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Glückliche Kindertage

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Johann und Maria Rieger führten eine gute und glückliche Ehe. Zum Leidwesen des Ehepaares blieb aber ihre Verbindung die ersten Jahre kinderlos. Endlich, nach langen sieben Jahren, trat das heißersehnte Ereignis ein: Ein Stammhalter und der vermeintlich zukünftige Bauer erblickte am Dienstag, den 28. Mai 1867 um vier Uhr nachmittags am Eggerhof das Licht der Welt. Doch das neue Glück war nicht ungetrübt. Der neue Erdenbürger kam zwei Monate zu früh und man fürchtete um das Leben des Siebenmonatskindes. Eine Frühgeburt bedeutete zu jener Zeit, als die Säuglingssterblichkeit ohnedies sehr hoch war, große Gefahr für das junge Leben. Noch mehr fürchtete man aber, dass ein Kind ungetauft sterben könnte. Deshalb packte man das Neugeborene in Windeln und Decken und trug es bereits zwei Stunden nach der Geburt den steilen Weg hinauf zur Kirche, wo es auf den Namen Sebastian getauft wurde.

Damals war es noch weit verbreiteter Brauch, ein Kind entweder nach einem nahen Verwandten oder auf den Namen des Taufpaten zu taufen. Da Sebastian Ladstätter den Taufpaten machte, erhielt der Riegerspross den Namen Sebastian; in der Umgangssprache war er der „Wastl“. Auch später, als er schon der berühmte Reimmichl war, nannten ihn seine engsten Freunde Wastl und so zeichnete er auch seine Briefe an sie.

Reimmichl stellte in seinen Erzählungen dem Leser gern das Idealbild eines Paten vor: Dieser soll ein gläubiger, rechtschaffener Charakter mit Vorbildwirkung sein. Nach katholischem Verständnis übernimmt der Pate ein Ehrenamt und die Mitverantwortung für die religiöse Erziehung; gleichzeitig ist der Pate Zeuge, dass der Täufling kraft des Sakraments in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen worden ist. Und dass sich der Pate um sein Patenkind kümmert, wenn es in eine Notlage kommt, ist selbstverständlich.

Um die Patenschaft gefragt zu werden, gilt noch immer als Ehre. Zwischen Patenkind und Pate besteht ein besonderes Verhältnis, eine geistige Verwandtschaft, der Pate wurde zum Gevatter, also zum Mit-Vater. Dieses besondere Verhältnis zeigt sich hierzulande heute noch bei der Hochzeit und im Tode: Der Taufpate erhält beim Hochzeitsmahl des Patenkindes einen Ehrenplatz an der Tafel und auf Partezetteln wird der Taufpate namentlich unter den Trauernden angeführt. Früher war diese geistige Verwandtschaft sogar ein kirchliches Ehehindernis.

In der oft langen Abwesenheit Vater Riegers hatte Reimmichls Mutter zwar die Hauptlast am Hof zu tragen, das Regiment führte aber die ersten Jahre der alte Rieger, Reimmichls Großvater. Ihm hatte sich auch die Mutter zu fügen. Und er war der Meinung, dass man Kinder nicht verwöhnen durfte, sonst würden sie verweichlicht. Diese Sicht bezog sich auch auf das Essen. Gerade hier aber hätte der kleine Wastl besonderer Fürsorge bedurft, schließlich musste er die zwei Monate, die er zu früh geboren wurde, aufholen.

Reimmichl war die ersten Jahre ein schwächliches und oft kränkliches Kind, was ihn aber nicht hinderte, sich mit allerlei Einfällen immer wieder in Gefahr zu bringen und die Nerven der Eltern zu beanspruchen. Seine Mutter erzählte später, als ihr Sohn schon ein berühmter Mann war, dass sie mit all den anderen Kindern zusammen, eigenen und angenommenen, nicht so viel mitgemacht habe wie mit dem Wastl allein.

Als kleines Kind konnte Sebastian am Abend nur mit großer Mühe zu Bett gebracht werden. War er einmal unleidlich oder ungehorsam, brauchte man ihm nur mit dem Bett drohen und schon war er der bravste Bub, denn ins Bett gehen müssen, war für ihn die ärgste Strafe.

Als der Bub fünf Jahre alt war, nahm ihn die Mutter zum Christi-Himmelfahrt-Fest mit in die Dorfkirche. Dort wurde – wie damals in Tirol üblich – die Himmelfahrt anschaulich dargestellt, indem eine Statue des Auferstandenen an einem Seil durch die Deckenöffnung, das sogenannte „Heilig-Geist-Loch“ hinaufgezogen wurde. Vier Engel umschwebten dabei den auffahrenden Christus. Nachdem der Herr verschwunden war, wurden die vier Engel wieder heruntergelassen. Als sie tief über der Kirchenbank schwebten, in der der Bub mit seiner Mutter kniete, sprang der kleine Wastl auf die Bank und fasste blitzschnell einen der Engel mit den Worten: „Der kommt mir nimmer aus!“ Die meisten Kirchenbesucher lachten, einige schüttelten missbilligend den Kopf.

Von der Strafpredigt, die ihm die Mutter am Heimweg von der Kirche gehalten hat, erzählte Reimmichl zur Erheiterung der St. Veiter Festversammlung anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft in bestem Deferegger Dialekt:

„Du damischer Bue, du schiacher, wie viel i mi heunt hon gschumbt, i hon mi gedenkt, es trifft mi der Schlog. Kirchen bische heunt s’löschte Mal gong und in Att’n tu i’s erscht a no schreib’n, wo du dir da heunt hoscht far a Gleichnisse gegeben!“ Die hochdeutsche Annäherung an diese Rede könnte lauten: „Du verrückter Bub, du schlimmer, wie sehr habe ich mich heute geschämt, ich habe mir gedacht, mich trifft der Schlag. In die Kirche bist du heute das letzte Mal gegangen, und dem Vater (Atte = Vater, Namme = Mutter, Nune = Großmutter) schreib ich es auch noch, wie du dich heute aufgeführt hast“.

Hochzeiten waren im Defereggen – wie überhaupt am Lande – mit viel Brauchtum verbunden. Wenn z. B. einer der geladenen Gäste zum Mahl ein Kind mitbrachte, wurde es im Volksmund „Hochzeitshund“ genannt. Als nun Reimmichls Tante Kreszentia den Thomas Prast heiratete, wurde auch der kleine Sebastian mitgenommen. Zum Gaudium der Hochzeitsgäste nahm der kleine Wastl die Bezeichnung „Hochzeitshund“ wörtlich und bellte immer wieder tapfer drauflos und kroch dabei am Boden herum, weil seiner Meinung nach ein Hund ja unter den Tisch gehört.

Dann war es so weit: Wastl wurde im Jahre 1874 Abc-Schütze und musste zur Schule. Der Eggerhof liegt ziemlich in der Mitte zwischen den Volksschulen des Hauptortes St. Veit droben am Berghang und der Fraktion Feld im Talboden. Beide Schulen sind jeweils eine halbe Stunde vom Elternhaus entfernt. Da aber der Weg nach St. Veit steil und im Winter lawinengefährdet war, wurden die Kinder von Inneregg nach Feld in die Volksschule geschickt. Es war eine einklassige, gemischte Schule mit etwa 50 Kindern. Als Klasse diente eine Stube des Wirtshauses von Feld, aber bereits im zweiten Schuljahr übersiedelte man in ein geräumigeres Holzhaus und in der dritten Klasse stand dann sogar ein eigenes Schulhaus zur Verfügung.


Der festlich geschmückte Hochaltar in der Pfarrkirche von St. Veit, in der Reimmichl getauft wurde und die Primiz gefeiert hat.

(Foto: G. Rosenkranz)

Das Schulwesen war damals gerade erst nach liberalen Vorstellungen neu geordnet worden. Das neue Volksschulgesetz war unter anderem auch eine Folge der verlorenen Schlacht von Königgrätz im Jahre 1866, denn man sah einen der Gründe für die verheerende Niederlage der Österreicher im weitverbreiteten Analphabetismus. Viele Soldaten konnten kaum lesen und schreiben, wodurch die militärische Ausbildung und Nachrichtenübermittlung verständlicherweise erschwert wurde.

1869 wurde der zukünftige Bildungsgang für Kinder festgelegt. Die allgemeine Schulpflicht wurde von sechs auf acht Jahre verlängert, die Schülerhöchstzahl pro Klasse auf 80 (!) beschränkt, was durchaus als Fortschritt empfunden wurde.


Schüler widmeten ihrem Lehrer Peter Oberwalder den Grabstein an der Kirchmauer von St. Veit. Diesem außergewöhnlichen Pädagogen bewahrte Reimmichl lebenslang ein dankbares Gedenken.

(Foto: Huber/Familienarchiv Hintner)

Die achtstufige Volksschule galt für ländliche Gebiete. In den Städten und größeren Gemeinden gab es nach der fünften Volksschulklasse die Möglichkeit, die dreiklassige Bürgerschule zu besuchen, wo Burschen und Mädchen nach unterschiedlichen Lehrplänen unterrichtet wurden. Dabei hatten Mädchen weniger Mathematik-, dafür mehr Handarbeitsstunden.

Es dauerte aber, bis sich die neuen Verordnungen überall durchgesetzt haben. Die Bauern rebellierten nämlich, weil ihnen durch die verlängerte Schulpflicht die Kinder als Arbeitskräfte entzogen wurden. Also kam es zu Ausnahmeregelungen, indem man auf dem Land die Länge des Schuljahres an den bäuerlichen Arbeitsablauf anpasste, d. h. das Schuljahr dauerte (nur) am Land von Oktober bis April/Mai (Winterschule), während der übrigen Monate standen die Kinder für die Feldarbeit und zum Viehhüten zur Verfügung. Den Lehrern und Lehrerinnen fehlte dabei oft die nötige Unterstützung durch die Gemeinde, denn Bildung hatte in der Bevölkerung nur einen geringen Stellenwert – folglich genossen Lehrer auch kein besonderes Ansehen.

Andere Regelungen wurden wiederrum für Industriebetriebe erlassen. Hier wurden eigene Fabriksschulen eingerichtet, die von den dort beschäftigten Kindern in den Arbeitspausen(!) besucht wurden. Kinderarbeit bis zum 14. Lebensjahr war dann offiziell ab 1895 verboten, setzte sich aber nur langsam durch.

Sebastian Rieger hatte mit der Schule in Feld einen Volltreffer gelandet. Er hatte das große Glück, in der Person des Peter Oberwalder einen herausragenden Lehrer zu bekommen. Eigentlich war dieser ein Kleinbauer, der aber Freude am Lehrfach hatte und sich nach den damaligen Vorschriften in einem Kurs von wenigen Wochen zum Lehrer ausbilden ließ und die Schule in Feld übernahm. Durch eifriges Lesen und durch Selbststudium erlangte er ein bedeutendes Wissen. Er war der geborene Pädagoge. Er vermittelte nicht nur Wissen, sondern behandelte die Schüler ganz nach ihren Anlagen und Fähigkeiten und konnte sie für den Lehrstoff begeistern.

Die Schule des Peter Oberwalder in Feld galt in den 1870er-Jahren als beste Volksschule des Bezirkes Lienz, obwohl sie nur einklassig geführt wurde. Immer wieder kamen Schüler aus Feld nach der fünften oder sechsten Stufe in Höhere Schulen und bestanden die Aufnahmeprüfungen ohne besondere Vorbereitung mit bestem Erfolg. Oberwalder legte großen Wert darauf, dass seine Schüler die deutsche Sprache nicht nur recht verstehen, sondern Texte auch mit Verständnis lesen konnten. Er führte sie in die Rechenkunst ein und machte sie auf die Geheimnisse der Natur aufmerksam. Er erzählte spannende Geschichten von fremden Ländern und Völkern. Sogar in die Lektüre von deutschen Klassikern weihte Oberwalder seine Buben und Mädchen ein.

Dazu erzählte Peter Feldner aus Hopfgarten in Defereggen, der spätere Dekan und Propst von Innichen: „Ich kann mich noch gut an jenen 18. August 1880 erinnern, als Sebastian Rieger und ich mit unserem Führer, Kooperator Ploner, unterwegs waren auf dem Weg nach Brixen zur Aufnahmeprüfung ins Gymnasium. Ploner und Rieger unterhielten sich dabei über Goethe und Schiller, über Adalbert Stifter und über die Bolandisten, alles Namen, die ich noch nie gehört habe, geschweige denn, dass ich etwas über ihr Leben oder ihre Werke gewusst hätte. Mich packten plötzlich Furcht und Entsetzen: Am besten drehe ich um, dachte ich mir, denn ich werde die Aufnahmsprüfung nie und nimmer bestehen.“ Es kam aber anders und die beiden drückten ab 14. September 1880 gemeinsam die Schulbank im Vinzentinum in Brixen.

In seinen späteren Erzählungen hat Reimmichl mehrmals seines geschätzten, außergewöhnlichen Lehrers gedacht und ihm so ein Denkmal gesetzt. Auch seine Schüler und Schülerinnen haben ihm über den Tod hinaus dankbare Erinnerung bewahrt. Einige haben ihm sogar den Grabstein gewidmet.

Das große Reimmichl-Lesebuch

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