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Revolution der Schwachen

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Die Coronakrise ist ein Trainingslager. Sie bereitet uns auf die Krisen vor, die mit der Klimakatastrophe auf uns einstürzen werden. Die Coronakrise hat eine große Hilflosigkeit in Pflegeheimen, Krankenhäusern und Hospizen deutlich gemacht. Über Nacht waren die Hilfsbedürftigen isoliert. Was wird die ungleich größere Klimakrise für die Schwachen bedeuten? Wir lernen, dass der Ausnahmezustand über Nacht zum Alltag werden kann. Und dann kann es ganz schnell nur noch um das nackte Überleben gehen. Und wenn es nur noch um das nackte Überleben geht, dann werden die Schwächsten zuerst über die Klinge springen. Oder? Vielleicht geht es auch ganz anders? Aus einer in Trümmern liegenden Gesellschaft könnte endlich, endlich die Umkehrung erwachsen: Wir würden lernen, dass die Schwachen zum Maßstab für das Wohl der Menschen werden. Wir würden begreifen, dass die aufgeblasene Herrschaft von Geld, Konkurrenz und Macht an ihr Ende gekommen ist. Schluss wäre dann mit der hochgerüsteten Zerstörung: Feiern wir den Grashalm, der durch den Beton bricht. Jetzt, mit und nach Corona, können wir uns vorstellen, wie eine Welt aussieht, die in Trümmern liegt. Jetzt, mit und nach Corona, müssen wir über die Alternativen nachdenken und auf diese Alternativen hoffen. Jetzt kann es heißen: die Schwachen zuerst. Sie weisen uns die Richtung. Sie sind das Fieberthermometer, sie sind vielleicht Kassandra und Rettung zugleich. Der Lockdown stellt uns ruhig. Der Lockdown lähmt uns. Der Lockdown ist die Stunde der musischen Schwäche. Nicht die Stunde der Eroberer, sondern die Stunde der Gelassenen, die Stunde des Unterlassens, die Stunde der Stille und der Wehrlosigkeit.

Jonathan ist 29 Jahre alt, er lebt in Baden-Württemberg. Er arbeitet als Kommissionierer in einem Großhandelslager. Bei ihm wurde im Alter von sieben Jahren das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Die Pandemie konfrontiert ihn mit Veränderungen in seinem Alltag. Das ist schwer für ihn. Dass er nicht in sein Lieblingscafé gehen kann, bedauert er. Der Aufenthalt dort ist für ihn wie ein Training: Er kann Menschen um sich herum beobachten. Er lernt dort etwas über soziale Verhaltensweisen, die ihm fremd sind. Die Masken erschweren seinen Alltag. Er hatte mühsam gelernt, Gesichtsausdrücke zu interpretieren. „Besonders schwer fällt es mir, im Gesicht meines Gegenübers zwischen Ironie und Ernst zu unterscheiden.“ Die Maske erschwert für Jonathan die Orientierung erheblich. Die Abstandsregeln gefallen ihm – weil er Abstand lieber mag als Nähe. „Es erleichtert mich, dass während Corona niemand mehr von mir erwartet, dass ich ihm oder ihr die Hand gebe.“ Er hat permanent Angst, dass sich die Regeln wieder verändern. Als Asperger-Autist sehnt er sich nach Klarheit und Routine.2 Greta Thunberg, auch Asperger-Autistin ist unkonventionell, mit starkem Rückgrat und sie hat immer das Wesentliche im Blick. Das hat etwas mit ihrem Autismus zu tun – das hat sie selbst gesagt. Autismus kann gegen die soziale Magie, die uns jedem Unsinn zustimmen lässt, immun machen. Das, was uns am Herzen liegt, tritt dann in den Vordergrund und unwesentliche Plaudereien verschwinden.3 Das Leiden, das mit Autismus verbunden ist, ist damit nicht geleugnet. Aber auf die Schwachen fällt plötzlich ein anderer Blick.

Und das ist die „revolutionäre“ Kernthese dieses Buches: Die Schwachen sind nicht eine Randerscheinung, sondern das heimliche Zentrum einer Gesellschaft im radikalen Wandel. An ihnen können und müssen wir Maß nehmen für die Frage, wie es weitergehen soll. Sie wissen etwas, was die Starken, die Gesunden, die Planer, die Mächtigen, die Wissenschaftler erst lernen müssen. Revolutionär ist ein zu heftiges Wort? Nun, ursprünglich bezeichnet revolutio in der Astronomie den Umlauf der Himmelskörper.4 Versuchen wir es doch einmal mit dem Gedanken: Nicht die Schwachen sind es, die um uns kreisen und von uns beleuchtet werden. Vielleicht kreisen wir um die Schwachen und könnten uns von ihren Erfahrungen erhellen lassen? Nehmen wir Abstand von der Zwangsvorstellung der Starken, dass die Schwachen unser ständiges Entwicklungsprojekt sind. Neigen wir uns einmal nicht gnädig zu den Schwachen herunter, sondern beugen die Knie vor den Erfahrungen, den Sensibilitäten, den Kränkungen und den Leiden der Schwachen. Kreisen wir versuchsweise revolutionär um die Schwachen und nicht umgekehrt. Die Schwachen im Zentrum zu denken, das ist mit dem Versuch verbunden, die ganze Geschichte der Menschen umzudrehen und neu zu erzählen. Die Geschichte haben die Starken geschrieben. Der Jäger, der in der Tundra das Mammut mit der Lanze erlegt. Alexander der Große, der die Welt unterwirft, Otto Hahn, der die Kernspaltung entdeckt und die Kernchemie auf den Weg bringt … und immer so weiter. Heldengeschichte reiht sich an Heldengeschichte. Die Schwachen haben im Unsichtbaren überlebt, sich am Rande versteckt, Überlebensmittel gefunden, Verfolgungen und Misshandlungen erlitten oder sind entkommen auf selbstgebahnten Pfaden in einer Welt, die sich gewohnheitsmäßig in Heldengeschichten spiegelt. Unsere Sprache ist eine, in der die Schwachen systematisch marginalisiert sind. Geschichte wird von den Starken gemacht, für die Geschichte der Schwachen gibt es kaum Bilder und Begriffe. Eine erst noch zu schreibende Geschichte der Schwachen müsste zunächst einmal feststellen, dass sie von den Worten, Bildern und Gleichnissen der Helden überkrustet ist. Unter den dunklen Wolken der Coronapandemie erleben wir, dass die Starken stärker und die Schwachen schwächer werden. Man muss den Bogen weit spannen: Er reicht von den vielen Alten, die im Coronalockdown von allem abgeschnitten sind (von ihren Kindern, den Zimmernachbarn, den Gemeinschaftsveranstaltungen) bis zu den „dinkers“, den Menschen, die – zum Beispiel in Swakopmund (Namibia) – auf Müllhalden nach Essbarem suchen, weil der Lockdown ihnen ihre Tagelöhnerjobs unmöglich gemacht hat.

Die Schwachen zuerst

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