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Lehr- und Wanderjahre
Оглавление1892 trat der 25-jährige Sebastian Rieger als Kooperator (= einem Pfarrer zugeordneter Geistlicher) der Dekanalpfarre Stilfes bei Sterzing seine erste Seelsorgsstelle an. Zu seinem Wirkungskreis gehörte auch die auf der anderen Talseite gelegene Marienwallfahrt Maria Trens. Dort war der junge Geistliche voll gefordert, denn Maria Trens war seinerzeit neben Absam der größte Wallfahrtsort Tirols. Er war das Ziel zahlreicher Kreuzgänge – benannt nach dem Kreuz, das einem Wallfahrtszug vorangetragen wurde. An diesen Bittprozessionen aus oft weit entfernten Gemeinden nahmen nicht selten hunderte Menschen teil. Manchmal war die Kirche so überfüllt, dass sich in der kälteren Jahreszeit an den Wänden dünne Wasserrinnsale bildeten. Stundenlang saß er nun im Beichtstuhl, denn der Pilgerstrom riss selten ab. Dazu kam, dass Maria Trens zu den beliebtesten Hochzeitskirchen des Landes zählte; die Paare kamen aus allen Teilen Tirols. Für viele war diese Reise nach Trens, vielleicht noch mit einem Abstecher nach Sterzing oder Brixen, gleichzeitig die Hochzeitsreise. Deshalb verwundert es nicht, dass in mehreren Reimmichl-Geschichten Brautpaare den Bund fürs Leben in Maria Trens schließen.
Im Beichtstuhl lernte nun Rieger erstmals die ganze Breite und Tiefe menschlichen Daseins kennen, die Nöte und Hoffnungen. Schnell sprach es sich herum, dass der Neue ein freundlicher und verständnisvoller Beichtvater war. Und er war gewissenhaft. Bevor er das erste Mal in den Beichtstuhl ging, fiel ihm plötzlich nicht mehr ein, wie das mit einer in gutem Glauben geschlossenen, aber ungültigen Ehe ist – in der Moraltheologie heißt der Fachausdruck dafür matrimonium putativum. So nahm er das entsprechende Moralbuch in den Beichtstuhl mit, um gegebenenfalls nachschauen zu können. Oft erzählte er später davon und fügte lachend hinzu: „Der Fall, über den ich mich damals so gesorgt habe, ist mir in den 60 Jahren meines priesterlichen Wirkens nie vorgekommen.“ Diese Episode zeigt aber einen Wesenszug Reimmichls: Er neigte zur Ängstlichkeit, wenn es um den Vollzug priesterlicher Handlungen ging. Da achtete er auf jede Kleinigkeit in der vorgeschriebenen Durchführung. Das galt vor allem für die Messfeier und beim Spenden von Sakramenten. Da konnte es schon vorkommen, dass er Teile einer heiligen Handlung wiederholte, um ja die Gültigkeit sicherzustellen.
Sebastian Rieger im Alter von etwa 25 Jahren, als er in die Seelsorge eintrat.
(Foto: Reimmichlmuseum, Hall)
Es bedeutete viel für Reimmichl, der ein großer Marienverehrer war, dass er gerade in einem Marienwallfahrtsort sein priesterliches Wirken beginnen durfte und dass er hier die Marienbegeisterung des Tiroler Volkes erfahren konnte.
Aber sein Aufenthalt in Stilfes/Maria Trens dauerte nur vier Monate, dann erreichte ihn das bischöfliche Versetzungsschreiben nach Sexten, einem kleinen Ort zehn Kilometer südlich von Innichen im Pustertal, ein Ort, der gerade seinen ersten Aufschwung nahm, nachdem die Städter die Dolomiten als Bergsteiger- und Wanderparadies entdeckten. Rieger hatte das Glück, in Sexten und später in Dölsach, der dritten Station als Kooperator, Pfarrer als Vorgesetzte zu haben, in denen er ein Vorbild für sein eigenes priesterliches Wirken sah. Zeitlebens sprach er mit großer Achtung und tiefer Zuneigung von ihnen. In Sexten erlebte er eine Gläubigkeit und Religiosität unter dem Volk wie in den darauffolgenden Jahren vielleicht nie mehr. Wenn man ihm später öfters vorwarf, dass es den tiefen Glauben, den seine Gestalten in den Geschichten zeigten, im Volk nicht mehr gäbe, erwiderte er gewöhnlich: „Ihr habt das alte Tirol nicht mehr gekannt!“ Und dabei dachte er vor allem an seine Jahre in Sexten.
Josef Bachlechner (1835–1915), Pfarrer von Sexten, war dem jungen Kooperator Rieger ein verständnisvoller Vorgesetzter.
(Foto: Archiv)
Als der neue Kooperator dort im Herbst 1892 einzog, erwartete ihn sein 57-jähriger Pfarrherr Josef Bachlechner, der erst seit fünf Jahren in Sexten wirkte, aber bereits die Zuneigung der Bevölkerung durch seine Frömmigkeit, seinen seelsorglichen Eifer und seine tätige Teilnahme und Unterstützung des Dorflebens erworben hatte. So war er u. a. Mitbegründer der Feuerwehr. Die Gemeinde dankte später ihrem Pfarrer mit der Verleihung der Ehrenbürgerschaft.
Reimmichl fühlte sich durch die freundliche Aufnahme im Pfarrhaus und durch die Bevölkerung bald heimisch. Wegen seiner umgänglichen Art wurde er bald zu Festen und Familienfeiern eingeladen und feierte gerne mit.
Michael Rogger (1821–1909), Schuster in Sexten. Seine „Reimereien“ lieferten dem jungen Kooperator Rieger Stoff für Geschichten im Volksboten, die er unter der Überschrift „Was der Michl erzählt“ veröffentlichte. Rogger nannte ihn daraufhin einen „Reimmichl“. Dieser Name ging dann bald auf den Autor über.
(Foto: Archiv)
Hier nun schlug Riegers eigentliche Geburtsstunde als Volksschriftsteller und hier erhielt er den Namen Reimmichl, der bald so populär war, dass er den bürgerlichen Namen Sebastian Rieger vollkommen verdrängte. Mitbrüder und Bekannte nannten ihn nur noch Michl; seine engsten Freunde nach wie vor Wastl.
1892 wurde von Männern um den Brixner Theologieprofessor Aemilian Schoepfer der „Tiroler Volksbote“ gegründet, nachdem sie bereits vier Jahre zuvor die „Brixner Chronik“ aus der Taufe gehoben hatten, die auf das städtische Publikum ausgerichtet war. Die neu gegründete Zeitung sollte für die Landbevölkerung sein. Dr. Schoepfer schrieb dazu: „Wir brauchen ein recht pupulär geschriebenes Blättchen, das nur alle zwei Wochen erscheint und darum so billig ist, dass es in jedes Haus Aufnahme finden kann, das so geschrieben ist, dass es von allen gerne gelesen wird, das einen solchen Inhalt hat, dass es überall recht viel Nutzen stiftet.“ Mit diesem Blättchen wollte Schoepfer einerseits den katholischen Glauben im Land festigen sowie Angriffe gegen ihn vor allem von liberaler und sozialdemokratischer Seite abwehren, andererseits die Sache der christlich-sozialen Partei unterstützen. Am 22. Dezember 1892 erschien unter der Leitung des Brixner Theologieprofessors Dr. Sigismund Waitz, dem späteren Erzbischof von Salzburg, die erste Ausgabe des „Tiroler Volksboten“.
Der alte Schustertisch des Michael Rogger, des „Ur-Reimmichl“, hat die Zeiten überdauert; heute dient er als Werkzeugablage.
(Foto: Archiv)
Rieger begann zuerst in unregelmäßigen Abständen kleinere Geschichten für dieses neue Wochenblatt zu schreiben. Herausgeber und Schriftleiter kannte er von seinen Brixner Tagen her, Die Themen lieferte ihm am Anfang ein Sextener Original. Und das kam so:
In Sexten im Unterdorf lebte und arbeitete der alte Schuster Michael Rogger. Beim „Unterschmiedergütl“ oder „Gaaser“ lautete der Hausname. In seinen jungen Jahren hütete nämlich der Michl Rogger zwanzig Sommer hindurch im nahen Fischleintal die Ziegen der Sextener Bauern. Die Ziege oder Geiß heißt in der dortigen Mundart Gaas. Deshalb nannten ihn die Leute „Gaaser“, ein Übername, der den alten Hausnamen dann in den Hintergrund drängte.
Dieser alte Schuster Michl Rogger war ein begnadeter Erzähler und unterhielt seine Kundschaft und die Nachbarn mit seinen Geschichten. So trafen sich die Leute gern zum Feierabend in seiner Werkstatt und lauschten gespannt den Erzählungen. Auch der neue Kooperator zählte gelegentlich zu den Zuhörern und war von der Originalität des alten Mannes begeistert. Daheim machte er sich dann sogleich Notizen von dem Gehörten, aus denen die ersten Kurzgeschichten entstanden, die kurze Zeit später im „Tiroler Volksboten“, mit R (für Rieger) oder S. R. (für Sebastian Rieger) gezeichnet, erschienen.
Das Bild aus Reimmichls Dölsacher Zeit (1894–1897) zeigt den hochverehrten Pfarrer Johann Treyer (sitzend) im Kreis der „Widumsfamilie“; der junge Kooperator mit Pfeife ist Reimmichl. (Repro O. Voght)
In einem nächsten Schritt leitete er die Kurzgeschichten mit der Überschrift ein: „Was der Michl (nämlich der Rogger Michl) erzählt“. Wer hinter dem Namen Michl stand, wusste kein Leser.
Nun wurde aber der „Tiroler Volksbote“ auch in Sexten bereits fleißig gelesen. Eines Tages hält der alte Michl dem Sebastian Rieger mit der Bemerkung „Sie sind mir ja ein schöner Reim-Michl“ eine Ausgabe des „Tiroler Volksboten“ unter die Nase. Der Michl hatte nämlich eine seiner Erzählungen wiedererkannt, die der Kooperator diesmal nur wenig verändert ins Blatt setzen ließ. Die Art, tatsächliche Ereignisse mit teilweise erfundenen auszuschmücken und zu ergänzen, nannte man seinerzeit in der Volkssprache „reimen“. Erhalten geblieben ist der Ausdruck in der Redewendung „sich etwas zusammenreimen“.
Sebastian Rieger gefiel diese Wortschöpfung des alten Schusters und er schrieb nun ab 1. März 1894 seine Geschichten unter der Überschrift: „Was der Reimmichl erzählt“. Die Leser liebten diese Geschichten und lasen sie mit Begeisterung. Jedes Mal wenn ein neuer Volksbote erschien, hieß es: „Was der Reimmichl wohl diesmal wieder schreibt?“. Dieser Satz wurde gleichsam zu einem geflügelten Wort und es dauerte nicht lange, bis der Name Reimmichl auf den Autor überging.
Das Unterschmiedergütl des alten Rogger steht heute nicht mehr. An seiner Stelle errichtete der Ururenkel einen modernen Neubau. Die Schusterbank aber, an der der „Ur-Reim-Michl“ alt wurde, hat die Zeiten als Erinnerungsstück überdauert und steht nun im neuen Haus.
Die Zeit verflog und bereits nach zwei Jahren übersiedelte Reimmichl in das sonnige Dölsach bei Lienz. Rückblickend hielt er die nun folgenden drei Jahre für die glücklichsten und unbeschwertesten seines Lebens. Und wieder war es ein Pfarrherr, der großen und entscheidenden Einfluss auf Reimmichl als Seelsorger ausübte. Johann Treyer (1812–1899) wirkte über 20 Jahre als Pfarrer in Dölsach. Selbst ein ausgezeichneter Sänger, förderte er besonders die Kirchenmusik; er sorgte für die Renovierung der Kirche, schaffte neue Paramente (liturgische Gewänder), Festtagsleuchter und eine herrliche Monstranz an, denn festliche Gottesdienste an hohen Feiertagen in der schön geschmückten Kirche waren ihm ein Anliegen, um so besser das Herz der Gemeinde ansprechen zu können. Hohen Stellenwert hatte für ihn die Gastfreundschaft. Bereitwillig stellte er Besuchern Küche und Keller zur Verfügung. Deshalb kam man auch gern im Dölsacher Widum zusammen, und das freute Pfarrer Treyer. In seiner Gegenwart durfte allerdings kein böses Wort über Mitmenschen fallen und nie hat jemand aus seinem Mund ein solches gehört. Der Friede in der Gemeinde war ihm sehr wichtig. Hörte er von irgendeinem Streit, bemühte er sich persönlich und meist erfolgreich als Schlichter.
Es ist also kein Wunder, dass diese Priesterpersönlichkeit den jungen Kooperator beeindruckte und dass er ihn verehrte. Als Treyer 1899 starb, widmete ihm Reimmichl im „Volksboten“ einen ausführlichen, dankbaren Nachruf.
Es war üblich, dass ein Priester in den ersten Jahren öfters mit Versetzungen rechnen musste. Ziel war es, junge Priester unter der Anleitung eines Pfarrers Erfahrung sammeln zu lassen. Reimmichl war als Kooperator ein Jahr in Stilfes/Maria Trens, zwei Jahre in Sexten und drei Jahre in Dölsach. Dann hieß es wieder packen. Das nächste Ziel war Sand in Taufers nahe Bruneck. Kaum hatte er sich in seiner neuen Wirkungsstätte eingerichtet, kam nach einem halben Jahr bereits der nächste Marschbefehl, dem er nur sehr widerstrebend folgte. Am fürstbischöflichen Hof in Brixen wurde beschlossen, Sebastian Rieger aus der Seelsorge herauszunehmen und ihm für die nächste Zeit die Redaktion der „Brixner Chronik“ und des „Tiroler Volksboten“ zu übertragen.
Der bisherige Redakteur Sigismund Waitz, ein Freund Reimmichls und späterer Erzbischof von Salzburg, stand nämlich vor einer Operation, der eine längere Genesungszeit folgen würde.
Dass die Entscheidung auf Rieger fiel, hing mit seiner erfolgreichen Mitarbeit beim „Tiroler Volksboten“ zusammen. Reimmichl hatte mit seinen Beiträgen und Geschichten schnell Aufmerksamkeit erregt und bereits eine begeisterte Leserschaft gewonnen.
Reimmichl folgte dem Ruf zwar mit gemischten Gefühlen, andererseits erwartete er sich aber in der Bischofsstadt mehr geistige Anregung als am stillen Land.