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Der „Wastl“ geht studieren
ОглавлениеJeder Mensch hat seine Fähigkeiten und Talente. Aus dem kleinen Wastl war inzwischen ein 13-jähriger Bub geworden, hochaufgeschossen, eher schwächlich gebaut. Er stotterte und besondere Talente zeigte er auch nicht; jedenfalls hielt man seinen jüngeren Bruder Hans für wesentlich talentierter. Was sollte also aus dem Wastl werden? Es fehlte ihm das Interesse und die Freude an der Bauernarbeit, also schied er als zukünftiger Hoferbe aus. Blieb noch die Möglichkeit, als Geschäftsmann in die Fußstapfen des Vaters zu treten, der es vom Wanderhändler zum Fabriksteilhaber gebracht hatte. Aber dazu fehlte dem Buben das kaufmännische Verständnis. Was tun?
Gerne beschäftigte sich Wastl mit Büchern und Landkarten – Lesen war seine Leidenschaft und Ministrant sein seine Passion.
Es war im Jahr 1880. Da kam eines Tages der Pfarrer des Weges. Wie überall am Lande, war der Pfarrer unbestritten die angesehenste Persönlichkeit im Ort, daher erzählte ihm die Mutter von ihren Sorgen. Da machte der Seelsorger jenen Vorschlag, der das Leben des jungen Sebastian Rieger in neue Bahnen lenkten sollte:
„Lasst ihn doch studieren!“ Die Mutter war gänzlich überrascht und doch irgendwie erwartungsvoll: „Auf Pfarrer studieren?“ Dazu muss man wissen: Im Volksmund nennt man vielfach jeden Geistlichen einen Pfarrer. Und für jemanden, der vom Land zum Studieren in eine Stadt ging, war es damals in Tirol sozusagen eine Selbstverständlichkeit, dass er Geistlicher werden wollte, es sei denn, dass er der Sohn eines Beamten oder eines Arztes war.
„Warum nicht? Aus ihm könnte durchaus ein guter Priester werden und finanziell könnt ihr euch sein Studium wohl leisten.“
Es bedurfte nun keiner allzu langen Überlegungen mehr, und es stand fest: Der Bub geht studieren! Dem Vater gefiel die Vorstellung und auch die Mutter verhehlte nicht ihre Freude. Der Wastl war auch Feuer und Flamme und konnte es kaum erwarten, in die Welt hinauszukommen.
Für Osttiroler war es in jenen Jahren beinahe selbstverständlich, in Brixen zu studieren. Nur ganz wenige Buben wurden nach Bozen, Innsbruck oder Hall geschickt. In Brixen standen zwei Gymnasien zur Auswahl: Bereits seit langer Zeit existierte das Kassianeum, ein geistlich geführtes Internat, dessen Zöglinge das Staatsgymnasium in Brixen besuchten, wo Augustiner-Chorherren aus dem nahen Kloster Neustift unterrichteten. Diese alte Domschule war eine erfolgreiche Ausbildungsstätte und konnte auf eine altehrwürdige Geschichte zurückblicken, die bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht.
Die Entscheidung fiel aber dann doch zu Gunsten des Vinzentinums, das erst kürzlich eröffnet worden war und dessen Name auf den Erbauer Fürstbischof Vinzenz Gasser zurückgeht. Dieses diözesane Knabenseminar, das Gymnasium und Internat unter einem Dach vereinigte, verdankte seine Errichtung dem Priestermangel jener Zeit.
Bis dorthin hatten die öffentlichen Gymnasien Tirols und Vorarlbergs für den regelmäßigen Nachschub an Priesteramtskandidaten in der Diözese Brixen gesorgt. Doch seit den 1850er-Jahren konnten die neu ausgebildeten Neupriester die Zahl jener, die durch Tod, Krankheit oder Alter ausgeschieden sind, nicht mehr voll ersetzen. 1872 waren von 999 geistlichen Planstellen 92 wegen Priestermangels nicht besetzt (auch Vorarlberg gehörte damals zur Brixner Diözese). Fürstbischof Vinzenz Gasser sah den Hauptgrund für diese Entwicklung in den liberalen Tendenzen, die sich an den Schulen jener Zeit ausbreiteten. 1867 kamen die neuen Schulgesetze dazu: Bis dahin war die Schulaufsicht in den Händen der Kirche gelegen, die natürlich Wert auf eine katholische Formung der Jugend gelegt hatte und dabei auch von den Lehrern unterstützt worden war. Aber der politische Wind hatte sich schon seit einiger Zeit gedreht.
In Wien kam eine liberale Regierung an die Macht, die ein neues Staatsgrundgesetz nach liberalen Grundsätzen erließ. Eines der Ziele war, die Macht des Adels und der Kirche zu brechen, dazu gehörte auch, den Einfluss der Kirche im Schulbereich zurückzudrängen. Deshalb übernahm nun der Staat die Schulaufsicht. Der Kirche blieb nur noch der Religionsunterricht.
Nun war für den Fürstbischof Feuer am Dach, denn er musste damit rechnen, dass der Jugend in Zukunft keine christlichen Wertvorstellungen mehr vermittelt würden, dafür aber liberales, antiklerikales Gedankengut Einzug hält. Als Folge würde der Priesternachwuchs noch weiter zurückgehen. Vinzenz Gasser war in allem ein Mann der Tat. Daher wollte er nicht mehr länger zuwarten und auf eine unsichere Zeitenwende hoffen. Von 1873 bis 1876 ließ er ein Knabenseminar mit Gymnasium errichten, das den Priesternachwuchs fördern und der Diözese gute Seelsorger in ausreichendem Maße bringen sollte. Damit auch Laien christliches Gedankengut in die Welt hinaustrügen, war das Vinzentinum von Anfang an auf ausdrücklichen Wunsch des Fürstbischofs auch für solche geöffnet, die nicht den Priesterberuf ergreifen wollten.
Das Vinzentinum erfüllte über Jahrzente für ganz Tirol und Vorarlberg die ihm gestellte Aufgabe bis nach dem Ersten Weltkrieg. Ab 1926 durfte aber das Vinzentinum auf Befehl der Faschisten keine Schüler mehr aus Nordirol und Vorarlberg aufnehmen. Damit war dieser nördliche Teil der Diözese von der Brixner Ausbildungsstätte abgeschnitten. Aber der Salzburger Fürsterzbischof Sigismund Waitz als für Nordtirol und Vorarlberg zuständiger Oberhirte – ein gebürtiger Brixner und Freund Reimmichls – reagierte sofort, erwarb die ehemalige Landesschützenkaserne in Schwaz und baute sie zum Knabenseminar Paulinum um. Der Betrieb begann dann mit 202 Schülern. Übrigens: Der Name Paulinum geht auf einen Wunsch von Fürsterzbischof Waitz zurück, der für den Völkerapostel Paulus besondere Bewunderung und Verehrung zeigte.
Reimmichl verbrachte insgesamt dreizehn Jahre in Brixen: Acht Jahre am Gymnasium Vinzentinum, anschließend vier Jahre im Priesterseminar und fünf Jahre später noch einmal ein Jahr, als er 1898 die Zeitungsredaktion der „Brixner Chronik“ und des „Tiroler Volksboten“ übernehmen musste. Jugendjahre bleiben oft besonders stark in Erinnerung und man wird unschwer verstehen, dass das alte Städtchen am Eisack in Reimmichls Herzen besonders tiefe Wurzeln schlug – ja ihm zur zweiten Heimat wurde.
Brixen war zu Reimmichls Gymnasialzeit eine Kleinstadt mit rund 5000 Einwohnern (heute 22.000). Vom Dombezirk aus im Zentrum erreichte man den Stadtrand bereits nach wenigen hundert Schritten. Auch andere Tiroler Städte waren damals noch recht bescheiden; Innsbruck zählte 35.000 Einwohner, Bozen 18.000, die heutige Millionenstadt München entsprach mit 270.000 Einwohnern der heutigen Größe von Graz.
Der Brixner Talkessel ist uraltes Siedlungsgebiet. Archäologische Funde im kleinen Weiler Melaun oberhalb der Stadt gaben sogar einem Zeitabschnitt im Alpenraum vor 3300 Jahren den Namen: die Laugen-Melaun-Kultur. Die Stadt Brixen – sie ist die älteste Stadt Tirols – wird erst später greifbar, aber immerhin bereits im 5. Jahrhundert v. Chr.: Vor zwei Jahrzehnten wurden am Domplatz in vier Metern Tiefe Reste einer Hütte aus jener Zeit freigelegt.
In der Tradition der Stadt gilt der 13. September 901 als Gründungsdatum. Damals schenkte König Ludwig das Kind dem Bischof von Säben einen großen Gutshof in Prihsna (Brixen), der dann dem hl. Bischof Albuin die materielle Grundlage dafür bot, den Bischofssitz um das Jahr 990 von Säben/Klausen nach Brixen zu verlegen. Fast 1000 Jahre war Brixen Bischofssitz, ehe es 1964 zur Neuordnung der Diözesangrenzen kam und der Bischof nach Bozen übersiedelte. Die legendäre Überlieferung berichtet, dass der hl. Kassian dieses Bistum noch in spätrömischer Zeit gegründet haben soll; auf jeden Fall ist dann der hl. Ingenuin 579 der erste geschichtlich belegte Bischof auf Säben.
Die Heiligen Ingenuin und Albuin sind heute Diözesanpatrone von Bozen-Brixen (Gedenktag ist der 5. Februar); der hl. Kassian als dritter Patron wird jedes Jahr am zweiten Sonntag nach Ostern mit der weitum bekannten Kassianiprozession geehrt. Diese Prozession war damals, als Reimmichl das Vinzentinum besuchte, einer der jährlichen Höhepunkte im Leben der Stadt und wird auch heute noch mit großem barockem Aufwand begangen. Alle drei Heiligen stehen als überlebensgroße Statuen über dem Eingang zum Brixner Dom.
Der Brixner Dom, durch 1000 Jahre kirchliches Zentrum der Diözese Brixen.
(Foto: Herzog)
Vor 1926 reichte die Diözese Brixen im Süden bis Klausen, im Westen umfasste sie Vorarlberg, im Norden ganz Nordtirol westlich des Zillers, im Osten ging sie bis an die tirolisch/kärntnerische Grenze. Bis zur Entstehung der Grafschaft Tirol im 13. Jahrhundert waren die Fürstbischöfe über 300 Jahre hinweg die einzige nicht nur geistliche, sondern auch politische und kulturelle Kraft im Lande. Auch wenn dann die weltliche Macht von den Tiroler Landesfürsten übernommen wurde, blieb die religiöse und kulturelle Ausstrahlung ungebrochen. Brixen war das geistige Zentrum Alt-Tirols. Die Ausbildung der Weltpriester und die höhere Ausbildung eines nicht geringen Teils der Jugend vollzogen sich seit dem Mittelalter in Brixen.
Als Reimmichl am 14. September 1880 in Brixen ankam, sah er zuerst einmal nicht viel von der altehrwürdigen Bischofsstadt, denn sowohl der Bahnhof als auch der mächtige Bau des Vinzentinums lagen damals noch vor der Stadt.
Schüchtern betrat der Bub aus dem Defereggental das riesengroße Gebäude, das ihm nun für acht Jahre Heimat werden sollte. Wie begeistert war der Wastl damals, als man ihm eröffnete, dass er studieren dürfe. Jetzt aber, in der Bischofsstadt angekommen, fand er sich nicht leicht zurecht. Reimmichl erzählte später, wie es ihm, dem scheuen, unbeholfenen Bübl aus dem hintersten Tal, die erste Zeit erging: Bisher war der heimatliche Kirchturm das größte Weltwunder, hier aber schien ihm alles so riesengroß und unbekannt und oft genug blieb ihm der Mund offen vor Staunen. Immer wieder blieb er stehen, um den noblen Damen und Herren nachzusehen und sich über die Mode zu wundern.
Im Vinzentinum selbst wollte es dem Wastl anfänglich nicht gefallen. Das Haus war ihm viel zu groß und in den ersten Tagen verirrte er sich mehr als einmal in den zahlreichen Stockwerken und Gängen. Zu Hause hatte man dem Wastl eingeschärft, er müsse immer freundlich und höflich sein: „Bevor man ein Zimmer betritt, nimmt man den Hut ab und klopft an!“ Der Wastl nahm das wörtlich, auch dann, wenn er z. B. das Klassenzimmer, den Speisesaal oder das Studierzimmer betrat. Warum man in der Klasse nicht den Rock ausziehen darf, sah er auch nicht ein. Auch die einheitliche Schulkleidung war nicht nach seinem Geschmack.
In diesen ersten Tagen drückte es ihm schwer aufs Herz, in der Fremde zu sein. Damals lernte er zum ersten Mal das Heimweh kennen. Als er dann glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, beschloss er ins Defereggental zur Mutter heimzukehren. Sie würde ihn schon verstehen. Um nicht aufzufallen, schien ihm Mitternacht der geeignete Fluchtzeitpunkt zu sein. Er schlich auf leisen Sohlen aus dem Schlafsaal und durch die Gänge dem Ausgang zu. Der Wastl hatte aber nicht mit dem großen Haushund gerechnet, der im Hof seinen Platz hatte und sofort anschlug und sich mit gefletschten Zähnen dem jungen Ausreißer näherte. Dem Wastl fiel das Herz in die Hose, er machte kehrt und legte sich wieder unbemerkt ins Bett.
Das Knabenseminar Vinzentinum in Brixen (Blick von Süden), benannt nach dem Erbauer Fürstbischof Vinzenz Gasser. Hier verbrachte Reimmichl die Gymnasialjahre.
(Foto: Schlern 47/1973)
Der alte Reimmichl erzählte später öfters schmunzelnd, dass er seinen Priesterberuf neben der Vorsehung einem Hund verdanke.
Nach diesem nächtlichen Fehlschlag stürmten aber immer mehr neue Eindrücke auf den jungen Studenten ein. Die Schule und das Treiben im Internat ließen für trübe Gedanken bald keinen Platz mehr. Von nun an drehte sich das Leben im Vinzentinum um zwei Brennpunkte: Den einen bildete das Heim mit seinen Vorgesetzten, der strikten Zeiteinteilung und dem regelmäßigen Wechsel von Studium und Erholung, den anderen die Schule mit den zahlreichen Unterrichtsfächern und Professoren.
Das Studieren machte dem Wastl viel Freude. Zwar zeigte sich noch öfters seine anfänglich unbeholfene Art, wenn er etwa nicht nur an den Fingern, sondern auch auf den Wangen und der Nase schwarze Spuren hatte. Das kam daher, dass er den Umgang mit Feder und Tinte bisher nicht gewohnt war. Auch sein Stottern brachte ihm so manchen Spott ein. Sein Mitschüler Georg Harrasser erzählt: „In den ersten Studienjahren litt Wastl an einem Sprachfehler, er stotterte arg. Am ärgsten, wenn er in der Schule geprüft wurde, ohne gut vorbereitet zu sein. Da ließ ihn dann manchmal der Professor in Gnaden laufen oder trug selbst vor, was der Schüler hätte sagen sollen.“ Aber bald erkannten die Mitschüler, dass Wastl vielen an Wissen überlegen war und bei allem Fleiß, den er an den Tag legte, für jeden Spaß zu haben war. Er wurde zu einem beliebten und geschätzten Mitschüler.
So ein großes Haus wie das Vinzentinum war vorübergehende Heimat von Buben aus allen Teilen des Landes. Und so machte der Wastl bald deutsch-, ladinisch- und italienischsprachige Bekanntschaften. Dazu hörte er noch verschiedene Dialekte wie jenen der Vorarlberger, der ihm überhaupt unverständlich blieb. Es war die reinste babylonische Sprachenverwirrung.
Auch mit einem Buben aus Steinach am Brenner namens Ferdinand Plattner – er wurde Nante bzw. Nant gerufen – kam der Wastl ins Gespräch. Aus dieser ersten Begegnung entwickelte sich eine dicke Freundschaft, die bald üble Früchte tragen sollte. Und das kam so:
Während der Studierzeit wollte der Nant dem Wastl das Bauchreden lehren. Darüber lachte die ganze Klasse. Als der Präfekt, der die Aufsicht führte, den Nant als Missetäter ausfindig gemacht hatte, nahm er ihn mit ins Nebenzimmer, aus dem man umgehend ein Sausen durch die Luft und einen Schlag hörte. Wastl sagte dazu: „Jetzt hat’s eins geschlagen.“ Wieder allgemeines Gelächter. Der Präfekt erschien: „Was gibt’s da?“ „Der Wastl hat gesagt, jetzt hat’s eins geschlagen“, verriet ein lieber Mitschüler. „So, so“, bemerkte der Präfekt, „komm nur, Wastl, dann lassen wir’s gleich zwei schlagen.“ Der Wastl wankt dem Gestrengen nach und bald tanzt der Rohrstock zweimal auf seine ausgestreckte Handfläche. Das war die Feuerprobe der edlen Freundschaft und sie wurde infolgedessen noch enger. Der Wastl und der Nant saßen in der letzten Bank links außen. Da die beiden aber als notorische Ruhestörer galten, wurden sie bald getrennt. Diese Maßnahme in Verbindung mit so mancher Strafaktion brachte langsam Einsicht und Besserung.
Die Freude an harmlosen Streichen und so manchen Schabernack blieb den beiden aber ein Leben lang erhalten. Einer der Streiche des erwachsenen Nant hätte aber beinahe böse geendet. Und das kam so: Nant bzw. Ferdinand Plattner wurde wie Reimmichl ein volksverbundener Priester und beschäftigte sich eingehend mit Heimat- und Volkskunde. Er leitete die Krippenbauschule in Sarns bei Brixen und gilt heute als Vater der Südtiroler Krippe. Als er zu Weihnachten 1944 wie jedes Jahr die Krippe aufbaute, stellte er in den Stall nur Ochs und Esel hinein. Als er gefragt wurde, wo denn die Heilige Familie geblieben sei, antwortete er, dass diese heuer vor den Nationalsozialisten geflohen sei und dass nur Hitler und Mussolini bei der Krippe geblieben wären. Die Folgen dieser Erklärung waren fatal: Er wurde angezeigt und zu fünf Jahren Kerkerstrafe verurteilt, die er allerdings wegen des Kriegsendes nicht mehr antreten musste.
1899 schrieb Reimmichl im „Tiroler Volksboten“ in Erinnerung an den Freund und die gemeinsame Jugendzeit die Fortsetzungsgeschichte „Der Nant“, die später auch als Buch in zahlreichen Auflagen erschien. Die Leser waren begeistert und warteten ungeduldig auf die Fortsetzungskapitel. Als Reimmichl diese Geschichte dann für mehrere Nummern unterbrach – er hatte die Fortsetzung noch nicht geschrieben –, erhielt er beinahe tagtäglich Anfragen, was denn aus dem Nant geworden sei und wie es weitergehe, und so entschloss er sich, mit der Geschichte ohne Unterbrechung fortzufahren und sie zum Ende zu bringen.
Der Wastl war kein Musterschüler, aber er zählte zu den guten und lernte viel im Vinzentinum. Reimmichl konnte – da staunen gewiss heutige und ehemalige Lateinschüler – in der Sprache Ciceros und Cäsars nicht nur Aufsätze schreiben, sondern sogar sprechen! Auch anmutige lateinische Verse gingen ihm leicht von der Hand. Und doch, „Deutsche Sprache und Literatur“ war neben Geschichte und Geografie sein Lieblingsfach. Im deutschen Reimen hatte er zu Beginn allerdings seine Schwierigkeiten, da flossen die Zeilen nur zäh aus der Feder. Aber im Laufe der Zeit legte sich der Wastl eine reichhaltige Sammlung an Reimwörterpaaren an und nun flossen die Gedichte wie eine sprudelnde Quelle. Bereits als Gymnasiast versuchte er sich an Novellen und Dramen, die bereits ein gewisses Talent erkennen ließen.
Seine Aufsätze zeigten von Anfang an Phantasie und Stilsicherheit, sodass sie – wie Mitschüler berichteten – oft als beispielhaft vorgelesen wurden. Dieses Talent wurde sicher auch dadurch gefördert, dass er gern und viel klassische und moderne Literatur las. Dieses viele Lesen, auch bei ungünstigen Lichtverhältnissen, denn es gab noch kein elektrisches Licht, forderte seinen Tribut. Die Sehkraft ließ zu wünschen übrig und der Wastl brauchte Brillen, an die er sich nur langsam gewöhnte.
Viel Schweiß hat dem Wastl die Rechenkunst und die Mathematik gekostet. Kurz gesagt, er stand mit ihr auf Kriegsfuß, was ihm so manchen Sechser einbrachte – das entsprach damals dem heutigen Fünfer. Sprachen hingegen machten dem jungen Studenten Freude, nicht nur Latein und Griechisch. Er lernte auch Französisch und Italienisch. Italienisch sprach er recht gut, immerhin wurde im südlichen Tirol (Trentino) Italienisch gesprochen. Auch war es ihm von Nutzen, als ihn später mehrere Reisen nach Italien führten. Französisch brach er allerdings bald wieder ab.
Dann kam die Zeit – die ersten Barthaare sprossen schon –, als der Wastl mit dem fernen Amerika in Berührung kam, wenn auch nur in Form von Zigarren aus Puerto Rico. Der erste Versuch, sich an köstlichem Rauch zu erfreuen, endete kläglich mit Erbrechen und Durchfall. Trotzdem erlernte er später doch noch das Rauchen und es wurde zu seinem größten Laster.
In den Ferien daheim ließ es sich der Wastl gut gehen. Man sah ihn kaum jemals bei der Heuarbeit oder im Stall. Für den Bauernstand aber zeigte er lebhaftes Interesse, für bäuerliche Sitten und Gebräuche, für die wirtschaftliche und soziale Lage der Landwirtschaft. Lesen, Gitarre spielen und singen, ab und zu eine Wanderung zu Marienwallfahrten in der näheren und weiteren Umgebung oder die Besteigung eines Joches brachten ihm Erholung. Jeden Dienstag fand in einem Gasthaus das Treffen der Deferegger Studenten statt. Dabei übernahm oft Reimmichls Vater die ganze Zeche.
An einem selten klaren Augustmorgen des Jahres 1884 erlebte Reimmichl am Gipfel des Großglockners einen überwältigend schönen Sonnenaufgang. „Weder vorher noch später habe ich jemals so etwas Großes gesehen.“
(Foto: W. Mair)
Ein Sonnenaufgang am Gipfel des Großglockners prägte sich tief in das Gemüt und die Erinnerung des damals Siebzehnjährigen ein. Dieses unvergessliche Naturschauspiel weckte in Reimmichl eine leidenschaftliche Liebe zur Heimat, zum Land Tirol. Noch im hohen Alter erzählte er von jener beglückenden Morgenstunde auf dem Gipfel. Von daher rührte auch seine heiße Liebe zu den Bergen, die in vielen seiner Geschichten beredten Ausdruck findet.
Nach acht Jahren Freud und Leid, Erfolgen und Misserfolgen, erlebter Geselligkeit und Kameradschaft trat Wastl im Frühsommer 1880 zur Reifeprüfung an: In Deutsch „vorzüglich“, in den Sprachen je ein „sehr gut“. Nur die Mathematiknote verhinderte ein Vorzugszeugnis. Er durfte aber zufrieden sein. Aus dem schüchternen Bübl aus dem hintersten Tal war ein junger Mann geworden, der sich zwar noch immer in Bescheidenheit übte, aber gleichzeitig wusste, was er wollte: Priester werden.
Man ging vom Kreuzgang „übers Brüggele“ zum Brixner Priesterseminar, einem Barockbau aus dem Jahre 1771.
(Foto: Herzog)
Östlich des Brixner Dombezirks, jenseits des Kreuzganges, floss früher die Wier (= Wehr, aufgestautes Wasser), ein Nutzwasserkanal, der – vom Eisack gespeist – unterhalb von Vahrn begann und an dessen Ufern Müller, Schmiede, Gerber u. a. ihrem Gewerbe nachgingen. Über diesen Kanal führte eine schmale Brücke (Brüggele). Wollte man nun vom Dombezirk zum Priesterseminar, musste man über selbiges gehen. Im Volksmund sagte man daher von jemandem, der ins Priesterseminar eingetreten ist, dass er „übers Brüggele“ gegangen wäre.
Die Frage, welchen Beruf er ergreifen sollte, bereitete Reimmichl nach der Matura kein Kopfzerbrechen. Der Wunsch Priester zu werden war in ihm während der acht Jahre im Vinzentinum stetig gewachsen und gereift, und so beschritt er im Herbst 1888 in voller Überzeugung, den richtigen Schritt zu tun, den Weg „übers Brüggele“ ins Priesterseminar, wo er mit den meisten seiner Klassenkameraden wieder zusammentraf.
Bis zum Ersten Weltkrieg zählte das Brixner Priesterseminar zu den berühmtesten Theologischen Lehranstalten des ganzen Habsburgerreiches. Gleichzeitig galt es als ein Bollwerk gegen Liberalimus und wurde zu der Zeit, als Reimmichl dort studierte, zur Hochburg christlichsozialer Ideen.
Das heutige Seminar steht auf den Fundamenten eines mittelalterlichen Hospizes, wurde 1771 als Barockbau errichtet und ist mit wertvollen künstlerischen Arbeiten ausgestattet. Joseph Ratzinger ist dem Seminar seit vielen Jahren eng verbunden. Zehnmal verbrachte er als Kardinal und einmal als Papst seinen Sommerurlaub im Brixner Priesterseminar.
Bis 1938 war das Brixner Seminar die Bildungsstätte auch für die Nordtiroler Anwärter, ehe ihnen diese Möglichkeit auf Grund der politischen Verhältnisse genommen wurde und ihnen die Jesuiten im Innsbrucker Canisianum Aufnahme geboten haben. 1955 wurde dann in der Innsbrucker Riedgasse das neue Priesterseminar errichtet.
Das Theologiestudium betrieb Sebastian Rieger gewissenhaft und mit bestem Erfolg. Er blieb der tiefgläubige, lebensfrohe und gemütsvolle Wastl. Welterfahrene Professoren weiteten seinen Blick für die sozialen Probleme des Volkes, denn bereits zu dieser frühen Zeit hörten die Priesteramtskandidaten in Brixen sozialwissenschaftliche Vorlesungen.
Rieger brannte für seine kommende Aufgabe als Seelsorger, dabei sah er im aufstrebenden Tourismus eine Gefahr für Glaube und Sitte im Land. In jugendlichem Eifer lehnte er ihn weitgehend ab. Für eine seiner Probepredigten im Speisesaal des Priesterseminars wählte er das Thema „Fremdenverkehr“. Dabei zog er alle Register und schoss in der Verurteilung weit übers Ziel hinaus.
Dr. Franz Egger, der Regens und spätere Bischof von Brixen, rief den feurigen Prediger anschließend zu sich und fragte ihn, ob er auch draußen in der Seelsorge so zu predigen gedenke. Und nach einer kurzen Pause: „Herr Rieger, so geht das wohl nicht.“
Reimmichl erzählte in späten Jahren oft von dieser Episode und lachte über sein damaliges jugendliches Ungestüm, denn im Lauf der Jahre hat er sehr wohl erkannt, dass der Tourismus für Bevölkerung und Land auch viel Positives brachte.
Erinnerungsbildchen an Reimmichls Primiz.
(Foto: Reimmichlmuseum, Hall)
Mit Ernst- und Gewissenhaftigkeit bereitete sich Rieger auf die priesterlichen Weihen vor. Wegen seines höheren Alters – er begann seine Studien ja erst mit 13 Jahren – erhielt er Dispens und wurde noch vor Beendigung des Theologiestudiums am Peter-und-Pauls-Tag 1891 im Brixner Dom von Fürstbischof Simon Aichner in Anwesenheit seiner Eltern, Geschwister und einiger Verwandter zum Priester geweiht.
Am 8. Juli 1891 feierte der Neugeweihte in seiner Heimatkirche St. Veit in Defereggen seine Primiz. Es war ein großartiges Fest, von dem die Leute noch Jahrzehnte später redeten. Dass an nichts gespart werden musste und sich alle mitfreuen konnten, dafür sorgte ein stolzer Vater Rieger, der tief in seinen Geldbeutel griff.
Ehe der junge Priester nun in die Seelsorge entlassen wurde, musste er noch ein weiteres Jahr nach Brixen, um seine Studien abzuschließen.