Читать книгу Brandmale - Reiner Karl Litz - Страница 5

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So konnte es nicht weitergehen.

Keine Nacht schaffte er es durchzuschlafen. Und das seit mindestens drei Jahren schon, soweit er sich richtig erinnerte. Wobei sein Gedächtnis auch nicht mehr so war wie früher. Seit er vor drei Jahren die Fünfzig überschritten hatte häuften sich solche Problemchen. Aber so war das wohl mit dem älter werden.

Meistens wachte er gegen zwei, drei Uhr auf. Nicht nur wegen der Prostata und des damit einhergehenden Harndrangs. Nein, vor allem wegen der beängstigend harten Herzschläge und beunruhigenden Gedanken an die Arbeit. Heute verfluchte er seinen Entschluss, dem Wunsch von Breuer, dem Betriebsinhaber, nachgegeben zu haben und die Schichtleitung zu übernehmen. Es war ihm doch gut gegangen bis dahin. Er hatte seine Arbeit nach Vorschrift gemacht und keinen Stress gehabt. Aber seitdem …

Was konnte er dafür, wenn Kollegen wegen Krankheit ausfielen und die Schicht nicht das Leistungsoptimum schaffte? Immer häufiger gab es Ärger mit der Betriebsleitung wegen der Sollzahlen. Er war nun mal kein Sklaventreiber, und seine Kollegen waren ihm wichtiger als die von irgendeinem Betriebswirt berechneten Kennzahlen. Menschen waren zu wichtig, um sie kaufmännischen Vorgaben oder der Bilanzoptimierung zu opfern. Man lebt schließlich nicht, um zu arbeiten. Genau umgekehrt war es ja wohl richtig.

Mein Gott, warum bloß hatte er sich auf die Beförderung eingelassen?

Breuer hatte vor dreieinhalb Jahren einen Nachfolger von Esch, dem kurz vor der Verrentung stehenden früheren Schichtleiter, gesucht. Und als Breuer ihn angesprochen und für diese Stelle als geeignet bezeichnet hatte, war er nicht in der Lage gewesen, nein zu sagen. Stolz war er gewesen, hatte sich gebauchpinselt gefühlt und geglaubt, er wäre ein ganz toller Hecht. Mann, wie bescheuert war er nur gewesen. Und das alles für vierhundert Euro mehr. Na, selbst schuld wenn er nicht in der Lage war, seine tatsächlichen Bedürfnisse auszusprechen und sich gegen seinen Chef zu behaupten.

Es müsste so gegen drei Uhr sein. Er rieb sich über den juckenden Unterarm. Die Luft war angenehm warm, selbst jetzt zur Nachtzeit. Gestern war es um die dreißig Grad heiß gewesen und heute würde es wahrscheinlich noch wärmer.

Er zog eine weitere Zigarette aus der Schachtel, zündete sie mit dem Einwegfeuerzeug an und zog langsam aber ausdauernd den Rauch in seine Lungen. Breuer Beton – Spezialbaustoffe stand auf dem Feuerzeug, das der Betrieb zu Tausenden verschenkte und das so gar nichts mit den Produkten zu tun hatte, die sie dort aus Zement und allerlei chemischen Zusätzen im Vierundzwanzigstundenbetrieb herstellten. Er warf das Feuerzeug auf den kleinen Campingtisch, der neben ihm auf dem Balkon stand, inhalierte nochmals tief und blickte dem ausströmenden Rauch nach, Richtung Rhein.

Mit dem Rauchen hatte er eigentlich aufhören wollen. Genauso, wie mit dem ungezügelten Essen. Sein T-Shirt spannte über dem Bauch, wie er soeben wieder einmal in einem Anflug ungnädiger Selbstkritik feststellte. Er kratzte sich am Bauchnabel und fragte sich mit einem Blick zum sternenklaren Himmel, ob Vögel eigentlich nachts nicht flögen. Blöde Frage, dachte er. Wen interessiert das schon?

Beim letzten Zug an seiner Zigarette überlegte er, ob diese wohl die letzte für die Nacht wäre. Er flippte den bis auf wenige Millimeter vor dem Filter abgebrannten Stummel auf die Rasenfläche, zwei Stockwerke unter ihm und wandte sich zur Balkontüre.

Eine deutlich spürbare Unruhe ließ ihn plötzlich innehalten, noch bevor er ins Wohnzimmer eintrat. Unwillkürlich drehte er sich nochmals um, sog Luft durch die Nasenlöcher und schnupperte.

Es roch nach Rauch. Nein, nicht nach dem seiner Zigarette. Die konnte da unten im Gras nichts entzündet haben, da war er sich sicher. Irgendwie roch es nach einer ganzen Menge Rauch. Holz, Stroh … irgend sowas. Ein richtiger Brand! Als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Engers war er sensibel für solche Sinneswahrnehmungen.

Hastig trat er an die Brüstung heran und versuchte den Brandgeruch zu analysieren. Ja, ganz eindeutig, es musste sich um einen unkontrollierten Brand handeln! Ganz sachte machte sich bereits ein schwaches Glimmen von Tageslicht hinter der Stromberger Höhe bemerkbar. Er kniff die Augenlider zusammen und spähte angestrengt in die andere Richtung zum Rhein. Jetzt konnte er es erkennen: Eine schmale, dunkle Rauchsäule, die sich leicht gekrümmt gen Himmel schob. Sie trug hell leuchtende Funken mit sich.

Das Herz schlug ihm dröhnend in den Ohren, als er überlegte, wo genau das sein müsste. Es könnte auf Höhe des Silbersees sein. Aber, was konnte da brennen? Da war doch nichts außer den Skulpturen aus Beton. Mit drei Sprüngen war er im Wohnzimmer, griff sein Handy und informierte die Rettungsleitstelle. Dann weckte er seine Frau mit einem hastigen Kuss auf die Stirn und flüsterte: »Wehreinsatz … bis nachher!«

Eilig verließ er die Wohnung, ohne auf eine deutliche Reaktion seiner Frau zu warten, rannte nach unten und hechtete die zehn Meter über den buntkieseligen Schotter zum Parkplatz. Als er die Wagentür öffnete, hörte er bereits die Sirene von der Neuwieder Straße herübertönen. Bevor er einstieg warf er einen besorgten Blick zurück zu der sich gewaltig ausbreitenden Rauchwolke. Der Brandgeruch hing nun beißend in der Luft. Na, die Frühschicht fällt für mich jedenfalls aus, dachte er, startete den Wagen und raste zur Feuerwache.

-

»Du denkst doch bitte daran, dass wir heute Abend bei Melanie eingeladen sind?«, rief Monika Berger aus dem Badezimmer zu ihrem Mann herunter, der sich bereits im Erdgeschoss befand. Der leichte Vorwurf in ihrer Stimme verriet, dass sie alles andere als sicher war, heute auch tatsächlich zusammen mit ihrem Gatten zum Geburtstag ihrer Freundin fahren zu können. Sie wusste nicht, ob er solche Termine absichtlich vergaß, weil sie ihm nicht behagten oder ob er gedanklich einfach immer zu sehr bei seiner Arbeit war und sie dabei vergaß. Sie hatte ihm das »Vergessen« ihrer vier letzten Hochzeitstage ebenso wenig verziehen, wie das Nichterscheinen zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter. Und zuletzt vorgestern, und das nicht zum ersten Mal, die Gemeinheit, dem Hund kein Fressen zu geben, weil sie selbst eine zweitägige Fortbildung besucht hatte, ohne ihn an diese Verpflichtung zu erinnern. Natürlich wusste sie, dass sein Dienst Unwägbarkeiten und unsichere Arbeitszeiten mit sich brachte, aber er hatte auch einfach so eine unbekümmerte, ja, sie war mittlerweile bereit, es eine unverantwortliche Art zu nennen. Er machte sich einfach keine Gedanken, so schien es. Gedanken darüber, was andere Menschen für wichtig hielten, schienen ihm fremd zu sein. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass er es nicht aus Böswilligkeit tat. Ihr Mann war im Grunde genommen mehr mit seiner Arbeit verheiratet als mit ihr und hatte Verantwortung doch immer nur für seinen Beruf aufgebracht. Für die Kriminalinspektion der Neuwieder Kripo.

Ja, in seiner Arbeit ging er auf. Es hatte Tage gegeben, da war er über vierzig Stunden ohne Schlaf ausgekommen. Hatte sich dermaßen in einen Fall verbissen, dass er diesen erst aufklären musste, bevor er wieder an Schlaf denken konnte.

Aber die Hingabe für seinen Beruf war in den letzten Jahren einem Auf und Ab gewichen. Mehrmals hatte sie gedacht, er würde trotz seiner Passion für die Ermittlungsarbeit alles hinschmeißen wollen. Zu sehr schien der ganze Wahnsinn von Mord und Totschlag ihn zermürbt und aufgezehrt zu haben. Aber immer dann, wenn sie gerade dachte, jetzt sei es soweit, jetzt ginge ihm tatsächlich die Luft aus, hatte er sich wieder aufgerichtet und in einen neuen Fall gestürzt. Wie ein Stehaufmännchen, der Ron, dachte sie. Aber ein Stehaufmännchen, mit dem es ihr immer schwerer fiel, ihr Leben zu teilen.

»Klar, Moni!«

Ronald Berger rief von unten herauf und riss sie aus ihren Gedanken. Scheinbar hatte er ihre Frage soeben erst wahrgenommen.

»Bin spätestens um halb sechs zu Hause. Kannst dich drauf verlassen«, klang es aus dem Wohnzimmer, wo Berger sich mit der aktuellen Ausgabe der Rheinland-Post beschäftigte.

Seit der Timmermans nicht mehr für das Käseblatt schreibt, dachte er und vergegenwärtigte sich bei dem Gedanken der letzten Bilder, die er von dem früheren Lokalredakteur noch vor Augen hatte und die zugleich die letzten Bilder des lebenden Timmermans gewesen waren, seit der Timmermans nicht mehr für die schreibt, scheint nichts Schreckliches mehr zu passieren in Neuwied. Die Nachfolger des früheren und für Sensationen zuständigen Lokalredakteurs und überführten Verbrechers waren zwar weit davon entfernt gute Journalisten zu sein oder für ihre dürftigen Artikel korrekt zu recherchieren, sie hatten aber keinesfalls das bösartig intrigante Format Timmermans. Besaßen nicht diesen krankhaften Trieb, in aufgewühlter Kacke irgendwann den ganz großen Skandal zu entdecken. Timmermans war im Zuge eines Ermittlungsverfahrens in mehreren Mordsachen erst vor einigen Monaten im Schusswechsel mit Bergers Kollegen ums Leben gekommen. Sie hatten Timmermans und seinem Partner etliche Schweinereien nachweisen können, unter anderem mehrere Morde, Entführung, Freiheitsberaubung, Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz und sexuellen Missbrauch von Kindern. Einen ganzen Kinderpornoring hatten sie hochgehen lassen. Widerlich, nur an diese Figur zu denken.

Ronald Berger, von seiner Frau liebevoll oder auch nur aus Gewohnheit Ron genannt, erhob sich vom Sofa und warf die Zeitung auf den Couchtisch. Er streckte sich und fasste sich dabei mit einer schmerzerfüllten Grimasse ans Kreuzbein.

»Wird verdammt noch mal nicht besser«, brummte er und schlenderte in schräger Körperhaltung zur Küche.

Er griff sich die wiederverschließbare Tüte mit getrockneten Fischhautstreifen aus dem Regal, brach einen Teil des längeren Stücks getrockneter Kabeljauhaut ab und warf es Janis zu, die schwanzwedelnd vor seinen Füßen saß und das Teil knackend und schmatzend auffraß.

Wie man sich an so einen Hund doch gewöhnen kann, dachte Berger und streichelte das Tier zärtlich, das er vor einem halben Jahr, bei den Ermittlungen um den Verbrecher Timmermans, aus der Wohnung eines Ermordeten geholt hatte und das seitdem bei ihnen lebte.

»Ich bin dann mal weg!«, rief er nach oben, erntete aber nur ein nüchternes »Gut!« von Monika, die im Bad stand und letzte Hand an ihr Äußeres legte. Ihr Arbeitstag als Psychologin in einer Rehaklinik im Wiedtal begann um halb neun.

Berger schmuste nochmals den Hund und verließ das Haus.

Als er im Ortsteil Block an der roten Ampel unter der Bahnunterführung, kurz vor der Engerser Landstraße, hielt, klingelte sein Mobiltelefon.

»Berger!«, brüllte er Richtung Frontscheibe, weil er sich nie sicher war, ob diese Sprechanlage im Wagen ordentlich funktionierte. Es war Nikolai Sorokin, sein junger Kollege aus dem Neuwieder Kommissariat. »Was? … Sicher? Okay … Ja, ich hatte den Brandgeruch schon beim Aufwachen in der Nase. Wo denn … Silbersee? Schimmelsberger Weg? Ich bin in zwei Minuten da!«

Nachdem die Ampel auf Grün gesprungen war, wechselte er die Blinkerrichtung von rechts nach links und raste mit hoher Geschwindigkeit Richtung Engers.

-

Mehrere Feuerwehrfahrzeuge standen auf der Parkfläche rechts vom Zugang zum Seegrundstück. Berger hatte das Wagenfenster heruntergelassen und konnte verschiedene Generatoren laufen hören. Vielleicht waren es auch die Motoren der Wehrfahrzeuge, die das brummende Geräusch erzeugten.

Er erkannte die Einsatzfahrzeuge seiner Kollegen. Neben den Jungs der Schutzpolizei waren offensichtlich Niko Sorokin, Jürgen Rübesam und dessen Kollegen der Kriminaltechnik vor Ort.

Der Opel Omega rollte langsam aus und Berger parkte den Wagen am Rand der planierten Fläche.

Die Luft war erfüllt von einem beißenden Brandgeruch. Er grüßte einige Männer der Wehr, die mit verschiedenen Gerätschaften vom See zurückkamen, um sie in ihren Fahrzeugen zu verstauen. Der Brand war ganz offensichtlich bereits vollständig gelöscht.

Der Silbersee war eigentlich eine Kiesgrube, die sich über die Zeit mit Grundwasser gefüllt hatte und somit einige Meter unter dem umgebenden Flächenniveau lag. Das gesamte Grundstück war Eigentum des Unternehmers Friedrich Scheidweiler, dessen Familie hier seit dem neunzehnten Jahrhundert und bis in die neunzehnhundertachtziger Jahre Kies gefördert hatte. Scheidweilers schöpferischer Tatendrang hatte rund um den See eine Vielzahl von mystischen und märchenhaften Skulpturen und Bauwerken aus Kiesbeton, Bruchsteinen, Metallschrott und Baumstämmen entstehen lassen, die das gesamte von Strauchwerk und Bäumen eingefriedete Gelände wie eine Traumlandschaft erscheinen ließ. Der von ihm ursprünglich für die Öffentlichkeit zugänglich gemachte See war weit über Neuwieds Stadtgrenzen hinaus bekannt und regelmäßig Ziel von Wandergruppen, Romantikern und Liebespärchen. Scheidweiler hatte sich, der behördlich versagten Duldung dieses Eingriffs in die Natur wegen, einen jahrelangen Schlagabtausch mit der Neuwieder Stadtverwaltung und dem zuständigen Baudezernenten geliefert. Letztlich musste er seinen Traum, ein für jedermann frei zugängliches Erholungsgebiet zu schaffen, zumindest offiziell begraben, gründete daraufhin aber einen Freundeskreis. Ein taktischer Schachzug gegen die Behördenauflagen, denn gegen einen geringen Beitrag konnte jedermann Mitglied dieser Vereinigung werden und somit auch weiterhin Zutritt zu der malerisch gelegenen Seenlandschaft haben.

Berger betrat den schmalen und von dichtem Strauchwerk umzäunten Feldweg am Hochufer des Sees. Aufgrund des üppigen Blätterwerks konnte er nur ab und zu einen versteckten Blick auf das darunter liegende leicht türkisfarbene Wasser werfen. Nach etwa zweihundert Metern zweigte ein Weg nach links und steil nach unten zum Wasser ab. Bereits auf halber Höhe konnte er die brandgeschwärzten Grundmauern eines kleinen Hauses oder Schuppens sehen, über dem sich eine weiße, dampfende Rauchwolke beständig ihren Weg in den blauen Sommerhimmel bahnte. Die Gebäudereste lagen hangseitig auf einer kleinen, flachen Erhebung etwa zehn Meter vom Seeufer entfernt und wiesen einen quadratischen Grundriss auf. Das zerstörte Gebäude mochte eine Grundfläche von weniger als zwanzig Quadratmetern gehabt haben.

Berger hob das Absperrband, dass die Kollegen der Schutzpolizei zur Sicherung des Geländes gut zwanzig Meter vor den Trümmern vom Hang bis zum See gezogen hatten und wand sich darunter hindurch. Rübesam und zwei seiner Kollegen standen in ihren weißen Overalls und mit ihren Utensilienkoffern in einigen Metern Entfernung vor den schwarzen Fragmenten aus Bimsstein, die einmal den Rahmen der Eingangstür des kleinen Gebäudes abgegeben haben mussten.

»Morgen«, sagte Berger halblaut, nickte einigen Feuerwehrleuten und den uniformierten Kollegen zu, die auf dem Weg standen, ging an ihnen vorbei und stellte sich neben Sorokin und die Spusi-Leute in ihren weißen Overalls, die sich einige Meter weiter auf dem Weg unweit des Seeufers unterhielten.

»Morgen Ronny!«, begrüßte Sorokin seinen Vorgesetzten. »Ist noch zu heiß um reinzugehen.« Er wies mit dem Kopf zu den schwarzen, dampfenden Brandresten. Jürgen Rübesam und seine zwei Kollegen von der Spusi nickten zustimmend.

»Wo ist sie?«, fragte Berger, der sich umgedreht hatte und versuchte durch die Rauchschwaden hindurchzusehen, was ihm nicht gelang. Er musste dabei die Augen zusammenkneifen, um dem beißenden weißen Nebel etwas entgegenzusetzen.

»Die Brandleiche liegt mitten drin«, antwortete Sorokin.

»Wer hat sie entdeckt?«

Sorokin griff in seine Gesäßtasche, zog einen kleinen Notizblock heraus, blätterte zwei Seiten zurück und las. »Sascha Heinz. Mitglied der Engerser Wehr. Er hat den Brand bemerkt und die Leiche nach dem Löschen als Erster entdeckt. Er muss gute Augen haben, da drin ist alles schwarz.«

»Was ist das eigentlich für ein Schuppen?«, fragte Berger und wies auf das abgebrannte Gebäude.

»Nach Aussagen der Wehrleute war oder ist das immer noch die Anglerhütte oder das Anglerheim des Bendorfer Angelsportvereins. Der Scheidweiler, also der Grundstückseigner, hat den See für den Angelsport freigegeben. Der Angelverein sollte im Gegenzug wohl ursprünglich das Gelände sauber halten. Einige der Wehrleute sind sich aber sicher, dass der Schuppen hier von den Anglern schon lange nicht mehr genutzt wird. Er war scheinbar schon ziemlich verfallen und lud nicht zum Verweilen ein.«

»War denn irgendwas drin … ich meine, wurde irgendwas drin gelagert?«, wandte sich Berger an Rübesam.

»Keine Ahnung. Die Wehrleute sagen, dass etliche Bretter, alte Stühle, also Holz oder sowas drin gelegen haben müssen. Deshalb hat es überhaupt so gut gebrannt. Die Mauern selbst sind aus Bimssteinen gemauert und hätten alleine nicht dieses Feuer erzeugt«, entgegnete der Mann von der kriminaltechnischen Abteilung.

Berger strich sich über den Hinterkopf, der bis gestern noch durch mittellange, ergraute Haare imponiert hatte. Anlässlich seines gestrigen Frisörtermins waren sie einem modischen Stufenhaarschnitt mit ausrasiertem Nacken zum Opfer gefallen. Berger wusste selbst nicht mehr genau, wie er sich dazu hatte hinreißen lassen. Mit siebenundfünfzig auf Haarmode zu achten, dachte er und schüttelte den Kopf über die Dummheit. Bereits beim Verlassen des Frisörladens hatte er entschieden, die bewährte halblange Haarpracht wieder wachsen zu lassen.

»Jürgen!«, wandte er sich Rübesam zu. »Sind Fußabdrücke oder Schleifspuren zu finden?«

»Die Feuerwehrleute haben beim Löschen so ziemlich alles um die Brandstelle plattgetrampelt. Mit viel Glück finden wir Spuren, die nicht von Feuerwehrstiefeln stammen.«

»Und Reifenspuren … oben, am Parkplatz?«

»Der Boden ist staubtrocken, da wird nicht viel zu finden sein. Hier, oberhalb des Sees …« Er wies zum Zufahrtsweg im Hang hinter der abgebrannten Hütte, »ist jedenfalls kein Fahrzeug vorbeigefahren.«

»Wurde mit Brandbeschleuniger nachgeholfen?«

»Kann ich noch nicht mit Gewissheit sagen, aber ich gehe davon aus. Zumal …« Er wies mit dem Kopf auf das Gebäude, »Zumal der Zustand der Brandleiche dafür spricht.«

»Du meinst, dass jemand …«

»… dass jemand Drittes die noch lebende oder bereits tote Person mit Brandbeschleuniger zum Brennen gebracht oder dass derjenige, dessen Reste da drin liegen, mit Brandbeschleuniger gespielt und sich dabei selbst hingerichtet hat. Willentlich oder unwillentlich kann man natürlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.«

Berger nickte und sah sich um.

Der See lag absolut ruhig. Seine glatte Oberfläche spiegelte die bereits jetzt warme Morgensonne und wirkte angesichts der Umstände, die ihren Einsatz hier notwendig machte, unnatürlich und fast spöttisch friedlich. Nur einige Enten erzeugten zarte, konzentrische Wellen auf der ansonsten makellos ebenen Wasserlinie. Die geschwungene Uferlinie war von Trauerweiden gesäumt, deren Äste träge bis zum See herabhingen. Berger gab Sorokin ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie gingen einige Schritte auf dem schmalen Uferweg, der von hier zu einem erhöhten Plateau führte, auf dem rustikale Fragmente eines Bauwerks standen, das einer mittelalterlichen Burgruine nachempfundenen zu sein schienen. Die beiden Beamten erklommen die kleine Anhöhe und blickten durch einen gemauerten Rundbogen auf den See. Sonnenstrahlen suchten ihren Weg durch die wild wuchernden Schilfpflanzen im Ufersumpf und beschienen ein Libellenpärchen, das in seinem von zackigen Flugbewegungen begleiteten Liebesspiel bunte Lichtreflexe in die Umgebung abwarf.

»Was ist denn das für ein …?«, fragte Berger und folgte mit seinem Blick interessiert einem grellgelben Vogel, der knapp über der Wasserfläche fliegend einen Unterschlupf am anderen Seeufer ansteuerte.

»Könnte ein Pirol sein«, meinte Sorokin und bewies mit diesem Beispiel solider schulischer Bildung, dass er nicht zu den schlechtesten Schülern im Abiturfach Biologie gehört hatte. »Wie man hört, sollen einige Exemplare dieser seltenen Gattung hier am Silbersee nisten.«

»Ein Paradies«, meinte Berger ein wenig entrückt. »Das hat alles der Scheidweiler gemacht?«, fragte er mit Blick auf eine Steinskulptur, die irgendein Fabelwesen mit Adlerkopf darstellte.

»So, wie man hört, ja. Seit Jahrzehnten baut er hier an seiner Märchenlandschaft. Hast du dir das noch nie angesehen?«

Berger schüttelte den Kopf und zog die Mundwinkel nach unten, so, als bedauere er dies. »Nein, Niko.« Wie geistesabwesend blickte er über die Seefläche Richtung Rhein. »Wie weit ist der Fluss von hier?«

»Wahrscheinlich keine dreihundert Meter. Das Wasser …«, er wies mit dem Kopf auf den See, »ist also quasi Uferfiltrat vom Rhein. Grundwasser.«

Berger blickte verträumt auf die Uferpartie des Sees, in dem man weit bis auf den Grund sehen konnte. Ein größerer Fisch zog keine fünf Meter weiter ruhig seine Bahn, ohne sich an den Beiden hinter dem Burgfenster zu stören.

»Ein Paradies!«, wiederholte Berger seine Worte von eben und blickte dabei wie selbstvergessen übers Wasser.

Doch plötzlich schien ihn ein aufkommender Gedanke aus seinem Tagtraum aufzuwecken. Unwirsch riss er den Kopf herum und sah Sorokin grimmig an. »Wo ist eigentlich der Fassbender?«

»Ist auf dem Weg hierhin«, antwortete der junge Kollege und beobachte dabei betont abwesend die in hundert Metern Entfernung verweilenden Kollegen der Spusi, die es nun wagten, ihre Arbeit zu beginnen. Das Gebäude war nicht groß gewesen. Die vorhandene Gebäudemasse kühlte nach dem Brand also verhältnismäßig schnell ab, sodass sich die Männer nun an die Brandreste herantrauen konnten.

»Seit wann ist er denn informiert?«

»Wen meinst du?«

»Na, den Fassbender!« Berger rollte mit den Augen.

»Ich habe ihn unmittelbar nach dir angerufen.«

»Und wieso ist er dann noch nicht aufgetaucht?«

Sorokin zog die Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern.

»Der drückt sich doch schon wieder!«, fauchte Berger, dem unmissverständlich anzusehen war, wie sehr er das Verhalten des jungen Kollegen Fassbender missbilligte. Wie so oft schon.

Er wendete sich wieder zum See und blickte über das Wasser und zum gegenüberliegenden Seeufer, wo man zwischen Weiden und Eichen weitere gemauerte Torbögen und Zinnen entdecken konnte.

»Na, jedenfalls können wir im Augenblick noch nicht allzu viel tun«, meinte Berger, der sich mit der fraglichen Motivation Fassbenders offensichtlich nicht weiter beschäftigen wollte. »Unglücksfall, Selbsttötung, Tötung durch fremde Hand oder Mordbrand … alles möglich.«, meinte er zu Sorokin und ging einige Schritte am Seeufer entlang.

»Spontane menschliche Selbstentzündung noch …«, ergänzte Sorokin mit einem schelmischen Grinsen, erhielt aber umgehend einen rüffelnden Blick von seinem Vorgesetzten.

»Vielleicht ein Penner, der hier sein Quartier hatte und sich beim Feuermachen ungeschickt angestellt hat.«

»Das glaube ich weniger.« Sorokin war Berger zurück Richtung Leichenfundort gefolgt. Er schüttelte entschieden den Kopf. »Der Silbersee ist so stark frequentiert … also zum einen die Angler, die hier häufig mit einigen Leuten vertreten sind. Dann die Wanderer und Leute aus dem Ort, die das Gelände als Freizeitanlage nutzen. Nein, Penner verirren sich nicht hierhin. Das würde ich ausschließen.«

Sie standen nun zehn Meter vor den Trümmern des abgebrannten Hauses, vor dem die Spusi ihre Arbeit machte. Berger reckte den Hals, um in das Innere der Brandruine blicken zu können.

»Da!«, er wies mit der Hand auf eine Stelle in dem früheren Anglerheim. »Ist das die Leiche?« Mit etwas Erfahrung konnte man in dem Durcheinander schwarzer Brandreste und weißer Schwaden vom Wasserdampf die Überbleibsel eines menschlichen Körpers erahnen.

Sorokin nickte. »Ja, das sind die Reste Desjenigen …«

»Wirklich kaum was von übrig.«

»Die Fechterstellung.« Sorokin hob einen Arm und winkelte ihn an »Bei der Verbrennung erfolgt eine hitzebedingte Muskelschrumpfung. Die Beuger überwiegen die Strecker.« Er wies auf seinen Oberarm, als wolle er die Größe seines Bizeps demonstrieren. Mit etwas Fantasie hätte man die bei dieser Form von extremer Verbrennung auftretende Körperverformung eines Menschen auch als Motorradfahrerstellung bezeichnen können.

Die Reste des verkohlten Körpers waren rußschwarz und beträchtlich geschrumpft. Die Extremitäten von sich streckend, lag die Gestalt auf dem Rücken. Die kurzen Armstümpfe wirkten, als trüge das seidenmatt-schwarze Überbleibsel eines Menschen ein imaginäres Tablett vor sich her. Das Tablett, auf dem uns der Tote die Nachricht über seinen Tod und den Mörder präsentieren will, ging es Berger durch den Kopf. Die auf Kindsgröße geschrumpften Beine waren angewinkelt, als hätte der Tote soeben noch auf einem viel zu kleinen Stuhl gesessen. Hände und Füße schienen nicht zu existieren, so sehr waren sie abgebrannt. Der bis auf den blanken, schwarzen Schädel abgesengte Kopf hing leicht zurückgeworfen in Nackenlage. Aus dem aufgerissenen Mund schien ein permanenter unhörbarer Hilfeschrei zu entweichen.

Berger presste die Lippen zusammen und wendete sich ab. »Gut, wie auch immer … ich glaube nicht an einen Unglücksfall. Immerhin ist der Brand mitten in der Nacht entstanden. Was sollte sich eine einzelne Person hier nachts mit Feuer zu schaffen machen? Dazu war‘s noch extrem warm die Nacht.« Berger blickte seinen Kollegen an.

Selbsttötung oder Unfall? Beides schloss Berger bereits jetzt aus. Hier war eine bewusste Tat Grundlage des Todes gewesen. Und diese Tat war von mindestens einer zusätzlichen Person begangen worden. Das spürte Berger förmlich. In dieser Hinsicht machte ihm niemand so schnell etwas vor.

Er wandte sich ab und betrachtete nochmals das idyllische Bild des Silbersees, der ja nur wenige Meter von der ganzen Grausamkeit dieses in seinen Details noch unbekannten Dramas lag und der trotzdem eine solche Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. Er seufzte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ähnliche Fälle kamen ihm in den Sinn. Solche, in denen ein Unfall als wahrscheinlich angesehen worden war und bei denen sich keine richtige Ermittlungsspur ergeben wollte. Fälle, die sein Koblenzer Kollege Monreal nur zu gerne schnell zu den Akten legte, nach dem Motto: »Da kann man eh nichts machen.« Nein, das war ganz und gar nicht Bergers Stil. Er würde sich wieder einmal auf Streit mit denen in Koblenz einstellen müssen.

Brandmale

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