Читать книгу 100.000 Tacken - Reiner Hänsch - Страница 8
Der graue Kasten
ОглавлениеIn den folgenden aufregenden Tagen studieren wir eifrig und wann immer sich die Gelegenheit bietet, die Immobilienangebote in der Gegend. Auch im Redaktionsbüro kann ich es mir, trotz einer ganzen Menge Arbeit, nicht verkneifen, ab und zu mal den Immoscout aufzumachen und nachzusehen, ob unser Haus denn schon dabei wäre. Große Häuser gibt es da, kleine, langweilige, auch ganz schreckliche Betonklötze sind darunter. Nein, nein, so soll unser Haus niemals aussehen.
Schön soll es sein. Ganz einfach.
„Solide Kapitalanlage“, „gute Rendite“, „Entwicklungspotenzial“, „voll vermietet“ und „provisionsfrei“ sind Worte aus dem neuen geheimnisvollen Vokabularium, mit dem ich mich in diesen Tagen beschäftige. Oh, ist das ein aufregender, alles verschlingender Dschungel unbekannter Begriffe und Abkürzungen, durch den man sich da pflügen muss, um endlich wieder das Tageslicht des willigen Anlegers zu sehen.
„Sollten wir nicht erst mal zu Herrn Beckebanz gehen und fragen, ob wir von der Sparkasse auch noch Geld bekommen?“, fragt Steffi und da hat sie natürlich recht. Für unsere hunderttausend Tacken bekommt man nur ganz, ganz kleine Mietshäuser … oder eben gar keine. Auf jeden Fall nicht solche, die wir uns vorgestellt haben.
„Ach, das klappt schon“, sage ich, obwohl ich es nicht genau weiß. Die Häuser, die wir uns da jetzt nur mal so ansehen, kosten alle über zweihunderttausend Tacken, also sogar mehr als das Doppelte. „Herr Beckebanz macht das bestimmt.“
Und obwohl Steffi dann Bedenken anmeldet, ob es denn auch wirklich richtig sei, sich noch weiter in Schulden zu stürzen, tue ich das leicht überheblich als pure Schwarzmalerei ab und schaue sie nur tadelnd an. So, als wolle sie mir den Spaß verderben.
„Steffi, du tust ja gerade so, als ob es noch Schuldentürme mit Ratten, Kälte, Dunkelheit und Gestank gäbe, in die man uns wirft, bis wir verhungern, wenn wir das Geld nicht auftreiben können. Also wirklich!“
Ich weiß nicht, ob ich mit diesem Bild ihre Sorgen tatsächlich zerstreuen kann. Vielleicht eher nicht.
Trotz Steffis Bedenken haben wir uns dann doch einige Häuser tatsächlich auch mal in echt angesehen. Nur von außen erst mal. Aber da war leider nichts dabei. So wie auch meine Oma früher immer sagte, wenn sie enttäuscht das Fernsehen ausschaltete, weil ihr keine der Sendungen gefiel oder sie einfach nichts verstanden hat. Nüscht dabei!, sagte sie dann immer, legte kopfschüttelnd die neumodische Fernbedienung auf das kleine Tischchen neben ihrem Fernsehsessel und schlief meistens ein, oder wir spielten zusammen Mau-Mau.
Die Häuser, die wir uns angesehen hatten, lagen entweder in Gegenden, wo wir uns fast selbst nicht hintrauten, weil sie so dunkel und trostlos waren, dass wir uns auch nicht vorstellen konnten, dass da jemand wohnen will. Naja, dann macht’s ja keinen Sinn mit einem Wohn-Haus. Wir waren ziemlich enttäuscht vom Angebot, suchten aber trotzdem munter weiter.
Dann, nach ein paar Wochen hatten wir es plötzlich gefunden, unser Haus. Wir fanden es eigentlich fast gleichzeitig. Ich im Büro am Computer und Steffi beim Zahnarzt im Sauerlandbeobachter, also der Zeitung, für die ich jeden Tag schreibe. Ich selbst habe es da gar nicht gesehen, denn für die Anzeigen ist bei uns in der Redaktion Anke Niggeloh, meine liebe Kollegin, zuständig.
Schön sieht es aus, und das soll es ja auch. Es muss sich irgendwie hinter all den anderen Häuseranzeigen versteckt haben, aber das brauchte dieses schöne Haus nun wirklich nicht. Steffi und ich hatten uns sofort und unabhängig voneinander in genau dieses Haus verliebt. Es ist ein Jugendstilhaus mit Stuckornamenten, kleinen Erkern und Friesen und einem Türmchen in der Mitte. Ganz toll. Ein Eckhaus mit Restaurationsbetrieb im Erdgeschoss, solider Rendite und voll vermietet. Ja, genau das wollten wir doch.
Für Nichtverliebte ist es vielleicht nur ein grauer, alter Kasten an der Ecke einer etwas betagten Häuserzeile in einem der hinteren Viertel von Arnsberg.
Das mussten wir sehen! Sofort. Und der Preis war sogar als Schnäppchen ausgewiesen. Runtergesetzt! Trotzdem würde leider unser Onkel-Günter-Geld nicht ganz ausreichen, um es zu bezahlen, es kostete sogar mehr als doppelt so viel. Aber wir wollten es erst mal ansehen. Unverbindlich. Kucken kost’ ja nix!
Herr Dunkeloh von der ortsansässigen Immobilienfirma Dunkeloh und Wöbkemeier vereinbarte sehr bereitwillig und umgehend einen Termin und heute fahren wir mit roten Wangen und schwitzigen Händen nach Arnsberg – zu unserem Haus.
Die Vorfreude auf das Haus ist fast größer als die auf das in vier Wochen anstehende Weihnachstfest, als wir dann endlich in der Ruhrstraße in Arnsberg parken können. Mit leichter Verspätung, direkt vor unserem Haus.
Herr Dunkeloh wartet schon und eilt uns mit einem verheißungsvollen Lächeln und in einem grauen, etwas zu engen Anzug entgegen. Er verbeugt sich galant vor Steffi, schleimt ein wenig herum und drückt mir dann gütig seine Karte in die Hand. Ja, danke. Er scheint auch etwas nervös zu sein. Warum nur?
Unter dem Arm trägt er eine Aktenmappe wie die schwarzen Sparkassenmänner aus meinem Traum. Auch sein Lächeln erinnert stark an Gebrauchtwagenverkäufer oder auch Drogendealer.
„Komm Se rein, sehn Se sich ärss ma alles ganz unverbindlich an, woll! So’n Schritt will ja gut überleecht sein!“, singsangt er, lächelt versuchsweise und geht forsch voran. „Leider könn’ we nich inne Wohnungen rein, woll, weil vonne Mieters … äh … einklich keiner zuhause is’, woll. Sorry. Abba Se könn’ mir vertraun. Die Wohnung’n sin alle sehr schön und großzügich, ja? Alle sehr gut geschnitt’n. Wunderbar zu vermiet’n. Dat is’ reinstes Betongold, glaum Se mir.“
Großzügig. Gut zu vermieten. Gut geschnitten. Betongold. Na siehste, blinzle ich Steffi zu. Sag ich’s doch!
Steffi und ich starren das graue Gebäude erst mal noch eine Weile von außen an, bevor wir dem gesprächigen Herrn Makler folgen.
Es ist wirklich sehr schön, das kann man nicht anders sagen. Ein Jugendstil-Eckhaus aus dem Jahr 1896, wie Herr Dunkeloh nach einem Blick in seine Aktenmappe aufgeregt zu berichten weiß. Es gefällt uns. Wir mögen alte Häuser. Sie haben Geschichte, sie sind stolz und erfahren und haben eben eine Menge mitgemacht. Denen kann so schnell nichts mehr passieren. Steffi sieht das genauso.
Sie nickt mir zu und das heißt eigentlich: haben wollen. Das hieß es auch vor einigen Jahren, als wir unser Haus in Leckede zum ersten Mal gesehen haben. Wir sahen uns an und hatten dasselbe gute Gefühl. Jawoll, das ist es! Wir wollen es beide.
„Unser“ Haus hier in Arnsberg ist grau und groß. Ziemlich groß sogar, wenn man so direkt davor steht. Zu groß? Wir wissen es noch nicht. Aber wir haben keine Angst vor ihm.
Nun ja, es ist auch ziemlich grau, aber nicht mehr überall so ganz grau, wenn man genauer hinsieht. An manchen Stellen blättert das edle Grau schon ein wenig ab und müsste mal erneuert werden. Und die Dachrinnen … naja, und auch der Stuck ist an einigen Stellen nicht mehr ganz vollständig …
Herr Dunkeloh bemerkt unsere leicht irritierten Blicke und geht sofort auf Makler-Verteidigungskurs.
„Dat sin nur Kleinichkeit’n, woll, verährtes Ehepaar Knippschild.“ Wieso er uns jetzt verährt, wo er uns doch gar nicht kennt? Aber egal. „Dat hat Ihn’ ’n guter Handwärksbetrieb in paar Tage gemacht, woll. Ich kann Ihn’n da einige ämpfehl’n. Dat is’ nur äußerlich, woll. De Substanz is’ gut!“
Diesen Satz werden wir noch des Öfteren zu hören bekommen, es scheint also wichtig zu sein, dat de Substanz ehm gut is’. Das wissen wir dann schon mal. Na, schauen wir uns doch mal alles an.
Wir bemerken noch anerkennend die schönen alten Fenster mit echten Holzsprossen, die sehr gut zum Haus passen. Holz. Kein Plastik, kein Alu. Man müsste sie halt auch mal streichen. Na gut. Kann man alles machen.
Ein kunstvoller, weißer Stuckengel ziert den Bereich an der Ecke des Hauses über dem Eingang des griechischen Grillrestaurants, das hier seine … naja, zugegeben, etwas fettige Heimat hat. Vom Engel sieht man nur den halben Kopf, weil das Schild des Restaurants, also eher des Imbisses Takis Orakel den schönen Engel leider verdeckt. Schade.
Dieses Takis Orakel verbreitet ansonsten einen recht intensiven, aber eigentlich ganz leckeren Frittenöldunst über den gesamten Eingangsbereich. Und als ich nachdenklich die dicken Schwaden so betrachte, die aus dem Inneren dieser mediterranen Imbisshöhle wabern, stelle ich mir nur ganz kurz und etwas erschrocken vor, wie das ganze Stadtviertel mit einem leichten Fettfilm überzogen wird, Autos nicht mehr glänzen, Brillen beschlagen und alte Leute auf dem Bürgersteig vor dieser Spezialitätenrestauration auf dem schmierigen Bürgersteig ausrutschen, sich das Genick oder den Oberschenkelhals brechen … ach, man soll nicht immer alles so schwarz sehen.
Der Geruch des Etablissements jedenfalls verbreitet sich über die ganze Straße, wahrscheinlich, um hungrige Kunden anzulocken, sodass Herr Dunkeloh uns auch jetzt eifrig zum Hauseingang treibt, als er bemerkt, dass wir nur noch ganz vorsichtig und flach die Atemluft durch die Nase einziehen, um unsere Lungen nicht übermäßig mit den Rückständen der Pommes-Frites und Gyros-Herstellung des Hauses Takis zu belasten. Wir lächeln ihm dennoch mutig und voller Zuversicht zu.
Der Eingang zu den Wohnungen befindet sich an der Seite. Na, dann gehen wir doch endlich mal rein.
Aus dem übergroßen Schlüsselbund, den Herr Dunkeloh jetzt aus seiner Mappe zieht, gleich den richtigen herauszufinden, erweist sich schon mal als nicht ganz einfach. Wer weiß, wann er überhaupt das letzte Mal hier war, um den Kasten gutgläubigen Interessenten aufzuschließen.
Kurz flammt in mir wieder ein kleiner, schneller und böser Gedanke auf, dass wir möglicherweise seit langer Zeit die einzigen sind, die sich überhaupt für diese Hütte interessieren … Ach, was. Schnell wische ich diesen unsinnigen Gedanken wieder weg. Das kann ja gar nicht sein. Bei so einem prachtvollen Objekt werden die Interessenten Schlange stehen. Wir sollten also nicht zu lange überlegen.
Nach einer Weile des Suchens und Ausprobierens hat Herr Dunkeloh den richtigen Schlüssel dann gefunden und schließt mit einem ermunternden Nicken erwartungsvoll auf. Ein klebrig glänzender Schweißfilm überzieht bereits seine blasse Stirn.
Wir folgen ihm gespannt und voller Erwartung durch die leicht quietschende Haustür in das Dunkel des Flurs und ich stoße mir das Schienbein an einem sportlichen Kinderwagen, der da vor sich hin wartet, weil Herr Dunkeloh nicht gleich den Schalter für das Flurlicht findet.
„Ah, verdammt, wer hat denn hier …!“, will ich gerade losfluchen, schon so, wie ein richtig böser, grantiger Tyrann von Hausbesitzer, als Herr Dunkeloh mich mit dem so dahingemurmelten Wort „Bewegungsmälder“ beruhigen will. Was? Ach so. Ich weiß schon, er meint, man könnte so einen Sensor einbauen, der dann direkt das Flurlicht anschaltet, wenn einer zur Haustür reinkommt. Ja, das wäre sehr vernünftig. Gute Idee.
Ich sehe mich ganz kurz in einem grellenGedankenblitz schon als neuer Master of Grauer Kasten Gesetze entwerfen und gebieterisch Pamphlete über Kinderwagenstellverbote an die Treppenhauswände nageln, wie einst Martin Luther, der sicher nichts gegen Kinderwagen hatte, aber ja auch Missstände beseitigen und die Welt ein wenig verbessern wollte. Will ich auch. Wenigstens in unserem Treppenhaus.
Ach, es ist ja nur ein Kinderwagen. Leute, wir haben Kinder im Haus! Das ist doch wunderbar!
Das Flurlicht brennt endlich, aber nicht auf allen Etagen, was Herrn Dunkeloh jetzt schon fast einen Punktabzug einbringen könnte. Aber wir wollen uns unser Haus ja nicht durch solche Kleinigkeiten vermiesen lassen.
Es ist schön, und das soll es auch bleiben. Basta! Wir wollen es haben! Oder, Steffi? Ja, du willst es doch auch! Das sehe ich doch.
„Ach, dat müsste dann au ma gemacht wärd’n“, sagt Dunkeloh entschuldigend und wir winken nur generös ab. Ist ja weiter nichts.
Interessiert, voller keimender Vorfreude und auch schon mit so etwas wie Besitzerstolz schauen wir uns in unserem Haus um, und da geht das Flurlicht nach einer geschätzten halben Minute auch schon wieder aus. Als ich das Licht wieder einschalten will, verwechsle ich den Lichtschalter mit einer Klingel und ich höre nur von drinnen eine weibliche Stimme: „Haust du ab, du Arsch. Stinks du wieder Ouzo un Takis! Komms du ssuruck, wenn nüschtern!“
„Oh, ich dachte, hier ist niemand zuhause“, drehe ich mich verwundert zu Herrn Dunkeloh um. „Aber wenn man die Dame richtig versteht, dann erwartet sie wohl auch noch kurzfristig ihren Gatten zurück.“
„Ja, ich … äh … dachte au, datte Frau Göktürk nich zuhause is’“, stammelt Herr Dunkeloh fast so, als hätte er gehofft, sie wäre nicht zuhause. Etwas unsicher lächelt er uns zittrig an. „Na, dann könn’n we ja vielleicht doch ma kurz inne … äh … Wohnung kuck’n.“
„Hallo, Frau Göktürk, hier Härr Dunkeloh von Dunkeloh und Wöbkemeier, ja?“, ruft Herr Dunkeloh gegen die immer noch geschlossene Tür, die sich aber dann plötzlich einen kleinen Spalt öffnet. „Ich hier … mit neue Besitzer von Haus!“
„Wat willssu, Dünkelöh?“, fragt eine tiefe rauhe Stimme, die bedrohlich durch den kleinen Spalt knurrt. Türken haben eben überall Ös und Üs in ihrer Sprache, jetzt also auch Herr Dünkelöh. Hinter der Tür scheint alles böse und dunkel. Nein, dünkel.
„Wir vielleicht ma schnell kuck’n könn’n … in Wohnung, Frau Göktürk?! Besichtigung?! Neue Besitzer?! Haus verkaufen?!“ Er spricht nicht nur wie ein Idiot, er spricht auch ganz laut.
„Was spreschst du wie mit Ausländer, Dünkelöh, binnisch dreissehn Jahre Deutschland. Versteh isch gutt. Kommstu rein mit deine Leute.“
Und dann öffnet sich die Tür ganz und wir dürfen Frau Göktürk in voller Gänze bestaunen. Sie sieht aus wie … naja, eigentlich wie Winnetous Mutter, wenn ich sagen soll, was mir als Erstes durch den Kopf geht, als sie da so vor uns steht und böse lächelt. Dichtes, struppiges, schwarzes Haar, zu Zöpfen geflochten, umrahmt ihr kantiges, fast männliches und übertrieben gebräuntes Antlitz. Sie sieht aus, als wollte sie gleich zu einem Kostümfest aufbrechen – mit Indianerperücke und Kriegsbemalung. Nur den Tomahawk müsste sie noch eben aus der Küche holen, man weiß ja nie, und dann kann’s schon losgehen.
„Wass loss? Komme rein!“, befiehlt Frau Winnetou und wir gehorchen artig, um nicht direkt am Marterpfahl zu landen.
Und so tauchen wir ein in eine olfaktorische Wunderwelt aus Knoblauchküche, Aschenbecher, Fischresten und Kinderwindeln. Stark verbrannt riecht es auch.
Mir fällt der Kinderwagen unten im Flur ein. Ein kleiner, hoffnungslos rotzverschmierter Junge sieht uns ängstlich an und beginnt dann fürchterlich zu brüllen. Ärgerlich ruft Frau Göktürk nach hinten in eins der Zimmer: „Gönül, kommsstu? Deine kleine Bruder muss Schnauze halten. Sons weckt de Adnan. Habbisch Besuch.“
Ein etwa vierzehnjähriges weibliches Schlurfgespenst erscheint lustlos und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft kaugummikauend in einer der Türen, schenkt uns einen angeödeten Blick und zerrt dann das kleine brüllende Ungetüm in das Zimmer. Hinter der Tür hört man einen deutlichen Klatsch und das Brüllen verstummt augenblicklich, um sich dann aber wieder mindestens mit doppelter Lautstärke sirenenartig fortzusetzen. Man hat nur Luft geholt und neuen Anlauf genommen.
Ich sehe Steffi an und zucke mit den Achseln. Soll man sich schon dazwischenwerfen? Darf man sich überhaupt in die Erziehung anderer Familien einmischen? Wie erzieht der Türke? Vielleicht in grundlegenden Dingen etwas anders als wir. Keine Ahnung. Und um internationale Verwicklungen oder einen blutigen Indianerkrieg zu vermeiden, folgen wir also erst mal Herrn Dünkelöh ins Wöhnzimmer.
Außer einem gigantischen Monstrum von Flachbildfernseher, der eine dieser äußerst beliebten, recht lehrreichen und besonders lebensechten Nachmittagssendungen zeigt, in denen ganz schlechte Schauspieler so tun, als würden sie sich hassen und schon bald oder auch augenblicklich gegenseitig umbringen, kann man erst mal nicht viel erkennen, weil die Fenster des Zimmers mit blickdichten Wolldecken verhängt sind. Man ist also lieber privat bei den Göktürks. Kann ich verstehen.
Als sich unsere Augen an das flimmernde Halbdunkel gewöhnt haben, tauchen langsam und schemenhaft eine gemusterte bläuliche, nur ganz leicht abgeschabte und etwas bräunlich verkrustete Sitzgruppe für mindestens zwanzig Personen und ein Glastisch auf, der leider nicht mehr lange halten wird, weil er einen großen, langen Sprung hat. Trotzdem steht eine Menge leerer Flaschen darauf. Und noch hält er ja.
Die Sitzgelegenheiten sind über und über mit allerlei lustigen bunten Sachen und etwas Müll belegt, was nun mal zu einem lebendigen Haushalt gehört. Natürlich. Das ist ja bei uns auch nicht viel anders, denke ich. Steffi scheint leicht anderer Meinung zu sein, doch sie lächelt Frau Göktürk trotzdem freundlich zu.
„Wollen setzen?“, röhrt Winnetous Mutter, aber wir lehnen alle erschrocken und dankend ab. Nein, nein, das geht zu weit, wir wollen ja nur kurz mal …
Dann bekommen wir noch einen ebenfalls sehr schönen, aber auch fast gänzlich abgedunkelten Raum zu sehen, der das Schlafzimmer der Familienchefs darstellen soll und ein weiteres Zimmer, das auch dem Zweck des Schlafens dient, das wir aber gar nicht sehen können, weil Adnan – fumffe Monat – darin schläft. Und wir wollen ja nicht riskieren … natürlich. Das Bad ist leider gerade besetzt, weil der Nachbar, Herr Bolschakow, sein eigenes zur Zeit nicht benutzen kann, da irgendwas mit dem Abfluss nicht stimmt. Wir wollen es aber auch nicht sehen, schon gar nicht, nachdem Herr Bolschakow es benutzt hat. Ist sicher auch nicht nötig. Ist halt ein Bad.
Und dann geht es wieder zurück in den Flur und wir erkennen im Vorbeigehen aus den Augenwinkeln in der Küche in einer Ecke ein offenes Feuer, über dem ein großer Topf hängt, in dem es kräftig brodelt. Lagerfeuer. Ich denke, hier wird sicherlich gerade ein schmackhaftes, typisch türkisches oder auch indianisches Gericht zubereitet.
Nun ja, etwas ungewöhnlich vielleicht, da die Küche doch sicher auch über einen funktionierenden Herd verfügt, auf dem man Wasser zum Brodeln bringen könnte, aber vielleicht kennen wir uns ja nur nicht gut genug mit der fremdländischen Kochkunst aus und man will sich da ja nicht gleich einmischen. Es ist sicher eine ganz besondere Köstlichkeit, die die Familie an ihre ferne Heimat erinnert, die sich auch nur so zubereiten lässt und die heute Abend bei einer politischen Diskussionssendung oder einem Tierfilm vor dem Riesenfernseher verspeist wird. Aber vielleicht habe ich das auch nicht richtig gesehen mit dem Feuer. Wahrscheinlich.
Ach, ist das schön. Familie, Kinder, gemeinsam kochen …
Herr Dunkeloh schließt mit weit aufgerissenen Augen in Lichtgeschwindigkeit die Küchentür und raunt Frau Göktürk sehr aufgebracht etwas zu. Ich höre nur so was wie „… verrückt geword’n?“ und „… abfackeln?“, und Frau Göktürk sagt nur: „Mach immer so!“ – und damit ist die Sache erledigt.
So. Vielen Dank, liebe Frau Göktürk. Wir haben ja alles gesehen. Sehr schön geschnitten, Ihre Wohnung übrigens. Vergessen Sie Ihren Tomahawk nicht, bevor Sie das Haus verlassen!
Als wir die Toilette der Göktürk-Wohnung passieren, dringt durch die fest verschlossene Tür eine geheimnisvolle, fremde Melodie. Es ist etwas Russisches, und wenn ich mich nicht täusche, heißt dieses Lied, das der Herr Bolschakow da voller Sehnsucht nach seinem schönen weiten Land vor sich hinsummt, „Die Wolgaschiffer“.
Ich glaube ja. Na, macht ja auch irgendwie Sinn.
Dann stehen wir wieder im Treppenhaus, und ein etwas desolat, aber ansonsten recht sympathisch aussehender, leicht dicklicher Mann wankt an uns vorbei. Sicher Herr Göktürk. Die Familie ist also bald wieder vereint. Wir grüßen freundlich, aber er stiert uns nur hohl an und kratzt sich im Schritt.
Herr Dunkeloh schwitzt schon wieder und wirkt etwas hilflos.
„Tach, Härr Göktürk!“
Ich weiß gar nicht, warum er so nervös ist. Läuft doch alles. Das Haus gefällt uns, oder? Steffi?
„Die Leute sind sähr nett, müss’n Se wissen, verährtes Ehepaar Knippschild. Die Göktürks. Sähr kulltiviert, woll. Vier Kinder. Sähr ruhich und freundlich. Zahl’n immer pünktlich, woll … Se müsst’n halt ma wieder aufräum‘ und … naja … manche ham es eb’n nich so mitte Ordnung. Se wiss’n schon.“
Ja, ja, natürlich. Bei uns ist auch nicht immer alles aufgeräumt.
„Abba de Substanz is’ gut.“
Na bitte, da haben wir es doch wieder. Und es beruhigt auch tatsächlich, das zu hören und zu wissen. Die Substanz ist gut!
Gegenüber können wir die Wohnung leider gerade nicht betreten, weil ja der Nachbar, Herr Bolschakow, momentan auf dem Klo von Frau Göktürk sitzt und sonst - laut Herrn Dunkeloh - keiner zuhause ist. Okay, macht ja nichts. Wenn die Substanz gut ist.
Dann geht es eine Etage höher. Die Raufaser des Treppenhauses ist in grellem Grün gehalten, fast Neongrün, was uns nach einer Weile eigentlich doch sehr gut gefällt, wenn man es sich richtig überlegt und die Augen sich erst mal daran gewöhnt haben. So freundlich irgendwie. Frisch, oder, Steffi? Man hört schon jetzt von oben die Geräusche einer größeren Menschenansammlung mit Marschmusik und von unten Herrn Göktürk, wie er an die Tür seiner Wohnung poltert und Frau Winnetou noch mal den Spruch von eben sagt: „Haust du ab, du Arsch. Stinks du wieder Ouzo un Takis! Komms du ssuruck, wenn nüschtern!“
An der Tür, vor der wir nun stehen, steht auf einem handschriftlichen, ehemals sorgfältig mit Tesafilm angebrachten Zettel Panagopou … Der Rest ist abgerissen.
„Panagopoulos“, sagt Herr Dunkeloh hastig, aber schon merklich geschwächt. „Dat sin de Betreiber von dem griechischen Restaurang da unt’n, woll. Die sin getz da unt’n. Die sin gar nich da, verstehen Se?“, sagt er noch und schüttelt heftig den Kopf, um es sich selbst glaubwürdig zu bestätigen. „Wir könn‘ da getz nich rein. Leider, woll.“ Aber er scheint ganz froh darüber zu sein.
„Na, macht ja nichts“, sage ich, „die Substanz …“
„… is’ einwandfrei“, ergänzt Herr Dunkeloh dankbar meinen angefangenen Satz. „Auch genauso schön geschnitt’n, wie die Wohnung vonne Göktürks. Is’ ja genau drübber, woll.“
„Ja, ja.“
Da öffnet sich die Tür der Wohnung gegenüber, die im unteren Bereich ein paar schwarze Brandstellen zu haben scheint, und ein weiß geripptes Unterhemd, über einen passablen Bauch gespannt, zeigt sich. Der dazugehörige kurzrasierte Kopf mit ebenso kurzem Schnauzbart ist jetzt auch da und bollert: „Wat mach’n Se da? Da is‘ keiner!“
Aus dem Hintergrund erklingt mit reichlich Volumen schmissige Militärmusik. Der Herr ist also ein Musikfreund, wie schön.
„Ah, Härr Horstkötter!“, dreht Herr Dunkeloh sich zu der Erscheinung um, und es sieht nicht so aus, als ob er sich über Herrn Horstkötters Anwesenheit wirklich freut. Er wischt sich nur einmal ganz kurz ein paar weitere Schweißtropfen von der Stirn und stöhnt. Er scheint es wirklich schwer zu haben heute, der Arme, obwohl es gar nicht warm ist.
„Ich bin hier mitte neue Besitzer, Härr Horstkötter. Sie wiss’n ja, dat Haus wird verkauft, woll …“, erklärt er vage in Richtung schwitzendes Feinripphemd.
Herr Horstkötter sieht uns abschätzend an und es ist offensichtlich, dass er uns nicht zuzutrauen scheint, als neue Besitzer über dieses Haus und besonders über ihn zu herrschen.
„Guten Tag, Herr Horstkötter!“, grüßen wir freundlich und sagen: „Knippschild!“
„Tach!“
Na gut, ich weiß natürlich auch nicht, wie man so ein Mehrfamilienhaus denn nun eigentlich besitzen soll und was es bedeutet, Herr in einem dermaßen großen, von vielen fremden und fremdländischen Leuten bewohnten Haus zu sein. Wie macht Günther Jauch das eigentlich? Wie kann man diese Menschen denn nun wirklich beherrschen und führen? Und muss man das eigentlich, oder kann man sie auch einfach so sich selbst überlassen? Ich habe da keinerlei Erfahrungen. Das muss ich zugeben.
„Hier muss wat passier’n!“, sagt Herr Horstkötter dann ohne Übergang und meint anscheinend, dass das schon reicht. „Hör’n Se sich dat ma an!“, sagt er und zeigt nach oben. „Die arabisch’n Terrorist’n, ja?“
Damit meint er wohl den Lärm aus der Etage über uns.
„Und was muss passieren?“, frage ich ihn, weil ich wirklich nicht genau weiß, was er meint. Dinge, die jetzt von Grund auf geändert werden müssten, haben wir bisher doch noch gar nicht entdeckt. Und, nun ja, aus einer der oberen Wohnungen kommt eine ganze Menge Lärm. Das stört vielleicht ein wenig, ist aber sicher nur sporadisch. Aber sonst?
„Un der Schinese macht au nur Mist da ob’n!“
„Ja, wie …?“, fragt Herr Dunkeloh.
„Der kocht Hunde da ob’n!“
„Härr Horstkötter, ganz ob’n, dat is‘ Herr Nguyen, der kommt aus Vietnam und kocht ganz sicher keine Hunde, woll!“
„Ja, dann isses eben so’n Vietkong. Mir doch egal. Aber wenn der jeden Tach hier Hunde kocht …!
„Der KOCHT keine Hunde, Härr Horstkötter!“
„Woher woll’n Se dat denn wissen? Ich hör se doch immer bellen. Vorher.“
Herr Dunkeloh wischt sich schon wieder Schweiß von der Stirn, lächelt uns etwas bröselig zu und versucht, mit einem angedeuteten Kopfschütteln Herrn Horstkötters Anschuldigungen zu widerlegen.
„Der Neger war auch dabei!“, fährt Horstkötter ungerührt fort und unterdrückt sehr nachlässig einen Rülpser.
„Dat sacht man nich, Herr Horstkötter!“
„Aber wenn’s doch stimmt. Ich hab ’ne ja selbs gesehn, den schwatt’n Kerl, wie er zu dem Vietkong rübber is‘.“
„Neger sacht man nich“, wiederholt Dunkeloh unbeirrt.
„Aber er is‘ doch einer.“
Dunkeloh schaut kurz zu uns rüber und wir verstehen schon. Er will wissen, ob wir neben den Einblicken in Herrn Horstkötters Ansichten über seine ausländischen Mitbewohner auch noch Einblicke in seine Wohnung haben wollen.
Nee, nee, schüttele ich unmerklich den Kopf und Steffi ist sogar schon neugierig und sicher auch irritiert von Herrn Horstkötters Unterhemd und der schmissigen Marschmusik eine Treppe höher dem anderen Lärm entgegengegangen.
„Auf Wiedersehn, Härr Horstkötter! Schön Tach noch, woll!“, sagt Herr Dunkeloh erleichtert und wir lassen den Feinrippmann mit seinen antischinesischen, antiarabischen, anti-wahrscheinlich-alles-Ansichten einfach in seiner Wohnungstür stehen. Einer ist sicher immer dabei in so einem großen Haus, der einem nicht auf den ersten Blick so richtig sympathisch ist.
„Da muss wat passier’n!“, grölt Horstkötter uns noch mal hinterher.
Oh, ein Fahrrad kommt uns auf der Treppe entgegen. Und weil die Treppe selbst für so ein Sportrad doch ein wenig steil ist, wird es getragen.
„Ach, Härr Nguyen!“, sagt Herr Dunkeloh und ich meine, er verdreht unmerklich die Augen, „darf ich Ihn’ de neuen Hausbesitzer vorstell’n? Dat sin Härr und Frau Knippschild.“
Na, jetzt sind wir also schon die neuen Hausbesitzer … aber der Gedanke gefällt mir.
Herr Nguyen, der chinesische Vietkong und außerdem ein nett aussehender, sympathischer junger Mann in einem hautengen schwarzen Radrennfahrer-Plastikdress, lächelt uns kurz an und sagt sehr freundlich: „Guten Tag, Hell un Flau Nipsi! Ick leider kein Sseit jetz, solly! Muss Hunden hole!“, und spurtet weiter die Treppe runter. Das Schutzblech des Rades hinterlässt in der Raufaser der Treppenhauswand eine sehr unschöne Spur und Herr Dunkeloh verzieht schmerzhaft sein Gesicht und schließt die Augen.
„Kleinigkeit, Herr Dunkeloh“, sage ich nur, um den armen Mann zu beruhigen und wieder aufzurichten. Ist doch nicht so schlimm. Schnell gemacht. Ein gutes Handwerkerteam, etwas grüne Farbe … Wir gehen weiter. „Aber … netter junger Mann.“
„Ja, ja, sähr nett, sähr freundlich, woll.“
Und „Nipsi“ hat uns seit dem Urlaub letztes Jahr in Thailand schon lange keiner mehr genannt.
Aus der nächsten Wohnung quillt uns dann der schon von unten vernommene Soundtrack einer größeren Festivität oder Versammlung entgegen. Es muss sich um eine riesige Veranstaltung handeln und wir wundern uns, davon nicht im Fernsehen erfahren zu haben. Es scheinen sich Hunderte von Menschen hinter dieser Tür versammelt zu haben, um etwas ganz Besonderes zu feiern. Es klingt märchenhaft und exotisch zugleich. Wie das bunte Treiben auf einem arabischen Basar, auf dem gerade Kamele zum Kauf angeboten werden, die aber nicht verkauft werden wollen, lauthals rumröhren und dafür von den Kamelbesitzern aufs Übelste beschimpft werden.
Wir hören auch, wie ein Schlangenbeschwörer mit einer schiefen Flöte zu stampfenden Diskorhythmen seine gefährlichen Tiere vorführt, wie offensichtlich eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen einigen Marktbesuchern ausgetragen wird und vielleicht sogar auch noch eine kleine Hinrichtung stattfindet. Für unsere Sauerländer Ohren klingt es einfach fantastisch. Eine neue, aufregende Welt.
Na, da haben wir ja doch schon so einige unserer lieben Mieter kennengelernt. Mit so viel Glück hatten wir ja gar nicht gerechnet. Sind ja doch nicht alle unterwegs, wie Herr Dunkeloh zuerst vermutet hatte.
Herr Dunkeloh holt ein neues Taschentuch aus seinem grauen Anzug, um der Schweißströme Herr zu werden, die ihm von der Stirn direkt in den etwas speckigen Kragen rinnen.
„Fadlallah“, würgt Herr Dunkeloh trocken heraus und scheint am Ende seiner Kräfte.
„Wie bitte?“, fragt Steffi, denn sie hat es wohl nicht verstanden. Nicht nur wegen des Lärms. Ich auch nicht. Vielleicht fantasiert Herr Dunkeloh auch schon, der Arme.
„Härr Fadlallah un seine Frau … und wahrscheinlich sein ganzer Beduinenstamm“, sagt Herr Dunkeloh tonlos und wir spüren, dass er entweder Angst hat oder einfach nur die Schnauze voll.
„Libanon“, sagt er noch und dann schüttelt er fassungslos seinen schweren Kopf. Ich spüre, dass er sich wünscht, dieser Tag möge jetzt einfach mal ganz schnell zu Ende gehen. Ein Haus würde er heute sicher sowieso nicht mehr verkaufen. „Araber“, fügt er noch vielsagend hinzu, zuckt mit den Schultern und atmet schwer.
Naja, warum denn nicht Araber, Herr Dunkeloh? Haben wir was gegen Araber? Ich jedenfalls nicht. Es ist eben ein fremdes, faszinierendes exotisches Volk mit anderen Sitten und Gebräuchen. Da läuft es eben völlig anders als bei uns. Da ist ja nichts gegen zu sagen, oder?
„Die feiern sicher irgendetwas“, bemerke ich. „Fröhliche Menschen eben. Vielleicht hat jemand Geburtstag oder der Diktator des Landes ist endlich tot.“ Hat der Libanon eigentlich einen Diktator? Zur Zeit, glaube ich, nicht, aber ob es da so richtig rund läuft, weiß ich momentan auch nicht.
„Da is‘ immer Rämmidämmi!“, presst Dunkeloh aus schmalen Lippen heraus. „… aber sons natürlich … sähr nett, woll“, fängt er sich schnell wieder.
„Natürlich“, sagen wir. Und ich füge noch hinzu, dass wir da jetzt auch nicht stören wollen bei dieser schönen Feier.
Wir drehen uns also um und an der Tür gegenüber lesen wir auf dem nur noch an einer Schraube baumelnden Namensschild Ashok Bhattacharya und halten in bewundernder Andacht einen Moment die Luft an. Donnerwetter, was für ein toller Name. Wir heißen bloß Knippschild.
„Härr Bhattacharya is‘ Inder“, erklärt Herr Dunkeloh kraftlos seufzend, als sei es ihm auch langsam zu viel mit der ethnischen Vielfalt in diesem Haus.
Inder? Wie spannend! Und erstaunlich. Noch eine weitere Nation, die es sich in unserem Haus gemütlich macht. Seht ihr, es geht. Die ganze Welt unter einem Dach. Und alle verstehen sich.
Während die einen feiern, widmet sich ein anderer Mitbewohner vielleicht der spirituellen Meditation. Ob er wohl zuhause ist und wir ihn mal ansehen können, den geheimnisvollen Herrn Inder? Steffi wirkt auch sehr interessiert und nickt mir zustimmend zu.
Herr Dunkeloh scheint uns die Frage anzusehen und sagt, in sein Schicksal ergeben: „Ich kann ja ma klingeln, abba ich glaube nich …“
Aus dem Inneren der Wohnung hören wir dumpf stampfende Beats und tiefe Bässe, Technomucke, und als Dunkeloh auf den Klingelknopf drückt, übertönt eine sehr schrille Glocke ganz locker die Beats.
Wir erwarten den Herrn Maharadscha voller Aufregung, Spannung und auch ein wenig Beklommenheit. So eine hochherrschaftliche Begegnung hat man ja nicht jeden Tag. Und als die Tür sich langsam öffnet, sind wir doch reichlich erstaunt und auch etwas enttäuscht, keinen indischen Herrscher mit prachtvoll schmückendem Turban, weit geschwungenem Bart, einem weißen Gewand und einem Tiger an der Seite vor uns stehen zu sehen, sondern einen jungen Mann in neonbunten Turnschuhen, der uns mit einem Handy am Ohr fragend ansieht. Die Beats donnern ganz gut. Wie er dabei telefonieren kann, ist uns ein Rätsel, aber er kann’s.
Vielleicht ist er ja auch nur der Diener des Herrn Maharadscha. Aber er ist auf jeden Fall ein sehr sympathischer Mann mit einer etwas zu großen, ganz unmodernen Brille auf der zarten Nase und leider viel zu dunklen Ringen unter den Augen. Vielleicht muss er nachts lange im Palast arbeiten.
Ich muss kurz an den Brillenkorb in der Markt-Apotheke in Leckede denken, der immer voller ausgedienter Sauerländer Brillen ist, die dem Schild zufolge nach Indien geschickt werden sollen. Immer hoffe ich beim Anblick dieses Korbes zusammengewürfelter, ausrangierter und hässlicher Brillen, dass die Inder aus dem Korb auch die Gestelle mit der richtigen Dioptrienzahl herausfischen werden, wenn der Korb dann mal in Indien landet. Unser junger Mann hat sicherlich nach Dioptrien ausgewählt, denn schön ist das Gestell nun wirklich nicht.
Ansonsten ist der Mann von kleinerer, fast zarter Statur und sicherlich sanftem Wesen. Sehr nett.
„Mommand!“, sagt er in das Handy und es soll wohl „Moment“ heißen. Aber es klingt, als hätte Herr Bhatta…dingsda eine heiße Kartoffel im Hals stecken. Dann sagt er zu uns: „Jo, bidda?“, was wohl „Ja, bitte?“ heißen soll.
Herr Dunkeloh geht zwangsläufig wieder in den Makler-Aktionsmodus und sagt recht laut, um die Beats zu übertönen: „Härr Bhattacharya, dat sin Härrschaften, die sich für dat Haus interessiert haben.“ Aha, wir sind schon in der Vergangenheit. Vermutlich hat er uns als potenzielle Käufer schon längst abgeschrieben. „Es soll ja verkauft werden, woll. Äh, wir könn’n grade sicher nich’ in Ihre Wohnung?“, fragt Dunkeloh voller Hoffnung, wie mir scheint.
Doch Herr Bhattacharya hebt die linke Hand, er muss noch einmal kurz etwas in seiner Kartoffelsprache in das Handy sagen, aber der Lärm aus der Libanon-Wohnung stört dabei doch gewaltig. Da verwandelt sich der junge, sanfte Herr Inder plötzlich in einen wütend fauchenden bengalischen Tiger, macht einen federnden Satz auf die arabische Tür zu, bollert mit aller Kraft dagegen und brüllt mit der Kartoffel im Hals: „Terrowisten! Terrowisten! Stopp de Rradau. Stopp de Rradau! Scheise Kameltweiberr!“
Dabei bollert er recht ungehalten und für so einen schmächtigen kleinen Inder erstaunlich kräftig gegen die libanesische Tür, die aber standhält, und der orientalische Lärm verstummt tatsächlich für einen kleinen, hoffungsvollen Moment. Nur der Schlangenbeschwörer setzt sein schräges Spiel unermüdlich fort.
„Värrpiss disch, Kanacke!“, kommt es dann aus dem Holz der Tür, aber der Inder hört gar nicht mehr hin, sagt nur noch mal kopfschüttelnd „Scheise Kameltweiberr“ und dann wendet er sich betont freundlich an uns.
„Bidda, komman Sie rrein!“ Und er tritt höflich zur Seite, um uns einzulassen. Vielen Dank. Hinter uns geht die Kameltreiber-Party munter weiter.
Die Wohnung des freundlichen Radschas riecht nicht nach Räucherstäbchen und wir hören auch keine Sitarmusik, sondern nur diesen Techno-Beat aus einem riesigen Ghettoblaster, dessen Leistung der Inder jetzt allerdings freundlicherweise drosselt. Die Wände sind nicht mit wertvollen Teppichen und Seidenstoffen behängt und es räkeln sich keine schönen indischen Jungfrauen auf dem Sofa. Wahrscheinlich aber auch, weil das gar nicht gehen würde, denn dieses Sofa ist über und über mit CDs, Diskettenlaufwerken, Festplatten und was weiß ich noch allem übersät. Die ganze Wohnung ist ein einziges Chaos aus elektronischen Geräten und Computerkram. Monitore, Rechner, Kabel … alles liegt zwischen Getränkedosen und leeren Pizzakartons überall herum und zeugt von Herrn Bhatta…charyas Interesse für die moderne Welt der Informationstechnik. Ein interessierter junger Mann also, der offensichtlich wenig Zeit und viel Arbeit hat! Sehr schön. Das sieht man doch gern.
Und da Herr Bhatta…charya so unglaublich viel zu tun zu haben scheint – das Handy klingelt schon wieder –, gebe ich Herrn Dunkeloh zu verstehen, dass wir ihn bei seiner elektronischen Arbeit dann auch nicht weiter stören wollen. Also lächeln wir ihm noch einmal zu und lassen ihn wieder in seinem sympathischen Chaos allein. Die Wohnung ist aber sehr schön geschnitten. Die Techno-Beats bollern wieder.
„Ganz oben, geg’nüber vom Vietkong …“, Herr Dunkeloh unterdrückt einen albernen Lacher, „… wohnt noch der Härr Wukuada“, ruft er über den arabischen Lärm und die Beats. „Der is‘ abba nich zuhause. Der studiert, woll?“
„Wukuada?“
„Ja, der kommt aus …“
Dann macht er eine bedeutungsvolle Pause, um für das letzte Land dieser Erde noch mal kräftig Anlauf zu nehmen. Und dann sagt er: „Ghana.“ Und damit scheint er jetzt dann wohl endlich durch zu sein. Alle Länder der Welt sind in seiner heutigen Führung vorgekommen. Und wie es aussieht, ist er ganz froh, es endlich hinter sich gebracht zu haben. Wir haben praktisch alles gesehen.
Griechenland, Türkei, Russland, Deutschland, Vietnam, Libanon, Indien und … jetzt dann auch noch Ghana. Die ganze Welt unter einem Dach. Ist das nicht wunderbar!
„Ach“, sagt der arme Herr Dunkeloh dann und fasst sich an den Kopf, einen habe er noch vergessen. „Es gibt ja noch Härrn Wozniak hint’n im Hof, im Anbau, woll.“ Dabei deutet er zu einem der Treppenhausfenster nach hinten raus, ohne selber hinzugucken. „Der betreibt da so ’ne kleine Druckerei. T-Shirts, Flyer, Plakate und so … woll. Is‘ aber auch wohl Künstler un malt.“
Aha. Wir blicken durch das halbblinde Treppenhausfenster nach unten in den Hof und sehen ein Gebäude, das irgendwie gar nicht hierherzugehören scheint. Es sieht aus, wie aus einer großen Parkanlage hierher verbannt. Wie ein alter Teepavillon wirkt es fast. Es ist rund und flach und hat in der Mitte oben eine gläserne Kuppel, durch die man in das Innere sehen könnte, wenn die Scheiben nicht so schmutzig wären. Vielleicht war hier früher wirklich einmal ein Park oder Garten, bevor man alles zugebaut hat, und dieser Pavillon stand mittendrin. Hübsch. Und darin arbeitet also nun dieser Herr … Künstler … wie hieß er doch gleich? Wozniak!
„Pole!“, sagt Dunkeloh und muss jetzt schon laut lachen. Er kann wohl nicht mehr an sich halten, bremst sich dann aber noch mal elegant ab und räuspert sich nur.
Ach ja. Ein Pole also auch. Die Welt ist groß. Nun gut, wir wollen Herrn Dunkeloh ja auch nicht weiter strapazieren. Er ist einfach am Ende. Er kann jetzt nicht mehr und wir haben ja alles gesehen. Wir sind praktisch durch.
„Gut“, sage ich und schaue Steffi erwartungsvoll und aufmunternd lächelnd an. Ist ja schon ganz schön anstrengend so eine Hausbesichtigung als zukünftiger Besitzer. Man darf sich ja nicht blenden lassen und muss für alles einen kritischen Blick haben. Aber auch Steffi scheint genug gesehen zu haben.
„Dann gehen wir also. Alles sehr schön. Vielen Dank, Herr Dunkeloh!“
Dankbar, endlich erlöst zu sein, folgt er uns die Treppe nach unten, vorbei am libanesischen Volksfest, auf dem gerade die Hinrichtung stattzufinden scheint oder auch vielleicht nur ein Hammel geschlachtet wird. Das arabische Gejohle ist groß.
Vorbei an Herrn Horstkötters Tür, hinter der wir jetzt den Radetzky-Marsch vernehmen, den ich noch aus der Single-Kiste meines Vaters kenne. Tadda-buff-tadda-buff-tadda-buff-tata! Und als wir an der Wohnung des Ehepaars Bolschakow vorbeikommen, hören wir doch tatsächlich handgespielte Klaviermusik und bleiben einen Moment andächtig lauschend davor stehen. Wie schön. Richtige Künstler in unserem Haus.
„Was ist mit dem Keller?“, frage ich Ich hätte zu gerne noch die Heizungsanlage bewundert, denn davon verstehe ich ein wenig, weil ich ja von meinem persönlichen Klempner Helmut Vonderbrake, der sich immer rührend um die alte Heizung in unserem eigenen Haus in Leckede kümmert, immerhin so einiges gelernt habe.
Dunkeloh sieht mich erschrocken an und wühlt dann noch mal nervös durch sein gewaltiges Schlüsselbund.
„Oh, ich kann getz leider den Schlüssel nich find’n, Herräh … Knippschild. Der müsste noch in meim‘ Büro … is‘ abba alles … in Ordnung“, ergänzt er eifrig. „De Heizung läuft, woll.“
Na gut, denke ich, wenn die Heizung läuft … das ist ja das Wichtigste, besonders jetzt im Winter … und dann schiebt er uns auch ganz schnell und hastig nach draußen.
Unten vor der Tür schnappt Herr Dunkeloh gierig nach Sauerstoff und fächelt sich mit dem Aktenordner eifrig Luft zu. Doch er erwischt natürlich nur den sehr fetthaltigen, giftigen Dunst vomTakis Orakel. Dennoch versucht er auch schon wieder, etwas dabei zu lächeln. Es ist also überstanden.
Aus. Vorbei. Durch. Das war’s.
Gerade will er noch zu ein paar abschließenden Worten ansetzen, um uns offensichtlich zu verabschieden, da kommt ein junger Schwarzafrikaner mit einer großen ledernen Einkaufstasche des Weges und direkt auf uns zu. Er nickt Herrn Dunkeloh freundlich zu und geht schnurstracks an uns vorbei ins Haus. Der obere Reißverschluss der großen Tasche ist ein wenig geöffnet, ein rotbraunes Huhn streckt den neugierigen Kopf heraus und sieht uns verwundert an. Es scheint lebendig und macht kurz und bündig „Gack“.
Ein Huhn?
Vielleicht habe ich es aber doch nicht richtig gesehen und gehört, aber nach Steffis ratlosem Blick zu urteilen, könnte es tatsächlich ein lebendes Huhn gewesen sein. Der schwarze Mann ist längst, eine fremde, vielleicht afrikanische Melodie pfeifend, im Haus verschwunden.
Herr Dunkeloh scheint es wohl auch gesehen zu haben, denn er bricht jetzt seinerseits in ein hysterisches Lachen aus, dass uns angst und bange wird.
„Dat war der Wukuada!“, brüllt er und lacht und lacht … „Ghana! Hahaha…“
Wir haben etwas Angst um Herrn Dunkeloh, doch da hat er sich auch schon wieder gefangen und schüttelt unaufhörlich den Kopf, als könne er das alles gar nicht begreifen.
„Ich brauch getz ‘n Schnaps!“, sagt er dann und deutet mutig auf den Eingang zum Takis Orakel und sein Blick fragt, ob wir mitkommen.
Oh, denke ich und betrachte voller Sorge die fetten Rauchschwaden, die noch immer aus dem Inneren dieser geheimnisvollen Lokalität wabern.
Nun ja, warum eigentlich nicht? Das Orakel gehört ja schließlich auch zum Haus und wir haben es noch gar nicht gesehen. Ich zucke mit den Schultern, hole noch das Einverständnis von Steffi ein, die ebenfalls gleichgültig die Mundwinkel verzieht, aber ihr Schicksal bereits besiegelt sieht, und schon betreten wir furchtlos und auch neugierig den schmierig, dunklen, räuchernden Frittenpalast.