Читать книгу Die Schwachen zuerst - Reimer Gronemeyer - Страница 9
Aufkündigung einer Übereinkunft
ОглавлениеEin Konsens zerbricht. Der französische Wissenschaftler Bruno Latour hat das auf den Punkt gebracht: „Alles spricht dafür, dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen (heute recht vage als „Eliten“ bezeichnet) zu dem Schluss gelangte, dass für ihn und für den Rest der Menschen nicht mehr genügend Platz vorhanden sei.“5 Darum ist es nutzlos, so zu tun als strebe man weiterhin einem gemeinsamen Horizont zu, an dem eine neue Zeit winkt, in der alle Menschen in gleichem Maße zu Wohlstand kommen würden. Konsequenterweise werden der hungernde Bauer in Malawi und die chronisch kranke Frau in Zukunft wohl immer weniger Schutz genießen. Wenn man Bruno Latours Prognose folgt, dann wird die Übereinkunft, dass es eine gemeinsame Sorgeverantwortung für die Schwachen gibt, morgen oder übermorgen in Frage stehen. Für die Frau im Rollstuhl. Für die Obdachlosen. Für verwirrte alte Menschen. Die Sorgeverantwortung gilt dann auch nicht mehr für den afrikanischen Bauern auf seinem verdorrten Acker, für Kinder aus Kriegsgebieten, für Hungernde und Geflüchtete. Diese Sorge erwuchs bei uns in Europa aus christlichen Orientierungen. Der Nachhall dieser Orientierungen hat unsere Kultur und unser Lebensgefühl lange bestimmt. Eine wilde Hoffnung, die von der lokalen Sozialpolitik bis zur globalen Entwicklungshilfe versprach, dass es allen besser und besser gehen solle. Dieses Welt-Verantwortungsbewusstsein verflüchtigt sich vor unseren Augen. Die Menschen, die in dreckigem Wasser, in verseuchter Luft, unter löchrigen Dächern zu überleben versuchen, werden aufgegeben. In ihren Flüchtlingslagern am Rande Europas können sie im Schlamm versinken. Auf Lesbos mussten im Dezember 2020 kleine Kinder gegen Tetanus geimpft werden, weil in dem neuen Lager (nachdem Moria abgebrannt war) die Zelte oft im Wasser stehen und die Kinder von Ratten gebissen werden.
Wann es auch die Frau im Rollstuhl bei uns erwischt oder den dementen Greis – das ist eine Frage der Zeit, die davon abhängt, wie dramatisch die Krise wird. In Pflegeheimen, bei den „Tafeln“, bei Hartz-IV-Kindern ist die Marginalisierung schon jetzt überdeutlich.
Mitten in der Coronapandemie weigern sich im März 2020 die reichen europäischen Staaten, die krisengeschüttelten Länder des europäischen Südens zu unterstützen. Mit einem offenen Brief appellieren italienische Politiker an Deutschland, („Cari amici tedeschi“, liebe deutsche Freunde), den europäischen Süden zu unterstützen. 30 Jahre lang sei die Wirtschaft das Einzige gewesen, was in der EU gezählt habe, jetzt sei es an der Zeit, das politische, kulturelle und menschliche Europa sichtbar zu machen. Der Appell verhallt erst einmal, die Starken bleiben zögerlich, rücken ein paar Kredite heraus. Gleichzeitig nutzt der amerikanische Präsident Trump die Coronakrise dazu, Umweltauflagen für die amerikanische Industrie zu kippen. Die Krise – die Coronakrise, die Klimakrise, die Wirtschaftskrise – wird die Starken stärken und die Schwachen noch weiter abstürzen lassen. Nach der Coronakrise wird alles grausamer sein. Es ist eine einzigartige Gelegenheit, die Kleinen und die Schwachen endgültig zum Verschwinden zu bringen. Während in Indien die Ausgangssperre dazu führt, dass Arme, die ihre Hütte nicht verlassen dürfen, verhungern, bauen sich reiche Eliten Rückzugsgebiete aus. Die Coronakrise verstärkt den Trend Wohlhabender, sich in gated communities zurückzuziehen, hinter Stacheldraht, videoüberwacht, im privaten Hochsicherheitstrakt. In der Coronakrise lassen sich amerikanische Eliten per Hubschrauber auf ihre Yachten oder in ihre Ferienhäuser am Meer bringen. Haushaltshilfen (coronagetestet) und alles, was man so braucht zum Essen und Leben, wird vom Helikopter gebracht. „Rette sich wer kann!“ ist die Devise. Ivanka Trump hat sich jüngst ein Haus in der Nähe von Miami gekauft: Auf der Halbinsel stehen 29 Villen, 13 Polizisten bewachen das Areal, das im Volksmund Milliardärs-Bunker genannt wird.6 Auch eine Art Lockdown. Am deutlichsten wird die neue Rücksichtslosigkeit in der Vorstellung einiger Superreicher, sie könnten dem Sumpf des ruinierten Planeten entfliehen, indem sie sich, wenn hier Schluss ist, mit Raketen in ein planetarisches Exil retten – auf irgendeinen neuen Planeten vielleicht. Es ist ein irrsinniger Plan, aber ein interessantes Gedankenexperiment, das kein Geringerer als Stephen Hawking zuerst propagiert hat. Elon Musk, der Tesla-Chef, will 2024 eine erste bemannte Raumfähre zum Mars schicken, um dort eine Stadt für eine Million Menschen zu bauen. In erster Linie für Personen, die sich das leisten können.7 In all dem wächst das Phänomen der Verabschiedung von der Idee der Gemeinschaft und der Verantwortung: Die Menschen auf der Flucht, die Hungernden, die Schwachen werden nicht mehr wahrgenommen als eine Aufgabe für die, die besser dran sind. Auch da hat die Coronakrise die Richtung gezeigt: Mit unfassbarer Geschwindigkeit wurden in Deutschland, Österreich und Frankreich Triagekonzepte ausgearbeitet: Wer kriegt ein Beatmungsgerät und wer nicht? Die Schwachen haben das Nachsehen. Und weltweit sind Prozesse der Absage an gemeinsame Verantwortung zu beobachten: Jait Bolsonaro, der brasilianische Präsident, lässt den Amazonas-Urwald abfackeln. Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, bleibt erbarmungslos gegen minderjährige Flüchtlinge in den Lagern an seinen Grenzen. Wir gewöhnen uns vielleicht zu schnell daran: Dass die Hoffnung zerstört wird – die Hoffnung, dass Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit eines Tages die Welt durchsäuert haben werden. Die Hoffnung, dass der Hunger aufhört und Ungerechtigkeit ausgelöscht sein wird, hat über uns geschwebt. Diese Hoffnung ist zur Illusion degradiert, sie ist abgestürzt und das damit verbundene Lebensgefühl zerbrochen.