionsstress auf der Weide spazieren gehen, frisches Gras fressen und einfach nur Kuh sein dürfen!
Im Unterschied zum jüdischen Glauben beruht der christliche auf der Überzeugung, dass der Messias bereits erschienen ist. Christen sollten sich deshalb nicht am gefallenen Zustand und den mit ihm verbundenen Zugeständnissen, sondern am Urzustand orientieren, bei dem die Aussöhnung mit der nicht-menschlichen Kreatur wieder erreicht wäre. Mit dieser Begründung lebten die frühen Wüstenväter und leben nach wie vor einige Orden vegetarisch. Die Rückkehr zum Urzustand, in dem die Tiere vertrauensvoll zu Adam kamen, wurde zum Lebensziel. „Nach dem Sündenfall und der Sündflut, als die paradiesische Harmonie zwischen Gott und Mensch und Mensch und Schöpfung dahin war, habe Gott zu Noah gesagt: ‚Furcht und Schrecken vor Euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen, auf alle Vögel des Himmels, auf alles, was sich auf der Erde regt, und auf alle Fische des Meeres; euch sind sie übergeben. Alles Lebendige, das sich regt, soll euch zur Nahrung dienen. Alles übergebe ich euch wie die grünen Pflanzen.‘ (Genesis 9,2 – 3) Das deuteten die frühen Mönche als eine Art ‚Notstandsordnung‘ angesichts der Hartherzigkeit der Menschen und nahmen sich vor, lieber zur ‚paradiesischen‘ zurückzukehren und wieder in Harmonie mit den Tieren zu leben.“54
Für Plotin ist es ein Privileg des Menschen, dass er um das höchste Gut wissen und es bewusst anstreben oder sich von ihm ab- und dem Nichtsein zuwenden kann. Er allein kann mithilfe der Vernunft beurteilen, dass das Lustvolle etwas Werthaftes ist. Als Urteilsvermögen steht die Vernunft über den Gefühlen, die ihrerseits ranghöher sind als bloße Empfindungen und qualifizierte Perzeptionen. Für ein vernunftbestimmtes Wesen kann daher das Lebensziel nicht die sinnlich-vitale Lust, sondern nur die geistige Glückseligkeit sein. Hält sich der Mensch an das Sein, dann, so argumentierte bereits Parmenides, unterscheidet er sich von jenem ‚Haufen, dem Sein und Nichtsein als dasselbe gilt‘.
Plotin spitzt die Frage, worauf die menschliche Identität beruht, noch weiter zu: Solange das Verhalten von äußeren Reizen bestimmt wird, ist es nur eine reflexhafte oder gewohnheitsmäßige Re-Aktion. Da es durch die Macht der äußeren Umstände ausgelöst wird, ist es genauso ziellos und wechselhaft wie diese. Es entspringt keiner inneren Spontaneität, es ist nicht selbst verursacht, sondern im Sinne der modernen Neurophysiologie kausal bedingt. Nicht der Mensch beherrscht die Dinge, sondern diese fesseln ihn. Dadurch wird nicht nur das Lebensziel verfehlt; auch die Dinge erscheinen im falschen Licht. Wie die tanzenden Schatten an der unebenen Höhlenwand in Platons ‚Höhlengleichnis‘ sind sie in ihren Proportionen und ihrer Bedeutung verzerrt.
Aber sollte der Mensch tatsächlich nur ein Bündel von Eindrücken und Gewohnheiten sein, bestimmt durch Erziehung und soziale Umstände? So zutreffend diese Beschreibung in vielen Situationen sein mag, so wäre es für Plotin verfehlt, das Verhalten durch Reiz und Reaktion zu erklären oder es auf das Erfinden erfolgreicher Überlebensstrategien zu beschränken. Wir verwechseln die Ursache mit der Wirkung, wenn wir glauben, die äußeren Einflüsse würden genügen, um Motive und Ziele zu erklären. Wir gleichen jemandem, der dem eigenen Schatten nachläuft, ohne den Blick auf dessen Ursache zu lenken. „Wir, die wir nicht gewohnt sind, auf das Innere zu sehen, und es nicht kennen, jagen dem Äußeren nach und wissen nicht, daß das Innere bewegt; so wie denn einer, der sein eigenes Spiegelbild sieht, ihm nachjagte, weil er nicht weiß, woher es kommt.“55 Plotin kannte noch nicht das Experiment, mit dem man untersucht, ob Tiere Selbstbewusstsein haben: Man malt Tieren, die an einen Spiegel gewöhnt sind, einen Kreidefleck auf die Stirn, um zu testen, ob sie sich wiedererkennen oder ein fremdes Gegenüber wahrnehmen. Menschenaffen und vermutlich auch einige Rabenvögel wie Elstern erkennen die Veränderung im Spiegelbild, sie sehen nicht ein anderes Tier, sondern sich. Das Wissen um sich selbst, Selbstbewusstsein im ursprünglichen Sinne des Wortes, erwacht erst mit dieser ‚Umlenkung des Blicks‘56. Für Plotin ist daher das empirische Ich im Sinne Kants nur ein schattenhafter Ausdruck des inneren Menschen, des intelligiblen Ich, das die kausal nicht determinierte, unbedingte Ursache des Handelns ist.
Doch obwohl der Prozess der Selbsterkenntnis nicht beim Sinnlich-Wahrnehmbaren stehen bleiben darf, beginnt er mit ihm. Allerdings ist nicht jede Form der Sinneswahrnehmung geeignet, um den menschlichen Geist vom Äußeren ins Innere zu lenken. Während nach der von Kierkegaard begründeten Existenzphilosophie nur schmerzhafte Erfahrungen wie Leid, Schuld und Tod den Menschen für ein transzendentes Sein öffnen können, thematisieren die antiken und mittelalterlichen Autoren auch die Erfahrung von Schönheit und Liebe. Die andere Gewichtung der Grenzerfahrungen hängt untrennbar mit dem Naturverständnis zusammen: Durch eine rein naturwissenschaftliche Erklärung physischer Prozesse gilt die Natur nicht mehr als Erscheinung des Geistigen, sodass der menschliche Geist in ihr nichts Verwandtes mehr findet, das einen Prozess der Überschreitung in ein transzendentes Sein anregen könnte. Nur durch Grenzerfahrungen, die den endlichen Geist aus allen weltlichen Bezügen herauslösen, ihn auf sich zurückwerfen, kann er aus der Befangenheit in sich befreit und über sich hinausgeführt werden.
Plotin dagegen beginnt, wie Platon im ‚Symposion‘57 und ‚Phaidros‘, mit der sinnlich wahrnehmbaren Schönheit. Was, so fragt er in der Enneade ‚Über das Schöne‘, bezeichnen wir eigentlich als schön? Offensichtlich kann man von einem schönen Gesicht genauso sprechen wie von einer schönen Melodie, schönen Gedanken oder schönen Handlungen. Doch erst wenn man sich vom unmittelbaren Sinneseindruck löst, den der einzelne schöne Leib auslöst, so argumentierte Platon, und die Leiber verschiedener Menschen vergleicht, kann man etwas Gemeinsames erkennen. Dann wird nicht mehr der einzelne Leib geliebt, sondern die Schönheit in allen Leibern. Doch was verleiht ihnen ihre Schönheit? Der sinnliche Eindruck allein kann nicht entscheidend sein, sonst könnte man nicht ein äußerlich schönes Gesicht als leer und kalt, ein gealtertes, faltiges Gesicht dagegen als strahlend und gütig wahrnehmen. Der Leib, so schließt Plotin, ist nur schön, weil er belebt ist und einen seelisch-geistigen Ausdruck hat. Weniger das messbare Ebenmaß der Gesichtszüge als vielmehr die Kraft, die ihnen ihren Ausdruck verleiht, ist die Ursache der Schönheit. Er lässt sich aus physiologischen Prozessen nicht ableiten. Es ist genau umgekehrt: Nur durch den Geist erhält der Leib seine Ausdruckskraft; sie ist eine Manifestation der inneren Lebendigkeit. ‚Anima forma corporis‘, die Seele ist die formende Kraft des Leibes, hieß es noch im Mittelalter. Sieht man in der Sinnenwelt die Erscheinung seelisch-geistiger Kräfte, dann verliert sie ihren blendenden, verführerischen Schein.
Während die Gestalt des Leibes von Geburt an mitgegeben ist und nur innerhalb enger Grenzen durch die Lebensführung beeinflusst werden kann, ist die Freiheit, die Lebenseinstellung, Gedanken und Werte und damit das Verhältnis zu den Mitmenschen zu formen, ungleich größer. Motive und Ziele, die das Leben des Einzelnen und, durch das Handeln, auch das der Gesellschaft bestimmen, die „Schönheit in den Seelen“58 und in den „Sitten“59 treten nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Erst in der Abwendung von der suggestiven Macht äußerer Reize, der Freiheit von ihnen und der Wendung nach innen, entsteht der Freiraum zu selbstbestimmtem Handeln. Ein Mensch dagegen, der zerstreut, zerfahren, zerrissen und gehetzt wirkt, ist nicht bei sich selbst. Er ist buchstäblich außer sich, sich selbst fremd, bestimmt durch äußere Einflüsse. Da ihm die innere Einheit fehlt, ist er für Plotin hässlich. „Ist es ja auch beim Menschen so: schön sind wir, wenn wir uns selbst gehören, häßlich, wenn wir uns in ein fremdes Sein begeben; und wenn wir uns selbst erkennen, sind wir schön, wenn wir uns selbst verkennen, häßlich.“60 Das individuelle und gesellschaftliche Leben ist wiederum eingebettet in die Ordnung des Kosmos, die von den Wissenschaften, von Physik, Astronomie und Mathematik, erforscht wird. Auch die Ordnung der Natur, so hatten wir bereits gesehen, beruht auf der schöpferischen Dynamik, durch die eine Vielzahl in sich geeinter Entitäten entsteht.
Damit ist ein entscheidender Grundzug von Schönheit entwickelt: Sie ist kein einmal erreichter Zustand, und sie beruht nicht auf dem Sinnlich-Sichtbaren, sondern auf dem unablässigen Prozess, in dem sich die innere Lebendigkeit zum Ausdruck bringt. Hässlich ist für Plotin dagegen in allen Seinsbereichen das Ungestaltete, Unbestimmte, Formlose, das keine Proportionen, Struktur und Grenzen hat und deshalb in keinem Verhältnis zu anderen Seienden steht. In seiner Unbestimmtheit ist es nahezu unerkennbar und nähert sich dem Nicht-Sein. Seiend-sein, gut-sein und schön-sein gehören genauso zusammen wie nicht-sein, schlecht- und hässlich-sein. „Alles Formlose ist bestimmt Form und Gestalt anzunehmen; solange es daher keinen Teil hat an rationaler Form und Gestalt, ist es häßlich und ausgeschlossen von der göttlichen Formkraft; das ist das schlechthin Häßliche.“61 Der Gedanke an das gänzlich Ungestaltete löste für Plotin einen schmerzhaft empfundenen Schauder aus. „Die Seele leidet unter der Unbestimmtheit.“62 Die Erfahrung von Schönheit hat daher eine subjektive und eine objektive Komponente. Sie beruht auf einer vom Beobachter unabhängigen Seinsgestalt, die jedoch nur von demjenigen erfasst werden kann, der nicht von oberflächlichen Reizen geblendet wird. Ein Blindgeborener, so Plotin, wird die Freuden der sinnlichen Wahrnehmung ebenso wenig erfassen, wie jemand die Freuden der Erkenntnis erleben kann, dessen Blick für seelische Qualitäten oder für die Wissenschaften verschlossen ist.
Aus der Affinität zwischen Erkennendem und Erkanntem erwächst die eigentümliche Funktion des Schönen: Anders als in der Evolutionstheorie dient es nicht dem Überleben und der Anpassung an die Umwelt. Im Gegenteil: Es soll den Menschen über das Streben nach Selbsterhaltung, die er mit den Tieren gemeinsam hat, hinausführen, Selbstbezogenheit und Verschlossenheit in die eigenen Sorgen, Ansichten und Wünsche durchbrechen. Das Ich ist wie ein Brennpunkt zwischen zwei Bereichen, die normalerweise unbewusst sind: dem, was sich nach unten erstreckt, den Trieben, den einfachen vegetativen Funktionen des Körpers und den materiellen Prozessen; und dem, was sich nach oben erstreckt, dem reinen Geist und dem göttlichen Urgrund. Durch die Erscheinung des Geistigen im Sinnlichen wird der aufmerksame Betrachter an etwas erinnert, das im Getriebe des Alltags verschüttet bleibt. Nicht Schmerz und Leid, sondern die Sehnsucht, in immer höherem Maße an der formenden, schöpferischen Kraft Anteil zu gewinnen, führt über die Bedingtheiten des Alltags hinaus. Die Kraft, die die Seele buchstäblich beflügelt, ist Eros, die Liebe. Es ist das Lebendige im Schönen, das es liebenswert macht. Die Intensität der Liebe wächst in dem Maß, indem durch die sinnliche Erscheinung des schönen Leibes, der Natur oder eines Kunstwerkes hindurch das wahrgenommen wird, was ihnen Form und Ausdruck verleiht. Ihre höchste Intensität gewinnt die Liebe, wenn sie sich auf die Quelle allen Seins richtet. Das Eine, so schreibt Plotin, ist „Gegenstand höchster Befriedigung und das Ziel heftigster Sehnsucht.“63 Die Dynamik sich steigernder Bewusstheit, die mit der Begeisterung für die sinnliche Schönheit begonnen hat, mündet in die Sphäre der Transzendenz. Eros, die Liebe, verbindet die sinnliche und die geistige Welt miteinander. Sie ist, als Gabe des Göttlichen, immer auch Liebe zu ihm.
Die an die Sinne gebundene Form der Erkenntnis wird ebenso wie das begriffliche Denken durch die noetische, intuitive Erkenntnis überschritten. Nicht durch rationale Argumentation, sondern durch eine spezifische Form der Erfahrung, die ‚cognitio Dei experimentalis‘, wird das Eine als Grund der eigenen Existenz und des Kosmos erkannt. Nur wenn der Mensch mit sich eins ist, kann er das Eine in einem zeitlosen Augenblick erfassen. In der mystischen Einung berührt „der Mittelpunkt des Menschen momenthaft den Mittelpunkt des Alls.“64 Die Kontemplation des göttlichen Ursprungs fordert daher für Plotin mehr seelische Kraft als das Handeln, als Technik und Kunst. Doch trotz aller methodisch geleiteten Erkenntnisbemühungen bleibt die Erkenntnis der Seinswahrheit unverfügbar. Sie zeigt sich dem Menschen ‚plötzlich‘65. Niemand kann jedoch ununterbrochen in der Kontemplation verharren. Lässt die innere Sammlung nach, dann sinkt die Seele wieder ins Alltagsbewusstsein herab. Dennoch führt die Erkenntnis des Seinsgrundes zu einer anderen Beurteilung von Ereignissen und dadurch auch zu einem anderen Verhalten. Der Weg zur Wahrheit ist kein rein kognitiver Prozess; er verändert den Strebenden existenziell.
Im Mittelalter entstand eine Kunstform, der das neuplatonische Verständnis der Natur zugrunde liegt: die gotische Kathedrale. Ihr Konstruktionsprinzip lässt sich in zwei knappen Formeln zusammenfassen: ‚Kunst ist Wissenschaft‘ und: ‚Kunst ist Nachahmung der Natur‘.66 In der Schule von Chartres, die um 990 von Fulbert von Chartres gegründet wurde, wurden der platonische ‚Timaios‘ und der Spruch aus Sapientia 11.21: ‚Alles ist geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht‘ miteinander verbunden und die Ordnung des Kosmos auf Zahlenverhältnisse zurückgeführt. Gott selbst war der Architekt, der das Weltgebäude mühelos und in voller Kenntnis der mathematischen Gesetze in seiner ganzen Schönheit geschaffen hatte. Sollten die Kathedralen, die als Darstellung der kosmischen Ordnung angesehen wurden, stabil sein, dann konnte sich auch der Architekt dem Gesetz der Proportion nicht entziehen. Die Zahlen waren daher keine bloß äußerlichen Maße, sondern entscheidend für die Struktur des Ganzen. Die Form erweist sich, wie Plotin sagte, als die Kraft, die die verschiedenen Elemente verbindet. „Der Grundriß von Chartres“, so formuliert Simson, „zeigt den kompakten Zusammenhang eines Organismus; er ist eine Einheit, die durch die kleinste Detailveränderung zerrissen würde.“67 Die Proportionen der Kathedrale verstand man nicht als realistische Kopie der sinnlich-sichtbaren Wirklichkeit, sondern als schöpferische Nachbildung ihrer intelligiblen, geistigen Strukturen. Die Idee, die sich im Geist des Künstlers fand, galt als Spiegel der Ideen, die sich im Geist Gottes, in ‚mente divina‘, befanden. Kunst verstand sich als Darstellung der gestaltenden Kräfte, die der Künstler in der Natur vorfand. Dadurch hat das subjektive Empfinden von Schönheit eine objektive Grundlage in der Struktur des Kunstwerkes und seines Vorbildes, des Kosmos. Gerade als Wissenschaft war die Kunst ‚Nachahmung der Natur‘. Als Abbild der Natur, die von Gott geschaffen war, lenkte die Kathedrale den Blick des Betrachters zurück auf den göttlichen Ursprung.
Naturphilosophie und Naturforschung hatten in der Antike demnach drei Funktionen: Als Wissen um regelmäßige Abläufe in der Natur wurde sie zur Grundlage technischer Konstruktionen. Da die Naturforschung jedoch noch nicht an systematische Experimente gebunden war, konnte sie neben empirischen Beobachtungen auch die nur einer kontemplativen Einstellung sich zeigenden schöpferischen Dimensionen einbeziehen. Schließlich vollzog sich durch die Naturforschung auch die Herausbildung einer ethischen Haltung: Die Betrachtung der Natur erweckte das Bewusstsein für eine Ordnung, die alles überschreitet, was Menschen selbst herstellen können und sich ihrer Verfügung entzieht. Indem sie ihre eigene Lebenszeit, Wünsche und Ziele in einen größeren zeitlichen Rahmen einordnen, entstehen ethische Haltungen wie Demut, Freigebigkeit, Selbstgenügsamkeit, Bescheidenheit und Gerechtigkeitssinn. Durch die Allgegenwart des Geistes wurde die Natur außerdem zum Anstoß für die Hinwendung zum göttlichen Ursprung. Unter dieser Perspektive konnten materieller Wohlstand und Technik nur begrenzte Hilfsmittel sein, die den nötigen Freiraum schufen, um sich auf die wesentlichen Dinge des Lebens zu konzentrieren. Etwa um 540 n. Chr. schrieb der Neuplatoniker Simplikios in einem Kommentar zu Aristoteles ‚Physik‘: „Kommt man nicht so durch die Naturwissenschaft zu der kühnen Erkenntnis, daß wir als lebende Wesen ein unmerklicher Teil des Universums sind, und daß die Spanne unseres Lebens nichts ist verglichen mit der Dauer des Universums, und daß alles Erschaffene notwendig in Vernichtung enden muß, die eine Auflösung ist in die Elemente und eine Rückkehr der Teile in ihre Ganzheiten, eine Verjüngung des Gealterten und eine Wiederherstellung des Verbrauchten? Es ist offenkundig, daß die Naturwissenschaft es vermag, Verstehen zu erzeugen, das viel Verwandtes mit dem intuitiven Erkenntnisvermögen der Seele aufweist. Sie macht die Menschen großmütig und nobel. Sie macht die Menschen frei, weil sie sie dazu bringt, sich mit Wenigem zu begnügen, mit anderen gern zu teilen, was sie besitzen und nicht auf die Gaben anderer angewiesen zu sein. Ihr höchstes Gut aber ist, daß sie der beste Weg ist zur Erkenntnis des spirituellen Seins und zur Betrachtung der göttlichen Formen, wie auch PLATON uns zeigt und ARISTOTELES.“68