Читать книгу Reisch un berümp! - Reiner Hänsch - Страница 9

Оглавление

4

Walt Bone and the Hurricanes

„Till, du bist ja gar nicht bei der Sache!“ Herr Westermann, unser Klassenlehrer, steht direkt - ganz nah - vor mir und sieht mich entrüstet an. Mit Recht. Ich habe tatsächlich nicht zugehört, um was es eigentlich in seinem Unterricht geht und sehe ihn erschrocken und interessiert an. Er hat heute einen kleinen Pickel mit weißer Spitze rechts unten an der Nase. Könnte man schon ausdrücken. Der ist absolut reif.

„Was ist denn los mit dir?“, fragt er streng, aber auch ein wenig besorgt, meine ich. „Was habe ich gerade gesagt?“

„Sie haben gesagt: ‚Was ist denn los mit dir?’“, antworte ich wahrheitsgemäß. Die Klasse brüllt.

„Tillmann, Tillmann“, seufzt Herr Westermann, schüttelt den grauhaarigen Kopf und zwinkert mir mit seinem rechten Auge zu. Das heißt aber nicht, dass er mir verschwörerisch ein Auge kneift. Nein, nein. Es muss wohl irgendwas mit seinen Nerven zu tun haben. Das Auge zuckt nämlich öfter mal. Das kennen wir alle schon.

„Das hätte ich von dir nicht erwartet. Tut mir leid, aber du schreibst mir für morgen zwei Seiten zum Thema ‚Warum ist es wichtig, dem Unterricht zu folgen?’ Zwei Seiten ohne Rand!“

Zwei Seiten ohne Rand. Ooch. Von mir aus. Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel die Frage, wie ich heute Nachmittag und überhaupt die ganze nächste Zeit doch noch zu Knoche komme, um mir meine Gitarre zu verdienen.

„Hast du mich auch verstanden?“, fragt Herr Westermann zur Sicherheit noch mal und beugt sich ganz dicht zu mir herunter. Und da kann ich seinen Pickel noch mal ausgiebig bewundern und könnte fast dranfassen. Ist das ein Ding! Ich kann gar nicht wieder weggucken.

„Sieh mir in die Augen, wenn ich mit dir rede!“

„Geht klar, Herr Westermann. Ja, ja ...“, versichere ich ihm.

„Und sag’ nicht ’Ja, ja’, das heißt …“

Aber ich weiß ja schon, was das heißt.

Kopfschüttelnd entfernt sich Westermann von meinem Platz, fasst sich kurz an den Pickel und setzt dann die Betrachtungen über die Landwirtschaft in der Niederrheinischen Tiefebene fort. Sehr interessant. Ab und zu zuckt das rechte Auge.

Manchmal denke ich, vielleicht meint der Westermann es ja wirklich gut mit mir, aber ich mache es ihm nicht einfach. Den Rest der Stunde verbringe ich damit, sehr interessiert auszusehen, immer in Herrn Westermanns Richtung zu blicken, oft zu nicken und krampfhaft darüber nachzudenken, wie mein trauriges Leben denn jetzt weitergehen soll. Dann rettet mich der Gong in die Pause.

„Hallo, Abi“, begrüße ich den einen meiner beiden besten Freunde, der eigentlich Abdullah heißt. Abdullah ist fast sechzehn und in meiner Parallelklasse auf dem Heinrich-Lübke-Gymnasium. Er hat halt mal ’ne Ehrenrunde gedreht. Was soll’s? Abi hat eben gewissenhaft den Lernstoff vertieft!

Abdullah ist Türke, aber in Köln-Kalk geboren und wohnt seit drei Jahren hier in Jückerath. Er spricht wie Frau Dröge-S. voll den Kölner Slang mit „misch“ und „disch“ und dem „janz dicken, breiten L“. Türkisch kann er natürlich auch. Er ist schließlich der Sohn von Herrn Cengiz, dem stolzen Besitzer der Döner-Bude ’Kebap-Lüxüs’ gleich neben der Post.

Und Abdullah ist genau so, wie man es praktisch bei seinem Namen schon fast hören kann: leider einigermaßen dick, also … sagen wir mal, korpulent. Sein Ernährungsplan wird natürlich hauptsächlich aus den Spezialitäten der Döner-Bude zusammengestellt. Vielleicht gibt’s ja auch schon zum Frühstück Döner mit der fetten weißen Spezialsoße, die wirklich unheimlich lecker ist. Bei den anderen heißt er wegen seines beachtlichen Umfangs nur der Doppel-Whopper.

Aber wenn er das hört, wird er wahnsinnig wütend und sieht dann allerdings auch echt gefährlich aus. Dann zittert und bebt sein gewaltiger Körper, sodass die rundum angebrachte Fettschicht ein wenig wabbelt, dann fletscht er die Zähne und brüllt wie ein Nilpferd, das einen besonders schlechten Tag hat, weil der Wärter das Fressen noch nicht gebracht hat und keiner darf ihm dann zu nahe kommen. Dabei ist Abdullah lammfromm und würde natürlich nie jemandem etwas tun. Abi ist ein super Typ!

Jetzt verschlingt er gerade kräftig kauend irgendetwas, das wie ein erkaltetes Dönerbrötchen aussieht.

„Isst du das kalt?“, frage ich ihn entsetzt.

„Ja, wieso denn nisch? Läcker!“, mumpft er zurück und kaut andächtig weiter.

Na gut.

Ich erzähle ihm dann, was vorgestern alles so passiert ist, als ich so arglos in der trügerischen Ruhe und Sicherheit von Jückerath herumstiefelte, und er hört sehr interessiert zu und ab und zu entfährt ihm ein sehr empörtes ’Boah!’

„Die Dräcksäcke!“, sagt er dann abschließend. „Dat jibbt Rache! Dat Jeld holen wir uns zurück.“

„Ich glaube, Rexona hat’s schon ausgegeben“, sage ich schulterzuckend und reichlich ratlos und Abi beißt erst mal wieder in sein Brötchen.

„Na, ihr Versager!“

Oh, der hat uns gerade noch gefehlt. Ruckartig schießen unsere Köpfe herum und beinahe hätte Abdullah sofort ohne Einschalten des Gehirns erst mal zugehauen und vielleicht hinterher die Lage geklärt. Ich kann ihn gerade noch bremsen.

„Was willst du, von Stetten?“, knurre ich den Störenfried an.

Laurenz von Stetten ist eine Klasse über uns und der ekligste aller ekligen Fatzkes. Er ist der Sohn von Herrmann von Stetten, Chef der von Stetten-Markenwerbung Werbeagentur. Schwerreich und schwer blöd. Arrogant und überheblich. Unsere gegenseitige Abneigung ist jahrhundertealt.

Laurenz, wie immer umgeben von einer ganzen Meute seines schleimigen Hofstaats, schleudert effektvoll eine lange blonde Locke aus seiner blassen Stirn und grinst uns voll provo an.

Und dieser Laurenz hat leider auch eine Band.

Er ist der Sänger und Boss der ’Plastic Poppers’. Ja, so heißen sie. Meine Verachtung dafür. Was für ein unterirdisch bekloppter Name! Und sein alter Herr hat den Jungs mal eben so ganz nebenbei teure Instrumente und sogar richtige Verstärker gekauft. Einfach so. Das ist schon ziemlich ungerecht. Die blöden Poppers haben gar nichts dafür getan, während unsereins Zeitungen austragen muss oder niedere Arbeiten an Tankstellen verrichten muss.

Jaa, gut, ich geb’s zu, die Poppers beherrschen ihre Instrumente ganz ordentlich, aber es kommt nur so ’n luschiges Schubi-du-Zeugs dabei heraus. Das ist kein richtiger Rock. Und wie affig und schmierig der blöde von Stetten dazu immer über die Bühne gockelt … wie so ’n Gummi-Elvis biegt er sich und hält das für ganz besonders cool … naja, aber was rede ich? Im Grunde bin ich ja vielleicht nur neidisch … denn die Mädchen stehen sehr drauf. Ich nicht.

Von Stetten ist ein reicher, blonder Blödmann, und ich kann ihn einfach nicht leiden!

Er kommt noch näher.

„Hab gehört, du bist ’n ganz toller Pianist, Heisterkamp!“, näselt er mich provozierend grinsend an, rückt ganz nahe an mich ran und alle anderen stehen erwartungsvoll um uns herum. Kommt mal alle her! Es gibt sicher wieder was richtig Tolles zu sehen! Die zwei Kontrahenten betreten soeben die Bühne: Laurenz von Stetten, genannt der „Üble Baron of Lacoste“ gegen Till Heisterkamp, den „Gemeinen King of Second-Hand“! Runde Eins!

„Woher willst ’n das wissen?“, gebe ich ihm gereizt zurück.

„Ach, man hört so Einiges. Den ’Fröhlichen Landmann’ sollst du ja ganz besonders gut draufhaben.“ Dabei dreht er sich grinsend zu seinen Fans um und wartet auf den unverdienten Beifall, der natürlich auch prompt kommt.

Er hat mich also spielen hören.

Ob er was mit dem Ronny Rexona-Überfall zu tun hat, geht mir plötzlich so durch den Kopf? Ich würde es ihm glatt zutrauen.

„Musst mal richtige Musik machen, Heisterkamp. Nicht Klimper-Klavier. Wie öde! So mit elektrischen Gitarren und Schlagzeug und so. Wenn du nicht aussehen würdest wie ein Penner, könntest du ja mal bei uns vorbeikommen.“

Und dann schaut er missbilligend an mir herunter bis zur ausgebeulten Cordhose und den ausgelatschten Turnschuhen, verzieht angewidert die Mundwinkel und sagt: „Aber so geht das nicht.“

„Dann sieht er zu Abdullah rüber und schüttelt den Kopf.

„Nein, der Doppel-Whopper darf leider auch nicht bei uns rein. Der kommt ja auch gar nicht durch die Tür. Ha, ha, ha!“

Oh, oh, das hätte er vielleicht lieber nicht sagen sollen. Abdullah hat seine Dönermahlzeit längst hinter sich, schon einmal gerülpst und atmet jetzt ganz tief ein. Er bläst sich langsam auf und wird noch dreimal dicker und gewaltiger, als er sowieso schon ist. Oh, Abi, brems’ dich, ehe es zu spät ist … !

Zu spät.

„Jetzt pass ma’ jut auf, du schleimigen Oberfatzke“, walzt Abdullah ganz breit und wütend aus seinem rheinischen Sprechorgan raus und ein paar feuchte Krümel vom Döner-Brötchen fliegen mit, sodass Laurenz erschrocken ausweichen muss.

„WIR … nä“, macht er unbeirrt weiter und holt noch tiefer Luft, „WIR haben sällber ’ne Bänd. Zu öjsch kommen wir janz bestimmt nisch, ihr Lackaffen-Popper! Wir sin’ doch wieso zehnmal bässer alls ihr!“

Jetzt war’s also raus, unser eigentlich großes, absolutes Top-Secret-Geheimnis.

„Sie haben selber ’ne Band! Ach, guck mal an.“ Da ist der feine Laurenz wohl für einen Moment echt von den weißen Socken und dreht sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu seinen ebenfalls staunenden Fans um.

„Ja, … was macht ihr denn so für Musik? Rock?“, hat er sich schnell wieder gefangen. „Nein, wartet, ich kann’s mir schon denken.“ Und weil er ja eine Klasse über uns ist und sich für sich sowieso für was Größeres hält, sagt er: „Die Kleinen machen sicher MINI-ROCK!“

Die Brüller sind eindeutig auf seiner Seite. Das kann man nicht leugnen.

„Kann man euch denn auch mal hören, wenn ihr so verdammt gut seid? Was habt ihr denn außer dem ’Fröhlichen Landmann’ noch so drauf?“

Die Meute brüllt weiter und Laurenz ist wieder mal der King of Schulhof. Jetzt hat er den Vogel wirklich abgeschossen und den bis jetzt besten Witz der Woche gelandet. Am lautesten lacht allerdings Vanessa Hülsemann. Das macht mich schon etwas nervös und tut mir auch ’n bisschen weh. Irgendwie denke ich ja doch noch, sie könnte vielleicht in einem ganz entfernten, längst vergessenen Winkel was für mich übrig haben.

„Wer gehört denn noch zu eurer Band? Vielleicht die alte Dröge-Semmeling? Die wär’ doch was für euch, die kann doch Keyboards!“

Kein Halten mehr. Irgendwie habe ich das Gefühl, der ganze Schulhof, ganz Jückerath, die ganze Welt lacht mit.

„Abi, du bist so ein Trottel“, zische ich ihn an und schicke ihm meinen tödlichsten Blick. Abdullah windet sich wie ein Aal und verdreht die Augen.

„Ja, tut mir lejd“, murmelt er, „aber isch bin nisch dick – hab nur schweren Knochenbau!“

„Ja, ja, ich weiß das doch.“

Dann zieht die von-Stetten-Meute grölend weiter. Ihren Spaß haben sie ja mal wieder gehabt. K.O. in der ersten Runde.

„Mensch, Abi, wie konntest du das nur erzählen? Wir sind doch noch nicht so weit“, mache ich ihn an.

„Is’ mir so rausjerutscht“, bringt er kleinlaut heraus. „Dem Blödmann muss man et doch mal zeijen! Man kann sisch doch nisch allet jefallen lassen.“

Dann holt uns der Gong zurück in die Klasse.

„Ah, da bist ja“, begrüßt mich der alte Knoche am Nachmittag in seinem Laden. Es scheint ihn etwas zu bedrücken. „Pünktlich wie die Maurer. Des g’fällt mir.“

„Hallo, Herr Knoche“, sage ich und trete ein. Es ist genau vier Uhr und ich bin da. Wie abgemacht. Tja, wie habe ich das gemacht, wo ich doch so ’ne Art Hausarrest mit Freigang zur Schule habe. Ganz einfach: gelogen hab’ ich mal wieder. Wird langsam zur schlechten Gewohnheit. Ja, ja, ich mach das nicht gerne, aber manchmal geht’s eben nicht anders.

Ich hab’ gesagt, ich müsste noch ’n paar wichtige Sachen für die Schule besorgen, und Mama Sabine hat’s mir auch geglaubt. Papa Dieter ist heute Nachmittag bei ’Saftig & Grün’.

Also, ich bin auf jeden Fall erst mal weg. Für heute jedenfalls.

„I muaß glei ins Krank’nhaus“, sagt Knoche aufgeregt. „Die hab’n mi ang’ruf’n. Der Gunni, du woaßt scho, geht’s wieder schlechter. I muaß sofort hin.”

„Oh, das tut mir leid“, entgegne ich ehrlich.

„Ja, do kann ma nix mach’n“, antwortet er traurig. „Amol besser, meist schlechter und am End …“ Und dann schluckt er und nach einer kleinen Pause sagt er: „Pass auf, Till, kannst ja vielleicht a bisserl aufräum’n und so. Schau amol. Aber do hint’n, hinter’m Vorhang hast nix zum such’n. Do brauchst nix z’mach’n, des is … äh, des is privat. Also, i möcht do nix durcheinander hab’n, verstehst?“

„Na klar, ich bin nur hier vorne im Laden“, versichere ich ihm.

„Guat. I bin in zwoa Stund’ wieder do“, sagt er und nimmt hastig seine Baseballkappe vom Haken und zieht den Pferdeschwanz hinten durch die Lasche. „Und dann zeig i dir noch a bisserl wos auf der Gitarr’n, wenn’st noch Zeit hast.“ Dabei grinst er mich an und kneift mir ein Auge. Ein echtes. Er hat keine Nervenkrankheit.

„Ja, super, Herr Knoche. Dann bis später.“

„Pfiat di.“

Dann verschwindet er und ich sehe ihm nach, wie er über den Dorfplatz zu seinem Auto hastet. Er hat einen klapprigen knallblauen Citroen 2CV Lieferwagen. Uralt. Kennern auch bekannt als Kastenente.

Wenn meine Eltern wüssten, dass ich jetzt doch hier bei Knoche sitze, ich glaube, mein Vater Dieter würde glatt schon wieder ausrasten. Er war ja schließlich deutlich genug.

„Halt dich von dem Verrückten weg!“, das haben sie ja beide gesagt. Und ich habe es auch genau verstanden.

Ich seufze also noch einmal tief durch, weil das Leben nicht einfacher wird und sehe mich dann neugierig im Laden um. Natürlich geht mein erster Blick zur Gitarre. Aber sie hängt noch immer da und wird ab jetzt brav warten, bis ich das Geld für sie bei Knoche zusammengearbeitet habe. Wenn ich das überhaupt schaffe. Wie oft muss ich denn dann noch lügen und mich heimlich wegstehlen? Oh, wenn das mal überhaupt funktioniert.

Gut, … was machen wir jetzt?

Ich sehe mich voll Lust auf ehrliche Arbeit in der Gerümpelhalde um. Wäre vielleicht nicht schlecht, wenn ich mal etwas System reinbringe. Also beschließe ich, zunächst mal im Schaufenster von innen etwas Ordnung zu machen. Erst mal alles raus und nach hinten, damit man das Fenster mal putzen und richtig aufräumen kann - und neu dekorieren. Alles ist so verflixt staubig hier. Ob der Knoche vielleicht hinten in seinem Kabuff einen Staubsauger hat? Obwohl er zwar gesagt hat, ich soll da nicht rein … naja, ich bring ihm schon nichts durcheinander.

In seinem finsteren Hinterzimmer ist es gruselig dunkel und ich suche nach einem Lichtschalter, um überhaupt was erkennen zu können. Ah, da habe ich ihn gefunden. Die nackte Glühbirne unter der Decke beleuchtet einen sehr seltsamen Raum. Es scheint so was wie das Büro des alten Knoche zu sein. Ich sehe einen hoffnungslos mit Bergen von Zeitschriften und Papier überfüllten kleinen Schreibtisch. Daneben steht ein brummender Kühlschrank und an der Wand hängt ein Regal mit allem möglichen und unmöglichen Krimskrams.

Eine Rumpelkammer!

Einen Staubsauger gibt’s hier wahrscheinlich nicht. Mein Blick fällt in die halb geöffnete oberste Schublade des kleinen, etwas schmierigen und abgeschabten Schreibtisches. Und da liegt so ein Hefter mit völlig vergilbten Zeitungsausschnitten drin. Er fällt mir nur auf, weil der oberste Zeitungsausschnitt ein Foto von einer Band zeigt. Dafür habe ich einen Blick und es interessiert mich natürlich.

Also nehme ich den Hefter vorsichtig aus der Schublade, schaue noch mal nach vorne in den Laden – ich will wirklich nicht schnüffeln, ehrlich – nehme den Hefter mit nach vorne und sehe mir den ersten Artikel an.

Rechts oben steht „14.02.1968“ – verdammt lange her - und über dem Artikel in dicken Buchstaben:

„WALT BONE AND THE HURRICANES - HEUTE ABEND IM PFARRHEIM SANKT JOSEF!“

Und darunter eben dieses Bandfoto. Fünf Milchbubis, die ganz harte Typen sein wollen und deshalb total böse gucken, als wollten sie dem Betrachter dieses Bildes auf jeden Fall Angst einjagen oder verscheuchen. Und der allerhärteste Typ in der ersten Reihe mit dem allerbösesten Gesicht … ist eindeutig Walter Knoche.

Walt Bone, ja klar. Knoche!

Jou, das ist er. Der alte, nein, der junge Knoche, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt mit langen Haaren, steht da breitbeinig, das Maul aufgerissen mit ’ner roten Gitarre. Das ist doch meine Gitarre! Die, die vorne im Laden hängt. Ganz sicher. Das ist sie. Na, jetzt werde ich aber noch neugieriger und – ich muss mich dafür entschuldigen - fange doch an zu schnüffeln. Was gibt’s denn auf den anderen Zeitungsausschnitten noch zu sehen? Ich blättere also ganz zittrig und nervös weiter.

Es gibt noch mehr Artikel und Fotos von dieser Band. Im nächsten Zeitungsausschnitt heißen sie allerdings schon „Mufty Walter and the Purple Doom“, sehen aus wie schillernde Paradiesvögel in engen Klamotten mit Frisuren wie Pelzmützen und sie hätten angeblich die Bevölkerung von Hinterwengern auf einem Schützenfest in den Wahnsinn getrieben. Vierhundert Leute waren wohl total begeistert, steht da. Auf dem Foto sieht man die Band auf einer kleinen Bühne, die als Kulisse kitschig gemalte Tannenbäume und Berge hat. Und darüber steht „300 Jahre Hinterwenger Schützen - Glaube - Sitte - Heimat“. Und vorne auf der Bühne steht Walter Knoche an einem Mikrofon und reißt sein Maul auf. Er singt. Knoche ist jetzt etwas älter und seine Mähne ist mächtig aufgeplustert. Im Vordergrund sieht man junge Leute geradezu ekstatisch tanzen.

„WATTS MAN AND THE EASY RIDERS

Gewinner beim Beatwettbewerb vom

Berchtesgadener Anzeiger“

heißt es in einem anderen Ausschnitt vom 20. Mai 1975.

„WATTS MAN VOR DEM DURCHBRUCH?“, steht unter dem Bild. Darunter ist ein Interview mit Watts Man, also Walter Knoche, in dem man erfährt, dass die Band den Beatwettbewerb gewonnen und damit einen Schallplattenvertrag mit einer großen Firma bekommen hat und der Durchbruch in Kürze zu erwarten sei. Wow!

Das wird ja immer besser. Ich blättere ganz aufgeregt weiter und traue meinen armen Augen nicht.

„WATZMANN MIT DEM ERSTEN

ALBUM ZUM ERFOLG!“

steht da wieder in ganz dicken Buchstaben in der Münchner Rundschau vom 30. Juni 1976.

Jetzt heißt der Knoche also Watzmann und es hat scheinbar geklappt.

Der Durchbruch.

Und „Watzmann“ kenn’ ich. Das ist natürlich einmal dieser Berg in den Alpen - und eine Band. Also, ich hab’ jedenfalls schon mal was davon gehört. Alpenrock! Nicht unbedingt mein Ding, aber im Keller von Alex’ Mutter stehen ein paar Platten von denen. Noch so riesige Papphüllen mit großen schwarzen Scheiben drin, die man auf keinen Fall verkratzen darf. ’Watzmann’. Das war mal ’ne richtig berühmte Band. Die haben sogar goldene Schallplatten bekommen und jede Menge Fernsehauftritte gemacht.

Ein Foto ist auch dabei und in der ersten Reihe steht … ist ja klar … Walter Knoche. Diesmal ganz groß im Bild. Vom Rest der Band ist fast nichts mehr zu sehen. Genau, das ist der Typ von den Schallplatten. Walter Knoche ist der Watzmann! Ich werd’ verrückt.

Das glaubt mir keiner.

Dann gibt es keine weiteren Ausschnitte mehr. Also gehe ich zurück ins Kabuff und lege den Ordner wieder genau so in die Schublade zurück, wie er dagelegen hat. Ich bin immer noch schwer beeindruckt und ziemlich platt. Der Mann ist berühmt. Also, … er war mal berühmt.

Im schummrigen Halbdunkel sehe ich jetzt auch, was das für seltsame gerahmte Bilder sind, die da hinten an der Wand lehnen.

Das sind Goldene Schallplatten! „… verliehen an Walther Knochinger als Sänger, Texter und Komponist der Gruppe ’Watzmann’ für den Verkauf von 750.000 Exemplaren der LP Der Watzmann groovt!’’“

Knochinger? Und Walther mit h.

Und die nächste „… an Walther Knochinger für den Verkauf von über 1.000.000 Tonträgern …“

Das gibt’s nicht.

Ich bin hier im An- und Verkauf vom verrückten, alten Knoche, einer hoffnungslosen Gerümpelhalde mit nutzlosem Kram bis unter die Decke, und der Kerl ist ’n ehemaliger Rockstar. Naja, also, Alpenrockstar. Aber wieso heißt er auf den Platten Knochinger? Mmh. Seltsam, seltsam.

Die Türbimmel reißt mich aus meinen wirren Gedanken und ich erschrecke mich zu Tode. Oh, verdammt. Ich husche durch den Perlenvorhang nach vorne und da steht er auch schon da und sieht mich schief an.

„Hallo, Till“, sagt der Watzmann, also, ich meine, der alte Knoche. Er ist schon wieder zurück. Der Perlenvorhang raschelt noch ein wenig, aber ich hoffe, er bemerkt es nicht.

„Ha… hallo, Wa… Walter Knoche“, stottere ich.

„Griaß di, … Till Heisterkamp“, antwortet er etwas irritiert und fragt dann: „Wie schaut’s denn do aus?“, weil das Durcheinander, das ich verursacht habe, schon erstaunlich ist. Ich habe ja noch immer nicht das Schaufenster fertig.

„Ich … ich wollte aufräumen.“

„Ja, des sieht ma“, brummt er und lässt sich auf einen der knarzenden Stühle fallen, dass man denkt, er bricht gleich zusammen.

„Wie geht’s denn der Gunni … äh, Ihrer Frau?“, fällt mir gerade noch ein. Er kommt ja direkt aus dem Krankenhaus.

„Ach, jetzt wieder a bisserl besser“, meint Knoche, „sie hat heut’ net so viel g’hustet.“

„Das freut mich. Was hat sie denn eigentlich für ’ne Krankheit?“, frage ich ehrlich interessiert aber ich freue mich auch, dass das Gespräch jetzt in eine andere Richtung geht.

„An Krebs hat’s“, antwortet er kurz und resigniert.

„Oh, das tut mir leid!“ Mehr weiß ich nicht zu sagen. Krebs – das ist ja meistens endgültig. Schrecklich.

„Lungenkrebs“, sagt er dann noch. „I hob ihr immer wieder g’sagt, sie soll mit’m Rauch’n aufhör’n, aber sie hört ja net!“

Dann entsteht eine längere Pause, Walter Knoche greift zu seiner blauen Schnupftabakdose und schnupft ausgiebig, intensiv und laut. Dann niest er, dass die Wände wackeln.

„War sonst noch wos?“, fragt er dann und schielt argwöhnisch zum Hinterzimmer. Der verdammte Perlenvorhang bewegt sich immer noch ein bisschen, aber das könnte auch von seinem Nieser gekommen sein.

„Nee, nee, sonst war nichts“, antworte ich hastig. Ich kann ihm einfach nicht erzählen, dass ich an seiner Schublade war und auch die Goldenen Schallplatten gesehen habe. Später vielleicht.

„Ich räume noch schnell auf, Herr Knoche und dann muss ich zur Probe, meine Jungs warten schon.“

„Ja, da darfst net z’spät komm’n. Dann mach’n mir aber erst noch an Strich.“

Und dann stelle ich alles, was ich eben erst aus dem Schaufenster geholt habe, eigentlich genau so wieder rein und zucke mit den Achseln. Richtig Ordnung machen wir dann eben nächstes Mal.

Walter hat aber gar nicht bemerkt, dass ich heute eigentlich nichts gemacht habe außer geschnüffelt, dreht sich zur Wand um und macht den zweiten Strich. Wenn’s so weitergeht, dann dauert’s nur ein paar Monate, denke ich, und die Gitarre gehört mir.

„Dann aber morg’n, wenn’st willst.“

„Ja, gern. Morgen. O.K., ich bin dann mal weg. Tschüss, Wa… äh, Herr Knoche, bis morgen.

„Woaßt wos?“, ruft er mir hinterher. „Du sagst ja eh scho immer Wa… Kannst ruhig Walter zu mir sag’n!“

„Echt?“

„Ja, freili!“

Ja, dann versuchen wir’s mal.

„Tschüss, … äh, Walter!“

„Pfiat di, Till!“

Ich verlasse den Laden und denke, das kann doch wohl nicht wahr sein. Der alte Knoche, also jetzt neuerdings für mich der Walter, ist DER Watzmann. Sagenhaft! Welche Geheimnisse hat der Mann wohl noch?


Reisch un berümp!

Подняться наверх