Читать книгу Otternbiss - Regine Kölpin - Страница 6
Im Jahr 2000
Wangerooge
ОглавлениеMaria weiß nicht, was Achim hier will. Sie weiß nicht einmal, warum sie sich von dieser Nervensäge hat breitschlagen lassen, ihm bis zum Osten von Wangerooge zu folgen.
Sie blickt zum Himmel. Es wird erneut ein heißer Tag werden. Später würde man sich am aufgeheizten Sand die Füße verbrennen. Achim hüpft fröhlich neben ihr her, aber sein Gesicht wirkt verkrampft. Er scheint ein großes Geheimnis zu haben. Sie sieht es ihm an. Immer wieder zerfurcht er seine sommersprossige Stirn, lässt den Zeigefinger in der kleinen Nase verschwinden. Außerdem hat sie gehört, wie er etwas von Bernsteinen geflüstert hat. Er ist fasziniert vom Goldgelb dieser Steine. Wenn Maria ihre Kette trägt, streicht er mit seinen dünnen Fingerspitzen fast andächtig darüber. Im Osten liegen nach starkem Seegang öfter welche. Wahrscheinlich hat Achim davon gehört. Er hat seine Ohren ja überall.
Da stehen sie sich beide nichts nach. Sie nehmen alles auf, was sie hören. Ihre Art, am Leben teilzunehmen, weil sie von den anderen ausgeschlossen sind. Außer Daniel gibt es niemanden, der Maria wirklich mag. Alle finden sie eigenartig. Weil sie mit ihren fünfzehn Jahren zu viel nachdenkt.
Sie weiß, dass Achim sie nett findet. Aber er ist gerade erst acht. Der Kleine wirkt immer so wie ein zu früh aus dem Nest gefallener Vogel. Seine rotblonden Haare, die sein blasses, mit Sommersprossen überzogenes Gesicht strähnig umrahmen, tragen dazu bei. Vielleicht mag sie ihn deshalb. In den zwei Wochen, seit sie zusammen im Schullandheim sind, hat sie ihn lieb gewonnen, wie einen kleinen Bruder.
Maria ist es jetzt am frühen Morgen bereits zu warm. Immer öfter wischt sie sich verstohlen über die Stirn. Schweißperlen reihen sich Pore an Pore. Sie schwitzt so leicht. Ab und zu öffnet sie den Mund, will etwas sagen, verschließt ihn dann aber, sperrt die Worte ungesagt ein.
Sie hält Achims Hand fest umschlossen und stapft mit ihm den langen Weg in Richtung der Ostdünen. Ihre Lippen werden von Schritt zu Schritt schmaler, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen sind. Ihr Atem geht eine Spur zu schnell. Sie hofft, dass keiner ihr Verschwinden bemerkt und sie zum Frühstück zurück sind. Es ist nicht erlaubt, unangemeldet zu gehen. Aber etwas in ihr hat sie davon abgehalten, ihren Spaziergang kundzutun. Vielleicht ist es die Spur von Abenteuer, die das alles hier so spannend macht. Endlich ist sie der Bestimmer, muss sich nicht den Anweisungen anderer unterordnen. Hätte sie gesagt, was sie vorhaben, es wäre ihnen vermutlich verboten worden. Keiner darf so früh am Morgen allein durch die Dünen laufen, geschweige denn sich so weit vom Heim entfernen. Auch wenn sie als Betreuerin arbeitet, ist es ihr nicht erlaubt, mit einem der Kinder einfach wegzugehen.
Maria wedelt sich mit der bloßen Hand Luft zu. Sie ist völlig aus der Puste. Es ist keine gute Idee gewesen, mit Achim mitzugehen. Sie hat ein schlechtes Gefühl.
Der Junge hüpft wie ein Gummiball auf und nieder, stimmt ein Lied an. Seine Worte klingen merkwürdig dünn in der Landschaft, so sehr er sich auch um Festigkeit in der Stimme bemüht.
»Kleine Möwe Jonathan …« Als hätten die Vögel seinen piepsigen Gesang vernommen, antworten sie ihm kreischend.
»Lass uns umkehren, Achim!«
Der Junge schüttelt den Kopf. »Ich muss bis ans Meer. Wo die Wellen brechen.«
»Warum?«, fragt sie, obwohl sie die Antwort eigentlich kennt. Maria zieht an seiner Hand. Die ist mittlerweile feucht geworden. Achim ist aufgeregt. Sie schaut in seine blassblauen Augen, die ihrem Blick aber ausweichen. »Du willst Bernsteine suchen, stimmt’s?«
Er nickt. Eine Strähne schiebt sich übers rechte Auge, wischt eine herauskullernde Träne zu einer gebogenen Linie.
»Für Oskar«, flüstert er und reißt sich los. Er kraxelt den Dünenüberweg hinauf.
»Bleib stehen!«, ruft Maria.
Achim hört aber nicht hin. Er stolpert durch den Sand, rennt in Richtung Dünenkamm. Dort verharrt er eine Weile, schaut sich kurz um und verschwindet zum Strand.
Für Oskar also. Maria seufzt. Oskar ist Achims kleiner Bruder. Todkrank, hat Leukämie. Deshalb ist Achim in der Kinderfreizeit. Seine Eltern müssen sich um den Jüngeren kümmern. Für den Älteren bleibt nicht viel Raum in einer solchen Zeit. Maria hat die Mutter beim Abschied erlebt. Achim ist ihr zu viel. Ihr Herz war nicht bei ihm. Maria sieht das. Der Vater ist auch komisch. Er hat den Kleinen fest im Arm gehalten und ihm noch etwas ins Ohr geflüstert. Danach hat Achim zwar gestrahlt, aber trotzdem war auch zwischen den beiden keine Nähe zu spüren.
Es steht ihr nicht zu, über irgendjemanden zu richten. Das ist arrogant.
Maria folgt Achim. Der Sand, der seitlich in ihre Sandalen rieselt, ist unangenehm. Sie schüttelt ihn aus, schleppt sich die Düne hinauf. Neben ihr raschelt es. Sie sieht das Ende einer Kreuzotter gerade im Dünengras verschwinden. Maria ist froh, dass der Überweg größtenteils mit Holzbohlen ausgelegt ist. Darauf läuft es sich etwas besser. Doch die Wärme steht hier schon, nimmt ihr die Luft zum Atmen. Sie ist empfindlich damit. Als sie den Strand endlich vom Dünenkamm aus überblicken kann, rennt Achim bereits in Richtung Wattsaum.
Die Nordsee dümpelt in der Ferne wie eine leicht bewegte Folie auf und ab und erinnert Maria an das Meer der Augsburger Puppenkiste. Es ist auflaufend Wasser. Maria kann fast zusehen, wie sich die ersten Priele in Ufernähe füllen und das Meer nach und nach das Watt bedeckt.
Der Horizont ist aber zur Blauen Balje hin nicht erkennbar. Das Meer wird nicht wie sonst mit einem schmalen Strich vom Himmel getrennt. Es vermischt sich mit ihm zu einer graudunklen Masse, die auf die Küste zuwabert.
Marias Herz schlägt ein paar Takte schneller. Hier stimmt etwas nicht. Achim wird immer winziger, je deutlicher er sich entfernt. Maria formt die Hände zu einem Trichter. Sie atmet tief ein, versucht Kraft in die Stimme zu legen: »Achim! Komm zurück!« Die Töne verhallen in der Weite, die durch diese merkwürdige Wand weniger zu werden scheint.
Maria hastet die Düne hinunter, stürzt, rollt den feinsandigen Abhang hinab, krallt ihre Hände in den Sand, um den Sturz abzufangen. Sie schafft es, auf die Füße zu kommen, greift nach ihren Latschen und rennt. Und rennt und rennt. Sie bemerkt nicht, wie ihre Zehe zu bluten beginnt, weil sie auf eine klaffende Muschel getreten ist. Sie merkt nicht das Stechen im Knie, das sie sich bei ihrem Sturz verletzt hat.
»Achim!«, ruft sie wieder. Doch der ist längst nur noch ein kleiner blauer Tupfen, den man wie zufällig dorthin platziert hat. Er hat die Welt um sich herum vergessen.
Maria sammelt ihre Kräfte, will dem Jungen ein Stück näher kommen, ihn einholen. Sie spürt, wie wichtig es ist. Dass ihr kaum noch Zeit bleibt.
Die dunkle Wand nähert sich stetig der Küste, scheint mit ihren ersten Ausläufern bereits am Wattsaum zu lecken. Es wirkt so, als habe sie sich auf die herannahende Wasseroberfläche gesetzt und reite auf ihr dem Strand entgegen.
Maria hält abrupt an. Ein Begreifen kriecht vom Kopf her in ihren Bauch und verursacht dort ein Brennen. Diese seltsame Wand ist der Nebel. Dieser tiefe, graue, gefährlich undurchdringliche Nebel, der jetzt feine Schwaden über das noch trockene Watt schickt und mit den ersten Ausläufern am Strand leckt.
Bald werden diese Fäden sich mit der See und dem Sand verweben und Wasser und Meer zu einer Einheit verbinden.
»Achim!« Marias Stimme überschlägt sich, gerät in ungeahnte Höhen. »Wir müssen weg!«
Der Junge blickt nicht einmal auf. Wahrscheinlich hat er sie nicht gehört. Maria erkennt seine gebückte Haltung. Er scheint unglaublich in etwas vertieft zu sein.
»Achim!« Ihr Ruf wird vom Meer und dieser Suppe verzerrt, dringt nicht durch.
Bevor der Kleine vom Nebel verschluckt wird, glaubt Maria noch eine Gestalt neben ihm zu erkennen, aber sie weiß selbst, dass es nur ein Trugschluss, eine verfehlte Hoffnung ist.
Die dunkle Wand hat auch sie fast eingeholt.
»Wenn der Seenebel kommt, müsst ihr, so rasch es geht, an die Dünenkette laufen. Bei Flut ist er so dicht, ihr wisst nicht mehr, in welche Richtung ihr gehen sollt. Und ihr seid verloren!« Warum fällt ihr erst jetzt ein, was der Betreuer ihnen wieder und wieder eingetrichtert hatte? Vorhin wäre es früh genug gewesen, Achim zurückzuholen. Wenn sie nur die Zeichen rechtzeitig erkannt hätte. Hätte, hätte, hätte …
Erst im vergangenen Jahr ist ein Mädchen bei Seenebel im Osten ertrunken, weil es vor Angst ins Wasser gefallen, dort in einer Senke abgetaucht und in Panik geraten war.
Aber sie kann jetzt nicht zurück zu den Dünen. Sie muss Achim finden. Irgendwo in dieser Brühe irrt er herum, wartet auf ihre Hilfe. Er vertraut ihr. Sie ist die Einzige, die in der Lage ist, etwas zu tun. Niemand sonst ist hier. Es ist zu früh am Tag. Er ist ihr anvertraut. Sie wird ihn nicht allein lassen. Mittlerweile umtanzen die Nebenschwaden ihre Füße. Es ist fast unmöglich, den Boden zu erkennen. Dann wird auch sie verschluckt. Es ist plötzlich viel kälter und unglaublich feucht. Suchend schlägt Maria mit den Armen um sich. Sie verharrt auf der Stelle, versucht sich zu orientieren. Ganz ruhig bleiben. Es ist so still um sie herum, als gäbe es auf der Welt nur sie allein. Sie vernimmt weder Möwenschreie noch das Plätschern der Wellen. Gespenstische Ruhe, tödliche Ruhe.
Maria lässt ihre Latschen aus der Hand fallen. Sie braucht sie hier nicht. Sie tastet sich vorwärts. Schritt für Schritt tappt sie durch den Sand, in die Richtung, wo sie den Jungen vermutet. »Achim!« Ihre Stimme klingt so dumpf, so verloren. »Wo steckst du, verdammt?« Wieder heften sich die Augen in das graue Dickicht, suchen Millimeter für Millimeter alles ab.
Nach einer Weile entdeckt Maria, dass sie im Kreis gelaufen ist. Ihre Latschen liegen achtlos dahin geworfen im Sand.