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Wangerooge, zehn Jahre später
Seelenpfad 1

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Ränder


Manchmal muss einer fortgehen

um allein zu sein …


Elke Langenstein-Jäger

Angelika Mans stand vor der Polizeistation in der Charlottenstraße und klingelte schon seit geraumer Zeit Sturm. Sie hatte ihr Handy vergessen, konnte die dort angeschlagene Nummer nicht wählen. Wangerooge schlief um diese Zeit noch und normalerweise würde sie das auch tun. Wenn sie nicht eine Eingebung früh aus dem Bett gescheucht hätte und in das Zimmer von Lukas sehen lassen. Das Bett war ordentlich gemacht, das Kopfkissen in der Mitte geknufft, wie sie das gern tat, und darauf thronte der dunkelbraune Teddy mit dem Herzen an der Hand. Aber von ihrem Sohn keine Spur. Er hatte das Haus mitten in der Nacht oder zumindest früh am Morgen verlassen.

Lukas war erst acht Jahre, viel zu klein für eine solche Aktion. Es passte auch nicht zu ihm. Aber er war in der Zeit seit der Trennung von Dieter seltsam geworden. Deshalb hatte sie diesen Kurztrip allein mit ihrem Sohn gebucht, wollte sich ein schönes verlängertes Wochenende auf der Insel machen. Lukas hatte sie in der Schule krankgemeldet, Urlaub während der Ferien war in der Firma einfach nicht drin. Zu viele andere Mitarbeiter drängten mit ihren Urlaubswünschen in die schulfreie Zeit.

Gestern war er eine Weile allein am Strand gewesen. Sein Vater hatte angerufen, wieder hatte es Streit gegeben. Sie konnte nicht mehr sagen, an welcher Stelle das Gespräch eskaliert, wann es genau entglitten war. Nur Lukas’ große Augen waren ihr in Erinnerung. Wie sie sich mit Tränen gefüllt, wie seine Unterlippe zu zittern begonnen hatte. Bevor er sich abgewandt, den kleinen roten Eimer und seinen Käscher in die Hand genommen hatte und über die Straße in Richtung Strand entschwunden war.

Danach war er anders gewesen. Gelöster. Freier. Er hatte sogar gelacht. Eine Reaktion, die er schon lange nicht mehr gezeigt hatte. Doch jetzt war ihr Sohn verschwunden.

Und die Polizeistation war nicht besetzt. Ihr war, als würden die Gedärme in ihrem Bauch brennen, Angst ihre Kehle zuschnüren. Hatte er doch zu viel von dem Streit mitbekommen und durch seine Fröhlichkeit, die vermutlich gar nicht echt war, nur alles überspielen wollen?

Angelika spürte die Tränen die Wangen hinunter­rinnen.

Sie trommelte mit der Faust gegen die Glasscheibe der Eingangstür der Polizei und wusste gleichzeitig, wie sinnlos ein solches Unterfangen war. In diesem Haus befand sich keiner. Sie musste erst zurück in ihre Ferien­wohnung gehen und das Handy holen. Sie suchte in ihren Taschen, fand aber weder Stift noch Zettel. Sich unter den gegebenen Umständen die angegebene Telefon­nummer einprägen zu wollen, war völlig unmöglich. Sie konnte sich nur die ersten vier Zahlen merken, mehr war nicht drin. Es half nichts. Sie musste umkehren und wiederkommen. Wiederkommen, dröhnte es in ihrem Kopf. Lukas sollte zurückkommen. Sie hoffte einfach, dass er, wenn sie nach Hause kam, brav in seinem Bett liegen würde. Sich vorhin nur versteckt hatte.

»Das hat er schon so oft getan«, sagte sie laut, während sie auf die Straße zurücktrat. »Ja, das hat er schon so oft getan …« Den Gedanken, dass es aber nie so früh am Morgen passiert war, weil ihr Sohn als Morgenmuffel lange brauchte, um zu Späßen aufgelegt zu sein, verdrängte sie. Ihre Schritte beschleunigten sich von Meter zu Meter. Sie würde Lukas gleich zu Hause antreffen, sie war völlig umsonst so in Panik geraten. Er lag bestimmt in seinem Bett, würde sie mit seinen blauen Augen anblinzeln und »Hallo, Mama« sagen. Sie sah schon sein Grinsen. »Hast dich ganz schön erschreckt, was?«

*

Rothko blickte in den Himmel. Der zeigte sich ihm in strahlendem Blau, nur ein paar vereinzelte Wolken zogen behäbig darüber. Sie wirkten wie Schafe und der Kommissar empfand direkt so etwas wie Empathie für sie. Er war auch ein Schaf. Hierher abkommandiert. Er wartete auf die Schlachtbank. Ein bisschen durfte er auf der Insel noch seinen Dienst tun, dann würde man ihm den Todesstoß versetzen.

Eine Kur hatte er beantragt. Weil ihm all die Verbrechen auf die Nerven fielen, weil er keine Lust mehr hatte, sich mit dem Abschaum der Gesellschaft auseinanderzusetzen.

»Für eine Kur reicht es nicht, Herr Rothko. Wir lassen Sie den Frühling und den Sommer auf Wangerooge Ihren Dienst tun. Dann sehen wir weiter. Dort wird Ihnen der frische Wind um die Nase wehen, Ihre negativen Gedanken einfach wegpusten.« Ein breites Grinsen hatte sich über das Gesicht seines Chefs gezogen, bevor er Rothko die übrigen Vorzüge der Insel angepriesen hatte. »Klären Sie den einen oder anderen Fahrraddiebstahl auf. Vielleicht beschäftigen Sie auch ein paar Drogendelikte, da haben Sie dann aber die Kollegen vom Zoll als Unterstützung. Und natürlich Jillrich, Ihren Partner in der Polizeistation. Den Rest der Zeit nutzen Sie für ausgiebige Spaziergänge am Strand.«

Rothko fand im Nachhinein, dass die Stimme seines Vorgesetzten ein wenig spöttisch geklungen hatte.

Er hatte sich nicht gewehrt. Gedacht, so schlecht sei die Idee mit der Insel nicht, und sich in sein Schicksal ergeben. Gleich zu Beginn war er über diese Gedichttafeln in den Dünen gestolpert. Das erste, das er gelesen hatte, war »Manchmal muss einer fortgehen, um allein zu sein mit Himmel und Wasser.« Das hatte er sich zu eigen gemacht und als Startschuss für sein neues Leben betrachtet. Ein ungewöhnlicher Zug an ihm, sonst dachte er nicht in diesen esoterischen Bahnen, war eher nüchtern veranlagt. Aber wenn er schon sein Dasein komplett veränderte, warum dann nicht auch im Denken anders werden?

Eine Woche befand er sich bereits auf Wangerooge. Außer dem bisschen Papierkrieg hatte er tatsächlich nichts weiter zu tun gehabt. Zwischendurch beschlich ihn das Gefühl, er könne es hier wirklich aushalten. Es kam natürlich darauf an, was der Kollege, der hier seinen regelmäßigen Dienst tat, für ein Typ war. Mit dem musste er schließlich eine ganze Weile auskommen. Aber der wohnte unten in seiner eigenen Wohnung. Man konnte sich aus dem Weg gehen.

Ein weiteres Manko war die Kaffeemaschine. Völlig verkalkt spuckte sie eine undefinierbare braune Brühe aus. Ein Gesöff, das er nun wirklich nicht als Kaffee bezeichnen würde.

Immerhin gab es einen funktionierenden Wasserkocher. Im Augenblick trank er Pulverkaffee.

Eine Katastrophe, wenn man dermaßen auf Kaffee fixiert war wie er. Hin und wieder beschlich ihn das Gefühl, es könne ihm doch so etwas wie Sucht anhaften. Aber gab es das? Kaffeesucht? Er schüttelte den Kopf darüber, mit was für Gedanken er sich so den ganzen Tag beschäftigte, wenn er dem Nichtstun ausgesetzt war.

Der Kollege würde morgen aus seinem Urlaub zurückkehren. Bevor der Osteransturm auf die Insel begann, hatten sie ungefähr zwei Wochen, sich aneinander zu gewöhnen. Schlimmer als mit dem Kollegen Kraulke konnte es sicher nicht werden. Kraulke war für Rothko nach wie vor ein rotes Tuch. Er war ihm auf dem Festland im letzten Jahr an die Seite gestellt worden. Sie hatten den Mord an einer Frau aufzuklären gehabt.

Die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach nicht.

Rothko sog die salzige Luft tief in seine Lungen. Allein, dass er diesen Menschen auf dem Festland zurückgelassen hatte, war ein Geschenk. Eines, das selbst den fehlenden Kaffee zur Nebensache degradierte. Seine Frau vermisste er nicht sonderlich, sie hatten sich schon lange nicht mehr viel zu sagen. Sie wollte in drei Wochen kommen. Vielleicht.

Rothko legte den Kopf in den Nacken, erfreute sich jetzt an den weißen Schafen, die gemächlich über den Himmel schwebten. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, ein Glückspilz zu sein.

Zu seiner Rechten ertönte das laute Hecheln eines Hundes. Dann stoppte etwas neben ihm und im selben Augenblick fühlte er winzige Sandkörner an seinem Unterschenkel. Rothko warf einen Blick auf das Tier. Der Hund war groß und ihm fehlte der Schwanz. Einen solchen Hund gab es nur einmal auf der Insel und er gehörte dem Zollbeamten.

»Moin!« Der Kollege klang etwas gehetzt, vermutlich hastete er schon eine geraume Weile hinter seinem Tier her. »Auch unterwegs?«

Rothko mochte Ubbo Münkenwarf. Sie hatten gleich am ersten Abend ein Bier in Rothkos neuer Wohnung getrunken. »Moin! Bisschen Frischluft tanken. So gemütlich ist meine neue Bleibe ja nicht!« Rothko streichelte dem Hund flüchtig über den Kopf. Der schleckte sofort mit der Zunge über seinen Unterarm.

»Buddy, lass das!«, sagte Ubbo.

Rothko wischte die Hand an der Hosennaht ab und verkniff sich einen Kommentar, zumal sein Kollege gleich weiterredete: »In der Bude bei Ihnen da oben fühlt man sich wie in dem schwedischen Möbelhaus, oder?« Er grinste. »Nur ohne die schöne Deko, die sie da immer noch haben. Aber seien Sie froh, dass Sie noch allein wohnen können. Genießen Sie das!« Der Zollbeamte schob sich die Mütze in den Nacken und strich sich über die Glatze.

Rothkos Gesicht sprach Bände. »Ich freu mich schon, wenn sich das in Kürze ändert und wir zu zweit in der Bude hausen dürfen. Ist genau das Richtige für einen Einzelgänger wie mich.« Die Tatsache, dass er nur vor­übergehend allein in der Dienstwohnung wohnen konnte, war der größte Nachteil seiner Versetzung. Zur Hauptsaison, kurz vor Ostern, kam immer ein dritter Kollege auf die Insel und würde zu ihm in die Wohnung ziehen. Er hatte vorsorglich den größten Schlafraum mit dem Doppelbett besetzt. Er hoffte auf einen umgänglichen Mitmenschen, der ihn in Ruhe ließ.

»Der Hund ist heute so unruhig, das geht auf keine Kuhhaut.« Der Zollbeamte schüttelte den Kopf. »So kenne ich Buddy gar nicht. Immer will er zu den Dünen. Merkwürdig. Sonst kann er vom Wasser nicht genug haben und nun das! Ich werde ihn anleinen.« Er tippte sich mit Zeige- und Ringfinger grüßend an die Stirn. »Nichts für ungut, Herr Kommissar!« Der Mann trollte sich.

Rothko sah, dass der Hund seine Schnauze ständig in Richtung Dünenkette drehte, der Zollbeamte ihn aber lieber am Wattsaum halten wollte.

Der Wind blies aus Osten, was sicher die klare Luft erklärte. Das schlechte Wetter kam fast immer aus Nordwest. Rothko spazierte noch ein Stück dagegen an, kehrte schließlich um und schlenderte über den Strand in Richtung der Dünen, die sich hier recht steil auftaten.

Der Kommissar betrachtete die überhängenden Dünen­kämme. An einigen Stellen hatte der Sturm es geschafft, sie zum Einstürzen zu bringen. Wie Schnee­lawinen waren sie abgebrochen. Nicht mehr lange und der Wind würde den Sand davontragen. Nichts bliebe davon zu sehen. Die Dünenformation änderte sich ständig. Nie sah die Insel gleich aus. Ein ewiges Wechselspiel.

Rothko ließ sich vor der Anpflanzung nieder, die zum Schutz der Dünen errichtet worden war. Er griff mit der Faust in den Sand. Die feinen Körner rieselten zwischen den Fingern hindurch. Eine Möwe schrie gellend.

Dieser Ton löste in ihm eine Unruhe aus, die ihn an seine Zeit auf dem Festland erinnerte. Ein Gefühl, das ihn genau dann anfiel, wenn er in einem Fall eine Spur gewittert hatte, wenn er glaubte, auf der richtigen Fährte zu sein. Hier gab es allerdings nichts, nach dem er jagen konnte und wollte. Er war auf Wangerooge, um Abstand zu bekommen. Dass er so reagierte, zeigte ihm deutlich, wie nötig er eine Auszeit hatte. Doch ihm ging das Verhalten des Hundes nicht aus dem Kopf. Warum zum Teufel war der so erpicht darauf gewesen, vom Wasser weg genau in diese Richtung zu laufen?

Rothko schlug mit der geballten Faust im Sand herum. Er wollte diese Gedanken jetzt nicht zulassen. Er war hier, weil er seine Ruhe brauchte. Keine Verbrecherjagd mehr. Aus. Vorbei. Schluss.

Rothko erhob sich. Es war besser, wenn er weiterging und damit weitere Fantasien um das Theater, das der Hund gemacht hatte, im Keim zu ersticken.

Sein Blick wanderte dennoch zum Dünenkamm hinauf. Der war erst frisch abgebrochen und das Ausmaß recht groß. »Als ob jemand nachgeholfen hätte«, sagte er zu sich. Der Sand hatte sich großflächig verteilt, sah an einigen Stellen nicht verweht aus. Fußspuren gab es eine ganze Menge. Entweder hatten da oben Kinder herumgeturnt und dabei war der Kamm hinuntergestürzt oder aber …

Rothko entfernte sich. Er war wirklich krank. Hinter allem und jedem vermutete er ein Verbrechen. Was für eine armselige Kreatur er war.

Nach fünf Minuten hielt er jedoch inne, bohrte die Spitze seines Schuhs in den Sand. Drehte sein Gesicht zur Meerseite, beobachtete eine Sturmmöwe, wie sie ihr Gefieder putzte.

Nach weiteren fünf Minuten kehrte er in Richtung Osten um. Und nach wiederum fünf Minuten befand er sich hinter der Dünenbepflanzung und schabte mit dem Fuß im Sand herum.

Es dauerte nicht lange und er stieß auf einen Widerstand. Vorsichtig begann er, mit seinen Händen zu graben. Als er eine Stelle freigelegt hatte, wünschte er, er hätte sich niemals auf den Kompromiss eingelassen, seinen Dienst auf Wangerooge zu verbringen.

*

Er hat es getan. Es ist einfach passiert, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Er weint, schaut auf seine Hände. Gepflegt sind sie und enden in schönen Fingerkuppen. Kleine Haare sprießen über dem Gelenk. Sie bewegen sich, wenn er die Finger auf und nieder gleiten lässt. Wie Schwingen heben sich die Hände an, wie Schwingen senken sie sich erneut. Er spreizt die Finger leicht, sieht sich selbst gern an. Er ist zu schön und das ist ihm seit jeher zum Verhängnis geworden. Seine Schönheit, seine Weichheit … beides ein Fluch, sein Verderben. Er muss es tun. Immer wieder, weil er rein bleiben muss. Er muss sie bewahren. Sie sollen nicht in der Sünde verkommen. Gott hat ihn berufen.

Er schaut die Hände an. Junges Fleisch hat er damit gehalten, zentimeterweise ausgekostet.

Zu schön sind sie, wenn sie leben. Zu schön, wenn der Seewind ihnen das Haar aus dem Gesicht streicht. Er liebt den frischen Geruch, der von ihrer glatten Haut ausgeht, seine Nase streichelt. Wenn er aber diesen Duft aufsaugt, muss er ihn auslöschen. Weil er ihn nicht ertragen kann, weil er zu betörend ist. Weil dieser Duft sie in Gefahr bringt. Eine Gefahr, der sie nicht mehr entrinnen können. Wenn er nicht da ist. Es ist jedes Mal gleich.

Seine Arme drücken zu, umschlingen den kleinen dürren Körper. Immer kräftiger, bis alles in ihm danach lechzt, den Leib ganz in sich aufzusaugen, ihn zu verschlucken. Er lockert den Griff, wenn sein Gegenüber sich nicht mehr wehrt, weil es erstarrt ist, sich in sein Schicksal ergibt. Seine Hände tanzen über das Gesicht, tasten über jede Öffnung, jede Erhebung. Auch weiterhin rührt der Junge sich nicht. Als spüre der die Gefahr, die von seinen Händen, seinem ganzen Ich ausgeht. Er weiß, dass keine Chance besteht, dem Schicksal zu entrinnen. Der Mann selbst ist gespannt wie eine Feder. Sein Atem fließt ruhig und gezielt, fokussiert sich auf das Wesen, das er voll und ganz in der Hand hat. Er liebt diese Macht. Sie macht ihn unangreifbar, lässt ihn über dem stehen, was ihn einst erniedrigt hat. Der Mensch in seiner Hand ist ihm ergeben.

Seine Finger wandern weiter bis zum Hals, der so dünn ist, dass seine Hände ihn ganz umschließen.

Ein letzter Blick in Augen, die noch glänzen, jetzt ängstlich schauen. Ängstlich und gleichzeitig wissend. Er liebt den Augenblick kurz davor. Er braucht ihn, um eine Weile überleben zu können. Wenn er den Moment ausgekostet hat, drückt er zu. Die Augen werden größer und größer. Sie quellen aus dem Gesicht, zeigen die Tiefe der Seele. Es gibt nichts in der Welt, das erhebender ist.

Man muss gehen, um den Himmel zu erreichen. Es ist etwas Gutes, was er macht. Er bereitet den Weg ins Paradies. Kinder kommen immer dort hin. Wenn sie jedoch länger leben und eine Verfehlung nach der anderen begehen, wird das nicht mehr klappen. Dann bleibt nur noch der Weg nach unten in die Hölle. Davor schützt er sie. Die, die gefährdet sind.

Er ist ein guter Mensch, fast ein Engel auf Erden, der die unschuldigen Kinder vor dem Schlimmsten bewahrt. Er muss es tun. Vor allem bei den bestimmten kleinen Jungs, die den Schalk in den Augen haben. Er behütet sie vor den Fehltritten dieser Welt. Nur durch ihn haben sie die Chance, bei den Engeln zu wohnen. Er bereitet ihnen den direkten Weg dorthin. Es ist gut, was er tut. Gut und richtig.

Das letzte »Nein«, die Verzweiflung in der Stimme, die in dem Augenblick schon keine mehr ist, gepaart mit dem Geruch nach Todesschweiß, lässt sein Glied erigieren. Wenn das letzte Röcheln die kleinen Münder verlässt, begleitet er es mit seinem Timbre. Ein ähnliches Geräusch. Und doch ganz verschieden. Lust und Leid. Es hält sich die Waage. Er braucht den gemeinsamen Schrei. Er verspricht tiefe Erfüllung. Für den kurzen Moment schwebt er mit einer anderen Person auf einer Welle, ist ihr nah. Gibt es eine größere Nähe, als einem Menschen im Augenblick des letzten Atemzuges beizustehen, ihn zu halten?

Dann ist es vorbei. Der Körper hängt schlaff in seiner Hand, zu nichts mehr zu gebrauchen.

Danach folgt das Begreifen. Er hat Leben ausgelöscht. Sich zum Gott gemacht. Er muss sich hinterher übergeben. Jedes Mal. Und jedes Mal kommen die Tränen. Gepaart mit einem Schluchzer, der nicht von dieser Welt ist.

Wieder starrt er auf seine Hände. Sie können in ihrer Perfektion brutal sein. Auf das Begreifen folgt das Handeln. Keiner darf wissen, was er getan hat. Er kann planvoll vorgehen, das hat er gelernt. Er ist ein organisierter Mensch. Er fühlt sich stark. Jetzt.

Er allein war dabei, als sie gegangen sind. Er hat den letzten warmen Atem an seinem Handgelenk gespürt. Manchmal hat etwas Speichel an ihm geklebt. So lange, bis das graugrüne Nordseewasser sich erbarmt und das klebrige Nass mit seinen Wellen abgeleckt hat. Er geht hinterher immer baden. Das reinigt. Seinen Körper, seine Seele, nimmt die Erinnerung mit. Damit er weiterleben kann. Einfach so. Bis zum nächsten Mal.

*

Der Junge war blass, bläuliche Adern drückten sich unnatürlich durch die Haut. Der Sand hatte sein Gesicht gepudert, sich über die einst blaue Iris gelegt und nahm ihr so den letzten Glanz.

Rothko wandte sich ab. Er hätte vorhin weitergehen sollen, seinen Instinkt ignorieren. Vielleicht wäre der Junge nie gefunden worden. Ein frommer Wunsch! Er entsprach auch überhaupt nicht Rothkos wirklichem Empfinden.

Er zückte das Handy und rief bei Ubbo an. »Ich brauche Dienstbeistand«, sagte er. »Dein Hund hatte recht damit, in Richtung der Dünen laufen zu wollen.«

Es dauerte nicht lange, bis sein Kollege eintraf. Sofort schob er seine Mütze vom Kopf und kratzte sich ausgiebig hinter dem Ohr. »Verdammt«, sagte er. »Verdammt.«

»Wir müssen in Wilhelmshaven anrufen, hier alles absperren. Weißt du, ob jemand dieses Kind vermisst?« Rothko war wieder ganz der Kommissar. Obwohl es eine besondere Situation war. Er hatte noch nie in seinem Polizistendasein selbst eine Leiche gefunden.

Ubbo zuckte mit den Schultern. Er war fast so blass wie der tote Junge. »Willst du dich lieber setzen?«, fragte Rothko, der befürchtete, dass sein Kollege sich gleich daneben legen würde.

Ubbo trat einen Schritt zurück, schüttelte entschieden den Kopf. »Geht schon.«

Mittlerweile hatten sich ein paar Neugierige um die beiden geschart. Ubbo wies den Hund an, auf und ab zu laufen, um die Meute in Schach zu halten. Das machte zumindest vorübergehend Eindruck, die Leute wichen zurück. Doch deren Neugierde war stärker. Einer glaubte den Jungen gestern noch mit dem Rad die Zedeliusstraße entlangfahren gesehen zu haben, andere waren der Meinung, ganz sicher gehöre er zu einem der Inselheime.

»Ich alarmiere die Feuerwehr. Zum Absperren«, beschloss Ubbo.

Rothko hatte sein Telefon bereits in der Hand. »Die Kollegen vom Festland müssen kommen«, erklärte er, während er die Nummer in die Tasten haute.

Otternbiss

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