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Wie die Schwachen zu den ersten Opfern der Pandemie wurden
Оглавление„Triage, das ist wie früher beim Autoquartett. Da heben wir auch alle unsere Karten auf den Tisch gelegt und verglichen: Wer hat den größten Hubraum, wer hat am meisten PS, wer fährt am schnellsten …“ So sieht das ein Oberarzt der Orthopädie im Zusammenhang mit der Coronakrise. Triage fragt bei der Einteilung von Verletzten im Krieg nach der Schwere der Verletzungen. Wer wird behandelt und wer nicht – wenn die Lazarettmöglichkeiten begrenzt sind? Allein die Vorstellung, es könne nicht genügend Intensivbetten geben, hat in der Coronakrise das Thema Triage auf den Tisch gebracht. Vorschläge nach dem Muster des Autoquartetts wurden eilig, ja eilfertig gemacht. Dialysepatienten, chronisch Herzkranke und Menschen mit Demenz sollen im Zweifelsfall zuerst aus der Intensivbehandlung genommen werden. In der Kaufmannsprache wird auch von „Triage“ gesprochen, und es ist damit der Ausschuss bei Kaffeebohnen gemeint. Um Ausschuss also geht es. Die Schwachen zuerst: Das droht, wenn es um das Aussortieren geht. Solange die Leistungsgesellschaft gut dasteht, werden die Alten gehätschelt, die Behinderten in die Inklusion gelockt und die Kranken mit medizinischen Möglichkeiten zugeschüttet. Kommt die Krise, dreht sich der Wind. Die Kernbotschaft der Leistungsgesellschaft liegt dann wieder offen auf dem Tisch: Eigentlich gehört nur dazu, wer leistet. Wie das Wort „Leistungsgesellschaft“ schon sagt: Wer nichts leistet, lebt eigentlich nicht. Die Leistungsgesellschaft und ihre Schwachen: Das ist ein heikles Bündnis. Es hält nur solange, wie die Sonne der Wohlstandsgesellschaft scheint. Die Coronakrise zeigt es und die nächste Krise, die kommt, die Klimakrise, wird die fragile Situation der Schwachen erst recht sichtbar machen.
Schauen wir zurück auf diese Pandemie, die mit dem Coronavirus über uns gekommen ist. Sie hat in die Betriebsamkeit der globalen Wirtschaft und der globalen Lebensverhältnisse mit nie erfahrener Radikalität eingegriffen. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Den alten Spruch der Arbeiterbewegung hat ein Virus, der mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist, in die Tat umgesetzt. Und alles, was wir für unmöglich gehalten haben, geschah über Nacht vor unseren Augen. Schluss mit der Mobilität. Schluss mit dem Konsum. Die Natur atmete auf. Eine Wirtschaftskrise ist die Folge gewesen. Verzweiflung und Hoffnung waren da. Die Verzweiflung all derer, die ihre Existenzgrundlage verloren haben, die Hoffnung all derer, die auf einen Neuanfang setzten. Eine erstaunliche, weltweite Entschlossenheit war zu erkennen. Solidaritäten wurden in allen Ecken und allen Enden sichtbar. Und nach dem Ende der Pandemie kommt das große Aufatmen? Vieles hat die Pandemie verändert. Neue Gemeinschaftlichkeiten sind entstanden. Aber übersehen wurde (bisweilen), dass die Schwachen die dunklen Konsequenzen zuerst erfahren haben. Und zugleich gilt das Umgekehrte: Die Schwachen wurden für die, die das hören wollten, zum Leuchtturm: Sie gaben Orientierung in der Frage: In welche Richtung wollen wir uns bewegen? Werden die die Zukunft bestimmen, die die Spaltung zwischen stark und schwach vorantreiben, oder werden die Schwachen zum Salz in der Suppe? In der Coronakrise wurde die Ouvertüre zu dieser Oper gespielt. Die erwartbaren ökonomischen Krisen und insbesondere die Folgen des Klimawandels werden es zutage bringen: Welche Gesellschaft kriegen wir? Welche Gesellschaft wollen wir? Die Kraft einer Gesellschaft misst sich an der Frage, ob sie die Welt aus der Perspektive der Schwachen versteht oder ob sie diese Schwachen als Störung, als Nebensache, als Unkraut behandelt. Die Schwachen zuerst also.
Die Schwachen sind nicht die Schädiger. Sie sind oft und schnell Opfer der Verwüstungen, aber selten haben sie den Willen und die Macht, die Welt in Trümmer zu legen. Vielleicht muss man die berühmte und bekannte Geschichte, die Walter Benjamin erzählt, neu erzählen? Walter Benjamin kommentiert ein Bild von Paul Klee, das „Angelus Novus“ genannt ist. Die aquarellierte Zeichnung ist 1920 entstanden. Klee hat eine Reihe von Engeln gezeichnet, die – wie er sagt – sich erst im „Vorzimmer der Engelschaft“ befinden. Angelus Novus: Ein übergroßer Kopf ist zu sehen, angedeutete Flügel, die Haare sehen aus wie lockig eingerollte Papierstreifen, zugleich wirken sie, als wären sie vom Sturm zerzaust.8 Walter Benjamin schreibt zu dem Angelus Novus: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“9
Der Angelus Novus ist dem Sturm wehrlos ausgeliefert. Er ist kein Sieger. Vielleicht spüren wir in den Coronazeiten deutlicher als sonst, dass wir einem Sturm, der uns vor sich hertreibt, ausgeliefert sind? Dass wir auf Trümmer schauen, die wir nicht zusammenzufügen imstande sind? Und dass dieses Corona-Unheil zu einer Geschichte der Zerstörung gehört, an der wir mitgewirkt haben? Haben wir nicht allen Lebewesen ihre Heimat, ihre Orte, ihre Zuflucht genommen? Ob das nun stimmt, dass das Virus von einem Wildtiermarkt in Wuhan stammt oder nicht: Irgendetwas Kleines, Unsichtbares, Virusartiges legt uns lahm. Der Krieg gegen das Virus, den wir führen, setzt das Muster fort, das wir gewohnt sind: Unterwerfung, Kontrolle. Mit welcher Vehemenz jetzt Bundesminister, Ministerpräsidentinnen und Virologen davon sprechen, dass die Schwächsten zuerst geschützt werden müssten, dort müsse das Isolieren, das Kontrollieren, das Impfen beginnen: Setzt sich da das alte Muster fort, das Muster der Stärke, das Kriegsmuster, mit dem wir den Planeten ja schon überzogen haben? Ja, die Schwachen müssen zuerst geschützt werden. Aber ihre Stimme darf damit nicht zum Schweigen gebracht werden, eine Stimme, die flüstert: Wäre nicht etwas anderes dran? Würdet ihr auf uns hören …
Vielleicht können die Schwachen verstanden werden als eine Art Antimaterie in der Gesellschaft der Starken? Vielleicht sind sie der flackernde Vorschein einer konvivialen Gesellschaft, in der Selbstbegrenzung zur Grundmelodie wird? Die Schwachen als Symbol, Signal, Verkörperung einer neuen Orientierung?
Der chinesische Philosoph Laotse, der im 6. Jahrhundert vor Christus gelebt haben soll, hat gesagt:
„Das Sanfteste auf Erden
besiegt das Härteste auf Erden.“ 10
Widerspricht der Satz all unseren Erfahrungen? Er widerspricht jedenfalls dem, was in der Welt gilt. Und dennoch ist er – wie wir geradezu instinktiv fühlen – wahr. Vielleicht sagt er, was wir hoffen, was wir wünschen, was wir ersehnen? Die große Coronakrise, die die Welt im Jahr 2020 lahmgelegt hat, zeigt, wie ein mikroskopisch kleines Virus die Welt verändern kann. Sie zeigt aber auch, dass die Schwächsten der Gesellschaft (die Alten, die Menschen mit Demenz, die Behinderten, die Pflegebedürftigen) in der Gefahr sind, zuerst den Schutz zu verlieren. Mitten in der Krise entwickeln – wie oben bemerkt – Mediziner Triage-Strategien. So wird in der Coronakrise der Vorschlag gemacht, Dialysepatienten, schwer Herzkranke oder Menschen mit Demenz aus Intensivstationen herauszunehmen, wenn es zu wenig Intensivbetten gibt. „Das Sanfteste auf Erden besiegt das Härteste auf Erden.“ Sieht man da nicht, was für einen schwärmerischen Unsinn Laotse redet? Bemerkenswert ist aber, dass nahezu alle großen Philosophien und alle bedeutenden Religionsstifter etwas Ähnliches wie Laotse sagen. Paulus, der Apostel, schreibt an die Gemeinde in Korinth: „Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen: denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
„Das Sanfteste auf Erden besiegt das Härteste auf Erden.“ Der Satz ist ebenso weltfremd wie der des Paulus: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Alle (Macht-)Tendenzen, die wir sehen und beobachten, belegen das Gegenteil. Und dennoch hält Laotse ebenso wie Paulus an der Hoffnung fest, die die Welt auf den Kopf stellen würde: Dass das Schwache, das Sanfte, das Wehrlose das ist, was Zukunft hat. Hoffnung lebt aus diesem Paradox. Aus der Hoffnung, dass die Welt nach der nächsten Krise nicht grausamer, sondern humaner wird. „Ist aber etwas auf diese Weise stark geworden, erstarrt es, denn es ist geistlos, und Geistlosigkeit steht nahe dem Ende.“ (Laotse)11 Das leuchtet unmittelbar ein. Wir leben in einer von Geistlosigkeit bedrohten Leistungsgesellschaft. Wie kommen wir da raus?
Die Aphorismen des Laotse können wir lesen als ein Manifest der Schwäche, die als eine Arznei gegen Erstarrung, Geistlosigkeit, Oberflächlichkeit und Schwermut geeignet sind. Aber auch als das Programm für eine neue Welt, in der die Heroen vom Sockel gestürzt werden, damit die Antihelden auf den Trümmern des Schönen und Starken etwas bilden können, was eine lebenswerte Welt einläutet. Sehr mühsam müssen wir die sprachlichen Bausteine dafür suchen oder neu erfinden. Vielleicht fängt das auch mit dem Schweigen an, von dem Ivan Illich spricht? „Mit meinem Argument für beispielhaftes Schweigen will ich nicht vernünftige Argumente entmutigen, die die Tatsache festhalten, warum geschwiegen wird. Aber ich bin mir der Anarchie bewusst, mit der dieses Schweigen droht. Wer schweigt, wird unregierbar, Schweigen breitet sich aus.“12 Das Schweigen der Schwachen – darauf sollen wir lauschen. Die Starken reden und reden und reden. Die Hinfälligen in den Pflegeheimen reden nicht. Die Menschen mit Demenz reden Unverständliches. Wir brauchen Stille, um sie wahrnehmen zu können. Und noch einmal: Corona ist das globale Trainingslager für das, was kommt.