Читать книгу Brandmale - Reiner Karl Litz - Страница 8

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Er hatte es doch geahnt!

Diese kleine Schlampe hatte ihn nicht nur versetzt, sie hatte ihm auch noch einen anderen Lover vorgezogen. Das war ja wohl das Allerletzte. Dieses Flittchen konnte ihn mal kreuzweise. Aber diesen Basti Steinebach, diesen billigen Engerser Dorfkicker, den würde er sich kaufen.

Sicher kein Zufall, dass er Biggi heute Morgen getroffen hatte, die von der Sache wusste. Sie hatte ihm berichtet, dass Kathi, dieses Flittchen, sich einen Tag später mit dem Balltreter treffen würde. Angeblich nur, um ihm etwas zu bringen und dabei mit ihm einen Salat im Biergarten des Engerser Schlosses zu essen. Lächerlich! Er konnte sich die lauschige Atmosphäre unter den alten Bäumen, unmittelbar oberhalb des Rheinufers, ganz genau vorstellen. Da wären ihm schon bessere Lügen eingefallen.

Er hatte sich vor dem schmiedeeisernen Tor des alten Neuwieder Friedhofes an der Julius-Remy-Straße positioniert. Es war kurz vor halb eins. Die Mittagspause der meisten städtischen Beschäftigten begann gleich. Sebastian Steinebach arbeitete als Angestellter bei der Stadtverwaltung in der Abteilung Facilitymanagement, was man früher einmal korrekterweise und viel verständlicher Liegenschaftsverwaltung genannt hatte.

Die ersten Bürohengste und Tippsen aus den Ämtern und Abteilungen stiegen die Treppe des Verwaltungsgebäudes herab, um sich in der nahegelegenen Innenstadt etwas zu Essen zu besorgen oder sich die Sonne in einem der Cafés mit Außengastronomie ins Gesicht scheinen zu lassen.

Gregor Hartmann äugte um die Bruchsteinmauer. Er musste nicht lange warten. Sebastian Steinebach verließ die Verwaltung mit zwei Kollegen und einer Kollegin in Richtung Julius-Remy-Straße um zwölf Uhr dreiunddreißig, genau, wie Hartmann es vorausgesehen hatte. Er trat einen Schritt zurück, in den Blickschutz des mit Granitstein eingefassten Friedhofseinganges. Als die Gruppe die Aussparung in der hohen Mauer passierte, packte Hartmann im richtigen Augenblick zu, versetzte Steinebach einen kräftigen Schwinger in die Magengrube, ließ ihn über sein Bein straucheln und zu Boden gehen. Steinebach hatte beim ersten Berührungskontakt bereits laut geschrien. Das passte! Da lag der Penner nun auf dem roten Schotter des Friedhofweges und krümmte sich. Hartmann zwang ihn auf den Rücken, setzte ihm sein Knie auf die Brust und drehte das T-Shirt am Hals zusammen.

Die Truppe der Kollegen war auf Höhe des Mauerdurchlass erschrocken stehen geblieben. Eine der Kolleginnen kreischte laut auf und ein männlicher Kollege trat einen Schritt auf die beiden Kontrahenten zu und brüllte: »He, was soll das. Lass ihn sofort los!«

»Das würde ich dir nicht raten, sonst liegst du als Nächster hier auf dem Boden«, zischte Hartmann zwischen den Zähnen hindurch und bekräftigte seine Worte mit drohend gehobener Faust. Das schien zu wirken, denn der vermeintlich mutige Kollege trat wieder zurück und verzichtete auf einen weiteren Hilfseinsatz für Steinebach. Dafür betrachtete er mit unsicherem Blick die kräftigen Oberarme Hartmanns, die aus dem stramm sitzenden Ärmel des T-Shirts hervorquollen.

Die übrigen Kollegen begnügten sich damit, ihr Entsetzen mit vor den Mund gehaltenen Händen zu demonstrieren.

»Was willst du denn von mir, du Arsch?«, keuchte Steinebach, der nach wie vor in gekrümmter Haltung auf dem Boden lag und erhebliche Schwierigkeiten mit der Atmung hatte.

»Das weißt du ganz genau, du Schleimscheißer! Oder muss ich dich an gestern erinnern?« Er drehte den Stoff des Shirts noch fester zu.

»Was meinst du? Ich …« Seine Augen traten glänzend aus den Höhlen hervor. Er hustete verkrampft und scharrte mit seinen Füßen, sodass Staub vom Boden aufwirbelte.

»Ich meine, dass du die Finger von ihr lassen sollst! Das da … gestern, das war das letzte Mal, haben wir uns verstanden?« Hartmann hielt ihm die Faust vor die Nase und starrte ihn mit einem bedrohlichen Blick an. Dabei knackten seine Kiefergelenke.

»Ich habe doch gar nicht …« Steinebach versuchte sich unter seinem Peiniger herauszuwinden, aber Hartmann ließ sich nun gänzlich auf dessen Brust fallen, packte ihn mit einem eisernen Griff am Kiefer und presste die Wangen seines Rivalen mit Daumen und Zeigefinger zusammen. Gegen den fast einhundert Kilogramm schweren und über einsneunzig großen Gegner hatte Steinebach nicht den Hauch einer Chance.

»Du elender Versager! Willst du mich verarschen?«

»Isch … Isch habe misch nischt mit ihr getoffen!« Steinebach brachte seine Worte nur nuschelnd hervor, der eiserne Wangengriff seines Peinigers war zu fest. Er versuchte einen tiefen Atemzug zu nehmen, schaffte es aber nicht.

»Gestern Mittag, hmm? Schon vergessen? Engerser Schloss, hää?« Hartmann schleuderte seinem Gegenüber die Worte nur so ins Gesicht. Sein Kinn hatte er dabei provokant nach vorn geschoben.

»Mönsch, isch … jo, ober … Vörschtöh doch, söh wor jo nöscht do …«

Hartmann lockerte seinen harten Wangengriff. Er schien sich etwas zu entspannen. Dann gab er einen verächtlich klingenden Laut von sich und nahm seine Hand zurück, die deutliche rote Striemen auf Steinebachs Gesichtshaut zurückließ.

»Da habe ich anderes gehört«, knurrte er, ohne den stechenden Blick von Steinebach zu nehmen.

»Ja …« Steinebach holte tief Luft und hustete. »Ich hatte mich mit ihr verabredet … mittags.«

»Also doch!«, brüllte Hartmann erneut und stierte bedrohlich.

»Ja, mein Gott, das ist doch nicht verboten. Aber sie kam gar nicht, verstehst du?« Er stöhnte laut auf. Seinen verkrampften Bewegungen nach, schien er an mehreren Stellen Schmerzen zu verspüren. »Lass mich endlich los!«

»Du hast dich also nicht mit ihr getroffen? Ist das richtig?«

»Ja, wenn ich´s dir doch sage. Sie wollte mir ein Buch über germanische Kultur geben. So ein altes … Sie kennt sich damit aus und ich …«

»Und du Schleimer hast ihr Interesse vorgeheuchelt, was?« Hartmanns Gewicht lastete noch immer auf Steinebachs Brust, der erkennbar unter Luftnot litt.

»Nun lass mich endlich …«

Steinebach röchelte, als läge er in den letzten Zügen. Hartmann ließ von ihm ab, stand auf und ließ ihn sich erheben. Steinebach versuchte, sich den roten Sand vom Shirt zu klopfen, was nicht gänzlich gelang. Sein Kopf war hochrot, das Gesicht verquollen und mit roten Striemen und hektischen Flecken überzogen. In diesem Zustand wäre er gleich die Attraktion in der Behörde.

»Also, was war nun mit ihr?«, fragte Hartmann mit fordernder Stimme und ließ keinen Zweifel daran, dass er sich jederzeit wieder auf seinen Kontrahenten stürzte, gäbe der ihm auch nur den kleinsten Anlass dazu.

»Ich hatte ihr mal gesagt, dass mich das auch interessiert … das mit den Germanen. Und da hat sie mich angerufen und mir das Buch versprochen. Das sollte gestern sein. Gestern Mittag. Aber sie kam nicht. Ich bin nach einer halben Stunde gegangen.«

Hartmann kaute auf seiner Unterlippe. Sollte er dem Wicht glauben? Oder log der aus Angst vor ihm? Er schaute auf den roten Sand des Friedhofweges und scharrte mit seinem Schuh darüber. Dann schüttelte er heftig den Kopf. Irgendetwas stimmte nicht, er wusste bloß nicht, was. Wenn sie diesen Basti versetzt hatte und auch ihn … wo war sie denn dann gewesen? Gab es da etwa noch einen Verehrer? Jedenfalls schien Steinebach die Wahrheit zu sagen.

»Also gut.« Sein Blick wich verärgert zur Seite. Dann sah er Steinebach wieder an: »Ich will dir glauben. Aber solltest du dich nochmal mit ihr verabreden, wird man dir das danach am Gesicht ansehen, noch deutlicher, als jetzt! Verstehen wir uns?« Er untermauerte seine Ansage mit bedrohlicher Mimik und einer gehobenen Faust.

Wie ein wildes Tier, dachte Steinebach, als er den drohenden Hartmann ansah, der mit seinem vorgereckten Kinn wie der Wasserspeier einer gotischen Kathedrale wirkte.

»Ja, alles in Ordnung, Mann. Ich will nichts von deinem Mädel. Reg dich ab.« Er hob die Hände wie entschuldigend und schob sich vorsichtig an dem Kraftprotz vorbei. Seine Arbeitskollegen standen noch immer vor der Friedhofsmauer und schauten ihn betreten an. Keiner hatte sich mehr gemuckst, während Hartmann ihn dazwischen gehabt und sein Kollege Lohmeier den ersten Rettungsversuch abgebrochen hatte. Mit gesenktem Blick tasteten Steinebachs Augen die Szenerie ab, während er auf das Friedhofstor zuging. Er presste die Lippen zusammen, nickte seiner Truppe zu und trollte sich. Ein heimliches Grinsen konnte sich Steinebach trotz seiner verquollenen Mimik nicht verkneifen.

-

»Na, Herr Berger, da haben sie uns ja ein schönes Rätsel gegeben. Nun, eins kann ich ihnen vorab schon mal sagen: Ja, wir haben noch verwertbare Gewebereste gefunden. Nicht übermäßig viel, aber ausreichend, denke ich.« Er hielt die Sprechmuschel zu und hustete. »Aber, da müssen wir uns noch ein wenig gedulden. Die Analyseergebnisse bekomme ich frühestens übermorgen.«

Professor Doktor Severin Gutjahr war ein ausgewiesener Fachmann in Sachen Tötungsdelikte. Natürlich war es seine und die Aufgabe seiner Kollegen, rechtsmedizinische Sektionen durchzuführen und entsprechende Berichte zu verfassen. Aber Berger schätze Gutjahr ganz besonders. Eigentlich schätzte er Ärzte ansonsten gar nicht. Ärzte waren im Grunde genommen Quacksalber. Man könnte auf den Großteil aller niedergelassenen Ärzte verzichten. Die Menschen wären deshalb nicht kränker. Im Gegenteil. Wahrscheinlich wäre der Verzicht auf Ärzte sogar ein positiver Beitrag zur Volksgesundheit. Die Menschen würden einfach nicht mehr jedes vorübergehende Wehwehchen derart wichtig nehmen, wie sie es sich angewöhnt hatten. Das war Bergers vollste Überzeugung. Gutjahr wurde von Berger gar nicht als Arzt angesehen, sondern als Kollege, der im Rahmen der Ermittlung von Tötungsdelikten erheblich zur Aufklärung beitrug. Berger sah Gutjahr als so etwas wie einen Verbündeten im Bemühen um objektive Kriminalermittlung an.

»Gut, aber wenn wir die DNA-Analyse mal weglassen … Sie haben doch bestimmt noch andere Informationen für mich?« Berger wechselte das Telefon zum anderen Ohr.

»Aber natürlich, Herr Berger. Natürlich!« Er lachte sein herzhaftes, etwas metallisch klingendes Lachen. Berger sah den großen, schlanken Mann mit der wirren, grauen Lockenpracht förmlich vor sich stehen. »Also zunächst einmal handelt es sich um eine weibliche Leiche.«

»Neunzehn Jahre alt!«, platzte es aus Berger heraus.

»Zwischen achtzehn und Mitte zwanzig Jahren würde ich annehmen, ja, Herr Berger.« Er lachte wieder, dass es schepperte. »In ein paar Tagen werde ich ihnen vielleicht bestätigen können, was sie ja wahrscheinlich ohnehin schon wissen. Aber, was von Bedeutung für sie sein dürfte: Der Tod wurde nicht durch den Brand verursacht.«

»Ach, das hätte ich jetzt nicht vermutet«, meinte Berger mit ironischem Unterton.

»Auch wenn sie das schon ahnten, Herr Berger. Aber, was sie nicht wissen können: Der Tod wurde durch eine Fraktur des Dens Axis, also eines Bruchs des Zahns des zweiten Halswirbels, verursacht.«

»Genickbruch!«, konstatierte Berger.

»Genau, so können sie so sagen, Herr Berger. Die Tote wurde, die Zeit lässt sich nicht genau fassen, nach dem Todeseintritt mutmaßlich verbrannt. Es handelt sich also möglicherweise um einen Mordbrand. Denn, und da werden sie mir recht geben, es wäre höchst unwahrscheinlich, dass dieser weibliche Mensch bei einem Unfall durch Zervikale Dislokation, also Genickbruch verstarb und danach rein zufällig verbrannte.«

Der Unterschied zwischen einem Mordbrand und einem Brandmord lag in der Todesursache. Während ein Täter bei einem Mordbrand seine Tat mittels Verbrennens des Opfers zu verschleiern sucht, wird beim Brandmord das Opfer ursächlich durch den Brand getötet.

»Ich gebe ihnen recht Professor. Todeszeitpunkt …?«

»Ist bei Brandopfern nicht ganz einfach, wie sie wissen, Herr Berger. Da müssen wir noch etwas dran arbeiten. Das kann dauern, mit ungewissen Erfolgsaussichten.«

»Gut, Professor. Aber sie haben mir wie immer weitergeholfen. Sagen sie mir Bescheid, wenn es weitere Resultate gibt.«

»Klar, Herr Berger, klar. Wie immer: Sie sind der Erste, der´s erfährt«, beendete Gutjahr das Telefonat mit einem herzhaften Lachen.

Nachdem Berger aufgelegt hatte, ließ er sich kraftvoll in die Rückenlehne des Bürostuhls sinken. Monika hatte sich heute Morgen nicht gemuckst. Das war seltsam, denn üblicherweise stand sie vor ihm auf, um ins Bad zu gehen. Wollte sie ihm die kalte Schulter zeigen, weil er den Geburtstag ihrer Freundin versiebt hatte? Sie musste irgendwann nachts heimgekommen sein. Er war zwar bis zwölf Uhr aufgeblieben und hatte auf die Möglichkeit für ein kleines Entschuldigungsgespräch gehofft, konnte aber dann die Augen nicht mehr aufhalten und war zu Bett gegangen. Erneut wählte er seine private Nummer. Fünfmal ertönte das Freizeichen. Niemand nahm ab. Wahrscheinlich war Monika zur Arbeit gefahren. Nur etwas später als üblich.

Gedankenverloren legte er das Telefon zur Seite und kratzte sich am Kopf. Letzte Nacht hatte er geträumt. Die Erinnerung daran breitete sich raumfüllend in seinem Bewusstsein aus. Normalerweise erinnerte er sich an nichts Diesbezügliches. Aber den Traum dieser Nacht hatte er deutlich vor Augen. Das hieß, er hatte sie deutlich vor Augen: Lydia Dragowar, die Staatsanwältin. Beschäftigte sie ihn so sehr, dass er für sie einen seiner höchst seltenen Träume reserviert hatte? Er spürte deutlich, dass es genau so war. Ja, sie beschäftigte ihn so sehr. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er dachte mehr an dieses männermordende Luder, als ihm lieb war. Vielleicht befand er sich in der Midlife-Crisis? Müsste er diese Mittlebenskrise nicht schon längst hinter sich haben? Mit siebenundfünfzig schwimmt man doch normalerweise schon wieder in ruhigerem Fahrwasser, kritisierte er seine sündigen Gedanken. Trotzdem erschienen Fetzen des nächtlichen Traums vor seinem inneren Auge. Er stand neben der attraktiven Staatsanwältin vor seinem Schreibtisch. Sie hatte einen knappen schwarzen Minirock an und beugte sich zusammen mit ihm über eine tischdeckengroße Karte, die sich bei näherer Betrachtung als Speisenkarte eines edlen japanischen Restaurants erwies. Lydia berührte absichtlich unabsichtlich seine Hand, drehte ihm den Kopf zu und flüsterte wie verschworen den Wunsch nach einem gemeinsamen Abend in sein Ohr. Als er sich ihr zuwendete, fasste sie ihn beherzt um den Nacken und führte seinen Mund auf ihre wollüstigen Lippen. Er hätte nicht sagen können, nach welchen verführerischen Essenzen sie duftete. Vielleicht war es Rose, vielleicht Maiglöckchen oder Jasmin. Jedenfalls waren die Düfte betörend. Er konnte das liebliche Gefühl, dass ihn im Traum umfangen hatte, einfach nicht vergessen. Nur, dass die Dragowar ihn im Traum umfänglich und wuchtig, mit all ihrem Liebreiz, in eine sinnliche Ekstase ungeahnten Ausmaßes versetzt hatte.

Das Telefon klingelte. Es war die Nummer der K11 in Koblenz. Hastig versuchte er, die in ihm wallenden Empfindungen abzuschütteln und nahm ab.

»Berger!«

»Kannst du mir sagen, wo du bleibst? Hast du vielleicht Besseres vor, als mit uns den Fall zu klären?«, blaffte ihn ein sichtlich angesäuerter Ansgar Monreal an.

Berger sah auf seine Armbanduhr: Halb elf. Und er hatte heute noch nichts gegessen, was seine Stimmung auch nicht gerade verbesserte.

»Blas´ dich nicht so auf, Ansgar. Ich hab hier auch noch andere Arbeit, ja! Wenn ich mich recht entsinne, fehlst du bei unseren SOKO-Besprechungen deutlich häufiger, als ich.« Berger spielte auf die Abwesenheiten Monreals an, die er stets mit Sonderterminen entschuldigte, die er mit dem Kriminaldirektor Kleinschmidt zu absolvieren habe. Auch Kleinschmidt nahm so selten wie möglich an den Sitzungen der SOKOs teil.

»Ich glaube, dass ich dir keinerlei Rechenschaft über die Präferenzen meiner Arbeitseinsätze schuldig bin. Und bei der Gelegenheit noch Eins: Was denkst du dir eigentlich dabei, auf eigene Veranlassung einen Hausbesuch bei der Familie Seifert durchzuführen? Du hättest uns sofort über die Vermisstenanzeige unterrichten müssen und ich hätte dir schon gesagt, wann wer welche Befragungen durchführt!«

Monreal spukte Gift und Galle. Gar nicht seine Art, dachte Berger, der wusste, dass Monreal im Grunde seines Herzens ein Hasenfuß war, der es meist vermied, mit Berger in Konflikt zu geraten.

»Du kannst mir mit deinen Belehrungen gestohlen bleiben, Ansgar«, entgegnete er und bemühte sich dabei, so ruhig wie möglich zu bleiben. Natürlich ärgerte ihn der anmaßende Ton des Koblenzer Kommissariatsleiters, der leider faktisch für die Ermittlungen zuständig war. Er war aber auch sicher, dass sie auf ihn, als erfolgreichen Ermittler, nicht verzichten konnten. Zumindest nicht bei den Neuwieder Fällen. »Ich habe unverzüglich ermittelt, weil es mir geboten schien und damit keine unnötige Zeit vergeudet wird. Die Ergebnisse werde ich morgen früh vorstellen. Du brauchst dir also gar nicht in die Hose zu machen!«

Mit diesen Worten beendete er das Gespräch, indem er den roten Knopf auf dem Handgerät drückte, onnte aber trotz der noch schwach glimmenden Verärgerung über den Kollegen nicht verhindern, dass er bei dem Gedanken an die Besprechung der SOKO sofort wieder die junge Staatsanwältin vor Augen hatte, die sich zum Ergötzen der männlichen Sitzungsteilnehmer lasziv auf dem Besprechungstisch räkelte und ihre herrlichen, in Nylons gehüllten Beine, bis zum Poansatz feilbot.

Mit einem unglücklich wirkenden Gesichtsausdruck schüttelte er den Kopf, erhob sich aus seinem Stuhl und zischte unvermittelt einen Schmerzlaut durch die Zähne. Da war er wieder und das mit aller Macht: Der Tiefe Rücken, das Kreuzbein. Os sacrum, würde Gutjahr sagen. Er wischte einige der grauen Haare vom Ärmel seines Sakkos. Werden auch immer mehr, dachte er und fühlte vorsichtshalber am Stirnansatz nach verbliebenem Kopfhaar. Vielleicht half ihm die Einsicht in seine Altersgebrechen ja über die sündigen Gedanken an das verführerische Geschöpf hinweg.

-

Gegen halb drei wäre sie zuhause, hatte sie ihm am Telefon mitgeteilt. Jetzt war es viertel vor drei und niemand schien zuhause zu sein. Als er zurück zu seinem Wagen ging, kam ein schwarzer BMW X5 um die Ecke gebogen. Sie saß drin, winkte ihm kurz zu und fuhr vor das breite schmiedeeiserne Tor, das sich unmittelbar öffnete. Er drehte sich wieder zum Haus, schlenderte den geschwungenen Pflasterweg zur Haustür hinauf und wartete auf sie.

»Guten Tag Herr Berger!« Sie war etwas außer Puste, als sie über die parallel zur Hausfront verlaufenden Trittsteine auf ihn zu kam. »Entschuldigen sie, aber einige unaufschiebbare Fälle … alte Leute, wissen sie.« Mit einem freundlichen Lächeln wandte sie sich zur Haustür und öffnete sie. »Bitte … kommen sie herein. Möchten sie etwas trinken, darf ich ihnen etwas anbieten?«

Berger winkte ab. »Danke, nein. Ich werde sie auch heute nicht lange aufhalten. Ich …« Er wusste, dass sie diese Information mit Sicherheit umhauen würde, sofern es sich so verhielt, wie er es vermutete. Aber, er hatte keine Wahl. Das, was er bei sich hatte, bot zurzeit die einzige Möglichkeit, die Tote vom See mit hoher Wahrscheinlichkeit zu identifizieren.

Er wartete, bis sie ihre Tasche in der Diele abgestellt und ihn zur Sitzgruppe im Wohnzimmer geleitet hatte.

»Ihr Mann …?«, fragte er beiläufig.

»Ist im Büro. Heute bis ungefähr sieben Uhr.«

Berger nickte. Die Frau des Hauses wies Berger einen der Sessel und setzte sich dann selbst ihm gegenüber. Berger griff nach dem Foto in der Innentasche seines Sakkos und hielt es noch verdeckt vor sich.

»Frau Doktor Seifert-Möbus. Sie wissen, dass wir eine Leiche am See bei Engers gefunden haben …«

Ihre Hand bewegte sich bereits ganz langsam zum Mund. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Berger gespannt an.

»Ich möchte nochmals darauf hinweisen, dass wir noch nicht so weit sind, um …«

Frau Doktor Seifert-Möbus nickte einmal heftig, wie, um den Versuch zu unternehmen, sich Angst und Betroffenheit vom Leib zu schaffen. »Sagen sie es frei heraus … Sie denken, es ist Kathi, nicht wahr? Ich … ich kann es ihnen ansehen. Sie haben einen Beweis. Stimmt es nicht?« Mit ihrer letzten gehetzt gestellten Frage schlug sie sich die Hände gänzlich vor den Mund. Ihre Augen weiteten sich und starrten Berger entsetzt an.

»Es tut mir leid, ihnen das zumuten zu müssen, aber ich habe hier das Foto eines Schmuckstücks, das bei der Leiche am See gefunden wurde. Würden sie es sich bitte anschauen und mir sagen, ob es ihnen bekannt ist?« Er legte den Ausdruck des Fotos mit der Druckseite nach unten auf den Couchtisch.

Sie nickte, die Hände noch immer vor den Mund gepresst.

Berger drehte den DIN A4 Farbausdruck um, so dass sie darauf blicken konnte. Ein unterdrückter Schrei und die in ihren Augen machtvoll hervorquellenden Tränen zeigten Berger, dass er richtig gelegen hatte. Der Thorshammer. Er hatte also Katharina Seifert gehört.

»Es tut mir sehr leid … Auch wenn ich sie damit nicht trösten kann, verspreche ich ihnen, dass wir alles tun werden, um die Sache aufzuklären.«

Der Kopf der Ärztin sank vornüber und verharrte dann eine Handbreit über ihrem Schoss. Der Körper wurde von einem jäh einsetzenden Weinkrampf geschüttelt. Sie hörte ihn wahrscheinlich gar nicht mehr. Berger versuchte zu schlucken. Seine Kehle war staubtrocken und kratzte. Das hier gehörte nicht zu seinen Lieblingsdisziplinen. Auch nicht zu denen, die er auch nur annähernd gut beherrschte, und er hätte diesen Auftrag gerne an Niko übertragen wollen, wenn der sich nicht mit Zahnschmerzen zum Zahnarzt verabschiedet hätte. Und Fassbender war ohnehin seit gestern krankgeschrieben. Wieder mal. Die Pfeife! Wahrscheinlich offiziell wegen eines Schnupfens. Inoffiziell, wegen einer Brandleiche. Na, den würde er sich noch vornehmen.

»Kann ich vielleicht irgendetwas für sie tun?«, versuchte er sich in empathischer Korrektheit. Was ihm nicht leichtfiel, da sein Versuch in mitfühlender Anteilnahme durch eine ebenso kritische wie tadelnde Selbstbeobachtung begleitet wurde.

Frau Doktor Seifert-Möbus machte es ihm allerdings nicht sonderlich schwer. Mit einem knappen Räuspern setzte sie sich wieder aufrecht hin, wischte sich kurz mit den Fingern über die Augenlider und schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein, Danke! Ich …« Sie atmete tief ein und seufzte. »Ich werde jetzt meinen Mann anrufen, wir müssen sehen, was zu tun ist.«

Sie stand auf, hielt sich dabei an der Lehne des Zweisitzers und nickte Berger nochmals zu. Der war ganz froh, diese Situation nicht mit einem Gefühl von Schuld verlassen zu müssen. Dem Gefühl, ein Schwein zu sein, das auf die Angehörigen der Opfer keinerlei Rücksicht nimmt, ja, das nicht einmal ein Mindestmaß an ehrlichem Mitgefühl aufzubringen in der Lage war. Aber nein, so war es ja nun auch nicht. Er wusste sehr genau, dass er lediglich den Transfer zwischen den unterschiedlichen Emotionen nicht hinkriegte. Quasi das Management zwischen dem mitfühlenden und dem selbstzerstörerischen Element in seiner eigenen Gefühlswelt. Im Grunde genommen zerriss es ihn, Beobachter solcher Abgründe zu sein. In der Tiefe seiner Seele ertrug er diese Situationen, die ihm sein Beruf immer wieder präsentierte, nur durch den Schutz der Mauern, die er um sein Innerstes hochgezogen hatte. Mauern, die mittlerweile so hoch waren, dass er zeitweise glaubte, sein Gegenüber dahinter gar nicht mehr wahrnehmen zu können. Das, was andere an ihm anerkennend als seine typisch zupackende Art bezeichnet hätten, war tatsächlich häufig nur das für ihn lebenswichtige Verstecken hinter diesem monumentalen seelischen Bollwerk … um Distanz zu schaffen, für den Frieden, den er dringender brauchte, als alles andere.

»Also, Frau Doktor Seifert-Möbus …« Er drehte sich vor der geöffneten Haustür nochmals um. Sein Blick huschte kurz über ihr Antlitz, um dann auf ihren Schuhen zu verharren. »Wenn sich etwas Neues ergibt, rufen wir sie an.« Er räusperte sich, hob wieder den Kopf und sah ihr in die Augen.

»Danke!« Kraftlos reichte sie ihm die Hand und schniefte.

Berger nickte, verabschiedete sich und drehte ab.

-

Was war bloß mit ihm los? So kannte er sich gar nicht. Seit sie verschwunden war, konnte er sich gar nicht mehr beruhigen. Er hätte es doch früher niemals für nötig befunden, jemand anderen nach dem Verbleib seiner Flamme zu fragen. Auch wenn er es sich selbst gegenüber nur ungern eingestehen wollte: Er hatte sich wohl heftig verschossen in das Mädel.

Gregor Hartmann fuhr sich in die blonde Mähne und legte sie sich hinters Ohr. Biggi kam pünktlich und lächelte ihn überfreundlich an. Na, wahrscheinlich wollte sie ihn auch. Aber sie war nicht sein Typ. Zu klein und zu mopsig. Birgit Mahlberg war eine Klassenkameradin von Kathi. Das heißt, sie war eine gewesen bis zum Abi, das sie vor einigen Wochen absolviert hatten. Biggi hatte ihm den Hinweis mit der gestrigen Verabredung zwischen Kathi und diesem Luschi, dem Basti, gegeben.

Das Bistro der Eishalle war ein guter Ort, um sich Infos über Kathi zu holen. Tagsüber war hier so gut wie nichts los, und er musste sich keine Sorgen machen, dass ihn irgendjemand hier sähe und mitbekäme, was er mit Biggi zu bequatschen hatte. Er fühlte sich zwar getrieben wie nie, aber das sollte nicht unbedingt bemerkt werden. Seinen Ruf als cooler Aufreißer wollte er sich nicht versauen lassen. Der Gregor … macht sich Sorgen, weil ihn ein Mädel versetzt hat? Das wäre eine Schmach.

Er hob den Zeigefinger und blinzelte Giulia zu, die heute Dienst hinter dem Tresen schob. Das Bistro wurde von ihrem italienischen Clan betrieben. Giulia war eine hübsche Zwanzigjährige mit großen braunen Augen und glänzenden, schwarz gelockten Haaren bis zum Hintern. Er hatte sie zweimal in der Kabine der ersten Mannschaft genommen, nachdem alle anderen bereits gegangen waren. Sie stand auf die Duftmischung aus beißendem Männerschweiß, Leder und Deospray. Und sie stand auf ihn.

Sie warf ihm einen beleidigten Blick zu, was nur bedeuten konnte, dass sie mehr von ihm wollte, als die flotten Nummern auf der harten, rot lackierten Holzbank der Mannschaftskabine. Hartmanns Fingerzeig hatte sie verstanden. Sie hantierte bereits an den keramikverzierten Messinghähnen und zapfte ihm ein Weizen. Er sah Biggi an und hob auffordernd das Kinn. »´Ne Cola«, sagte sie halblaut und Hartmann bestellte. Biggi rutsche unruhig auf der Bank hin und her und Hartmann wartete, bis Giulia die Getränke an den Tisch brachte. Keinesfalls wollte er das Gespräch beginnen, um auch nicht den kleinsten Hinweis auf seinen Gemütszustand zu geben. Als die hübsche Italienerin das Weizen vor Hartmann abstellte, konnte sie sich ein provokativ neutrales »Wohl bekomm´s!« nicht verkneifen. Die Cola knallte sie ohne weiteren Kommentar und ohne Biggi eines Blickes zu würdigen mitten auf den Tisch. Mit einem Grinsen verfolgte Hartmann den davoneilenden prachtvollen Hintern, den die junge Italienerin gekonnt zu schwingen verstand.

Hartmann wandte sich seinem Weizen zu, nahm einen mächtigen Schluck, der das Glas halb leerte, und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Biggi nippte an ihrer Cola. Da sie aber weiterhin keine Anstalten machte, mit dem Gespräch zu beginnen, blieb Hartmann nichts anderes übrig, als selbst den Anfang zu machen.

»Also, Biggi, du wolltest mir etwas über Kathi sagen.« Er versuchte dabei so gelassen wie möglich zu wirken.

»Ja, also, ich habe ja mitbekommen, dass du sie sehr magst, die Kathi …« Mit einem schüchternen Blick versuchte sie die Regungen in Hartmanns Gesicht zu deuten. Der räusperte sich nur knapp mit einem Laut, der weder Zustimmung noch Leugnung bedeuten konnte und versuchte seine Anspannung zu unterdrücken. Ein kurzes Flackern seiner Augen verriet allerdings, dass Biggi mit ihrer Sichtweise recht hatte, er dies aber nicht zugeben wollte.

»Also, deshalb … ich meine, du solltest wissen, dass Kathi gar nicht das brave Mädchen ist, das sie …« Sie setzte sich abrupt aufrecht und presste die Lippen zusammen, als wollte sie verhindern, Dinge zu sagen, für die sie sich später schämen müsste. »Ich will nicht schlecht über Kathi reden! Versteh mich bitte nicht falsch. Das ist nicht meine Art, weißt du … schließlich waren wir Klassenkameradinnen, haben zusammen Abi gemacht und so.«

»Ja, ich weiß das doch, Biggi. Aber … natürlich wüsste ich gerne, wie es um Kathi steht, verstehst du? Vielleicht versteh ich ja nur einiges falsch«, versuchte Hartmann ihr die Scheu zu nehmen, über eine Bekannte zu lästern, die im Grunde genommen gar keine Freundin von ihr war.

»Also gut.« Sie blickte verschwörerisch zur Theke und dann in Hauptmanns Augen. »Kathi nimmt Drogen!« Ihre weit aufgerissenen Augen sollten wohl sagen, dass Hartmann, wie sie selbst, über diese Information entsetzt sein müsste. Aber der winkte nur ab.

Drogen? Die nahm doch jeder! Natürlich nicht in einer Art und Weise, dass man abhängig würde. Aber doch jedenfalls hin und wieder. Auch er rauchte hin und wieder etwas Gras. Sogar mit Kathi hatte er es zusammen schon geraucht, und sie hatten geilen Sex danach gehabt. Dafür war das Zeug doch da!

»Also, ich meine nicht nur ab und zu ´nen Joint«, beeilte sich Biggi zu sagen, die wohl Hartmanns Gedanken lesen konnte.

»Was meinst du damit?« Hartmann schien sein Interesse an der angeblichen Neuigkeit nun doch nicht mehr unterdrücken zu können.

»Na, ich meine so richtige Drogen … also Koks, Ecstasy … solches Zeugs.« Sie nickte heftig mit dem Kopf, als müsse sie sich selbst die Verwerflichkeit von Drogenkonsum bestätigen.

Für Hartmann, der selbst schon gelegentlich Ecstasy genommen hatte, wenn er mit einigen der Jungs aus der Mannschaft in den Discos der Region unterwegs war, bedeutete diese Information zwar grundsätzlich nichts Weltbewegendes, seine Neugier war allerdings geweckt, da die Info bislang unbekannte Seiten an der schönen Kathi offenbarte. Er war sich allerdings absolut sicher, dass Kathi keinesfalls diesen Drogen verfallen war, also eine Sucht entwickelt hatte. Dazu war sie absolut nicht der Typ!

»Wo hat sie denn das Zeugs her?«, fragte er und fuhr sich dabei mit einer bewusst coolen Geste durch die Haarpracht.

»Das ist es ja, was ich dir eigentlich sagen wollte. Hast du davon wirklich nichts gewusst?«, fragte sie rhetorisch, mit einem überrascht wirkenden Gesichtsausdruck.

Hartmann reagierte gelassen und zuckte mit den Schultern, obwohl er innerlich fieberte.

»Also«, fuhr Biggi fort, »Kathi fährt so alle zwei Wochen nach Köln, ins Stempelkissen. Du weißt, die Riesendisco da, am Ring.«

Hartmann nickte. Die Location kannte jeder.

»Die Sache ist die, dass sie den Besitzer kennt, diesen Syrer.« Sie beugte sich nach vorn und über den Tisch, um sich sicher zu sein, dass die italienische Tussi nicht mithören konnte. »Ibrahim heißt der und von dem kriegt sie alle möglichen Sachen«, hauchte sie.

»Alle möglichen Sachen, wie …?«

»Na, ja … diese Drogen halt. Der schenkt ihr das aber wohl nicht …« Sie machte eine vieldeutige Handbewegung. »Ich weiß ja auch nur, was man sich so erzählt …« Ihr Blick haftete suchend auf Hartmanns Gesicht.

»Na, was erzählt man sich den da so?« Er konnte sich kaum noch zurückhalten, so sehr brannte die Mischung aus Eifersucht und Wut in ihm. Dieses blöde Luder soll nicht so geheimnisvoll tun und endlich alles ausspucken! In seinen Lippen zuckten tausend spitze Stiche wie kleine Elektroschocks.

»Sie soll ihn mit Sex bezahlen. Verstehst du? Mit so einem ekligen … Hast du den mal gesehen?« Ihre Stimme war mit den letzten Worten so laut geworden, dass Giulia ihnen vom Tresen einen bösen Blick zuwarf.

Na klar kannte er den Syrer. Wie jeder, der die bekannte Kölner Disco schon mal besucht hatte. So ein untersetztes Kraftpaket. Höchstens eins siebzig groß, Bodybuilder. Schwarze, in Öl gelegte und im Nacken zu einem Schwänzchen zusammengebundene Löckchen. Der stand doch in seiner Jogginghose für jeden sichtbar abends ab zehn in seiner Ecke hinter dem Tresen und taxierte die Mädels. Und natürlich sagte man ihm auch nach, dass er mit Drogen zu tun hatte.

»Alles klar!«, sagte Hartmann nur. Aber die Bedrohlichkeit, mit der er die Worte hervorstieß und der wie abwesend wirkende Blick, mit dem er in die Ferne der hinter einer Glasscheibe liegenden Eishalle stierte, ließen erahnen, welch emotionalen Eruptionen die Information ihn ihm ausgelöst hatte.

-

Gab es irgendwas, an das er heute hätte denken sollen? Hatte Monika ihm irgendeinen wichtigen Termin genannt? Das gestern, okay, das war nicht in Ordnung von ihm gewesen. Vielleicht hätte er das eine oder andere schneller erledigen und pünktlich um sechs zu Hause sein können. Aber, er hatte es verdammt nochmal nicht geschafft. Er überlegte deshalb verbissen, ob sein Gedächtnis irgendeinen wichtigen Hinweis für den heutigen Tag hergab, aber ihm fiel nichts ein. Der Arbeitstag musste also noch nicht zwingend enden.

Halb vier. Da könnte er nochmal in die Stadt fahren und im Kommissariat vorbeischauen, bevor er sich Vater Seifert vorknöpfte. Vielleicht gab es irgendwas Neues im Fall des verbrannten Mädchens, dass ihm noch niemand mitgeteilt hatte.

Mit Schwung nahm er die Einfahrt in die Tiefgarage unterhalb des Elektronik- und des Supermarktes. Dabei touchierte er die linke Mauer vor der Schranke und demolierte sich den kompletten hinteren Kotflügel. Ähnlich, wie bei Zusammenstößen mit dem Autoscooter auf der Pfingstkirmes, wurde er bei der Kollision durchgeschüttelt. Stoisch fuhr er trotzdem weiter bis zu den Parkplätzen der Polizeidirektion, als sei nichts gewesen. Erst nach dem Parken des Dienstwagens begutachtete er den Schaden mit einem säuerlichen Zug um den Mund. Verdammt! Das war ihm doch erst letztes Jahr passiert. Wieso häuften sich diese überflüssigen Peinlichkeiten in letzter Zeit? Verärgert über sich selbst, aber auch mit einer gehörigen Portion Scham blickte er sich unauffällig in der Tiefgarage um. Niemand schien den Vorfall bemerkt zu haben. Na, ist ja auch nur Blech, beruhigte er sich selbst und verließ die Garage.

Auf der Treppe zum ersten Stock des Polizeigebäudes kam ihm Nikolai Sorokin entgegen.

»Schon Feierabend, Nico?«

»Ah, Ronny! Gut, dass ich dich noch treffe. Der Monreal hat eben angerufen.«

»Ja, und? Hat er den Fall schon geklärt?«, fragte Berger bissig.

»Du sollst dir schon mal die Freunde der Katharina Seifert vornehmen. Monreal sagt, er will auch in diesem Fall keine Zeit verlieren. Und da du heute Morgen nicht bei der SOKO gewesen wärst …«

»Keine Zeit verlieren …? Na, da wär´ ich jetzt nicht drauf gekommen, dass das der Schwerpunkt der Koblenzer ist. Die Clique zu verhören stand sowieso ganz oben auf meiner Hausaufgabenliste, mein Gott.« Berger hob die Augenbrauen und wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Aus dem Monreal wird später noch mal ein richtig guter Ermittler«, meinte er ironisch, den Kopf ganz nah zu Sorokin geneigt. »So analytisch, wie der denkt.«

Sorokin grinste und nickte.

»Aber erstmal werde ich mit Vater Seifert sprechen. Der ist jetzt unser Hauptverdächtiger.« Berger gab Sorokin eine kurze Information über Gutjahrs Aussagen.

»Mach langsam, Ronny. Ich würde abwarten, bis wir die Gutjahrs Erkenntnisse in der SOKO besprochen haben.«

»Ja, du!« Bergers kräftiger Rippenstüber ließ Sorokin in die Knie gehen.

»Ach, die Rheinland-Post hat sich natürlich wieder gemeldet«, presste der junge Kollege zwischen den Zähnen hervor, als er sich mühsam wieder aufrichtete. »Die wollen jetzt wissen, was los war. Sie haben erfahren, dass wir am Silbersee waren und so weiter und drohen mit Ärger.«

»Ja, das sollte der Ansgar machen, aber … weißt du was, lass uns selbst von hier aus anrufen bei der Redaktion, morgen.« Er kratzte sich am Kopf. »Morgen ist Samstag, das passt prima!«

»Ja, und was sollen die, die morgen Dienst haben, sagen?«

»Na, ganz einfach, dass in dem abgebrannten Schuppen am Steinsee eine nicht identifizierte Brandleiche gelegen hat. Kein Geschlecht, keine Todesursache, nix. Alles Weitere erfahren sie, wenn wir mehr wissen!« Er nickte bestimmend mit dem Kopf.

»Also in Ordnung, Ronny. Ich klär das mit den Kollegen, die Morgen Bereitschaft haben, aber …« Er sah auf seine Armbanduhr und verzog das Gesicht. »Verdammt, das mach ich telefonisch … bin dann mal weg, Ronny.« Sorokin schien es tatsächlich eilig zu haben. Er hob noch die Hand und lief die Treppe runter. Auf der letzten Stufe drehte er sich nochmals gehetzt um und rief Berger zu: »Ach, ´nen schönen Gruß von der Dragowar soll ich dir ausrichten!«

»Wie … was … was wollte die denn?« Wie von der Wespe gestochen riss Berger den Kopf herum und stotterte seine Frage aufgeregt heraus, aber Sorokin war unten schon durch die Eingangstür verschwunden.

Die Dragowar, dachte Berger und wischte sich mit dem Handrücken den urplötzlich aufgetretenen Schweiß von der Stirn. Was hat die bloß? Er erinnerte sich an den elektrisierenden Händedruck vom Vortag und verspürte augenblicklich ein beunruhigendes Kribbeln in der Magengegend. Oder war es die Lendengegend? Wie, um sich von den ungewollten Gedanken zu befreien, schaute er nochmals auf seine Armbanduhr. Kurz nach halb vier. Und es war brütend heiß.

-

»Guten Tag! Berger, Kripo.«

Er zog seinen Dienstausweis und hielt ihn der aufgebrezelten Vorzimmerdame vor die Nase. Das, was er von ihr erkennen konnte, war durchaus wohlproportioniert. Allerdings hing zäh ein aufdringliches und nach Bergers Geschmack zu schweres Odeur in der Luft.

»Ich möchte gerne mit Herrn Seifert sprechen, ist er …«

»Herr Direktor Seifert ist in einer Besprechung, tut mir leid!«, platzte es prompt und völlig unbeeindruckt, mit sehr spitzem Unterton aus der nun sehr streng wirkenden Dame heraus.

Gut dressiert, dachte Berger. Aber so etwas kannte er ja. Im Grunde genommen waren die Gold wert, diese weiblichen Bullterrier in den Vorzimmern. Er steckte sich seinen Dienstausweis wieder ein und ging, ohne sich weiter um den weiblichen Abschirmdienst zu kümmern, forschen Schrittes an ihr vorbei und auf die breite Tür aus Nussbaumfurnier zu, hinter der sich Seiferts Büro versteckte. Die aufgeregten Worte der nun hektisch aufgesprungenen Sekretärin oder Assistentin oder wie immer sie sich schimpfen mochte, überhörte er demonstrativ. Ohne anzuklopfen riss er die Tür auf. Hinter einem riesigen Schreibtisch aus glänzendem dunklen Holz und Chrom hockte Direktor Seifert und blickte starr auf die blankgeputzte Platte vor sich hin. Mit einem Ruck setzte er sich gerade.

»Berger, Kripo. Herr Seifert?«

»Ja«, entfuhr es Seifert wie in Trance.

»Ich habe dem Herrn nicht erlaubt …«, kreischte der Vorzimmerterrier, der sich mit einigem Abstand wild gestikulierend hinter Berger positioniert hatte, aber Seifert wies die Dame mit einem geübten Fingerzeig an, die Tür zu schließen und sie alleine zu lassen.

»Danke, Frau Blank!«, brachte er noch kraftlos hervor, bevor er Berger einen Stuhl am Besprechungstisch im Eck des mit bodentiefen Fenstern umsäumten Büros anbot.

Sechzehn Sitzplätze reihten sich um den glänzenden Tisch, der aus dem gleichen Holz stammte, wie der Arbeitsplatz des Herrn Direktor. Wahrscheinlich Palisander, schätzte Berger.

»Bitte, nehmen sie doch Platz.« Seifert wies mit einer kraftlosen Handbewegung nochmals zu einem der Stühle und setzte sich dann selbst gegenüber. Seine langsamen Bewegungen ähnelten denen eines Rheumakranken. »Darf ich ihnen …?«, hauchte er erschöpft.

»Nein, danke. Ich möchte nichts«, kürzte Berger die Anstandsfrage nach einem Getränk ab.

»Sie kommen wahrscheinlich wegen … wegen der Sache?«

Er zog ein leidendes Gesicht, was ihm selbstverständlich zustand, wie Berger eingestehen musste. Er konnte es absolut nachempfinden, dass man aus der Bahn geworfen wurde, wenn man seine einzige Tochter verlor. Im Grunde genommen war es das Schrecklichste, was Berger sich überhaupt vorstellen konnte. Dafür machte Seifert einen durchaus gefestigten Eindruck. Berger könnte sich nicht vorstellen im Büro zu sitzen, wenn man ihm die Nachricht vom möglichen Tod der einzigen Tochter überbracht hätte. Der Mann gehörte im Grunde genommen jetzt zu seiner Frau! Stattdessen ließ er jetzt seine Schultern sinken und blickte ausdruckslos vor sich.

»Ja, Herr Seifert. Ich komme wegen der Ermittlungen um den möglichen Tod ihrer Tochter.«

Seifert nickte und presste die Lippen zusammen. Seine Augen wanderten wirr von Berger zur Tischplatte und zurück. Drei-, viermal. Seine linke Hand hatte er zur Faust geballt, die Finger der rechten zitterten.

»Herr Seifert, ich habe ja bereits mit ihrer Frau gesprochen. Es steht nicht mit Sicherheit fest, aber es könnte sich bei einem Todesfall in Neuwied um ihre Tochter handeln.« Die Kunstpause nutze Berger zur Beobachtung des Mannes, der allerdings ohne jede Regung in seinem Stuhl saß und seinen Blick ausdruckslos auf der Tischplatte ruhen ließ. »Nun würde ich gerne einige Fragen an sie richten. Ist das für sie in Ordnung?«

Seifert nickte wieder, räusperte sich kränklich und presste den Oberkörper in die Rückenlehne seines Besprechungsstuhls. Ein attraktiver Mann, dachte Berger. Vielleicht ein paar Zentimeter zu kurz geraten, aber ansonsten ein Idealbild von einem Kerl. Ihm wollte gar nicht einleuchten, warum Seifert in Neuwieder Damenkreisen den etwas despektierlichen Spitznamen »George Clooney für Arme« erhalten hatte. Mit seinen grau melierten gut frisierten Haaren und dem perfekt gebräunten Teint ähnelte er tatsächlich diesem etwas unintelligent wirkenden Hollywoodakteur.

»Gut. Wie würden sie Kathi beschreiben?«

Seifert blinzelte und starrte dann auf seine Hände, die er im Schoß aneinander rieb, als sollten sie Wärme erzeugen, oder, damit sie das Zittern verbargen. »Kathi ist ein … ein wundervolles Mädchen«, begann er stockend. »Hübsch und … intelligent … kommunikativ.« Sein Kopf hob sich. Er blickte aus dem Fenster, als verfolge er da draußen eine Sensation und ließ den Kopf dann wieder sinken. »Sie hat viele Freunde.« Jetzt sah er Berger mit einer Leidensmiene an. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass sie jemals mit irgendjemanden Streit hatte. Sie besitzt so ein …« er holte tief Luft, als müsse er Anlauf nehmen, um seine Tochter zu beschreiben. »Sie kann alle faszinieren und hat so eine Intelligenz, die … wissen sie, sie kann einen Menschen erkennen und verstehen und …«

»Soziale Intelligenz?«, versuchte Berger zu helfen.

»Ja, auch soziale Intelligenz. Sie weiß irgendwie auch immer, was andere denken oder wollen.« Seifert drehte den Kopf und blickte wieder aus der breiten Fensterfront. Von hier oben hatte man einen phantastischen Blick über die Mosel. Leicht abwesend sprach er weiter. »Kathi ist an allen und an allem interessiert. Ich kenne niemanden, der ein dermaßen großes Interesse an allem aufbringt.«

Er stockte. Wahrscheinlich wurde er sich in diesem Augenblick bewusst, dass seine Tochter das alles nun nicht mehr war. Dass nichts jemals mehr so wäre, wie es gewesen war. Diese Augenblicke der Einsicht kämen immer häufiger, bis das Bewusstsein die Realität schließlich annähme. Und bei denjenigen, bei denen dieses Bewusstsein sich standhaft weigerte, die Tatsachen anzunehmen, käme irgendwann der Wahnsinn, wusste Berger. Trauernde Väter oder verzweifelte Täter, völlig egal. Welche der beiden Rollen spielte Martin Seifert? Oder spielte er beide?

Wie in Zeitlupe drehte Seifert den Kopf zu Berger. »Sie wird …« Er stockte, weil er sich des Gedankens zu nähern schien, dass er sie womöglich nie mehr in den Arm nehmen könnte. »… wird von jedem gemocht … und sie ist jedem Menschen gegenüber aufgeschlossen.«

»Und ihr Verhältnis? Wie ist das Verhältnis zwischen ihnen und ihrer Tochter?«

Seifert blinzelte wieder. Ob aus Unsicherheit oder wegen aufsteigender Tränen, da wollte sich Berger nicht festlegen. Er war aber geneigt, dem Mann eher das Trauergefühl zuzugestehen.

»Sie ist meine Tochter. Man hat ja ein anderes Verhältnis zu seinen Kindern, als zu sonstigen Menschen.« Er schaute wieder in die Welt außerhalb der bodentiefen Scheiben. Kramte in seinen Erinnerungen. »Natürlich hatten wir auch schon mal andere Ansichten«, begann er erneut. »Unterschiedliche Meinungen, wie in jeder anderen Familie auch. Aber es gab niemals ernsthaften Streit, wenn sie das meinen.«

Seifert seufzte und fasste sich an die Brust. Der Seifert wird aber jetzt nicht kollabieren, hoffte Berger und nickte hurtig und verständnisvoll mit dem Kopf.

»Das Verhältnis zwischen ihr und ihnen ist … oder war also bisher entspannt?«, versuchte er zunächst auch einfühlsam etwas Luft aus dem Kessel zu lassen.

Seifert bestätigte mit einem Augenblinzeln und legte die Hände vor sich auf den Tisch.

»Wir verstehen uns gut. Sehr gut sogar, wenn man andere Familien so sieht … Kathi ist einfach positiv, wissen sie … ein durch und durch optimistischer Mensch.«

»Die Frage nach irgendwelchen Feindschaften oder Streitigkeiten mit anderen Menschen erübrigt sich also?«

»Ja.«

Seifert schien sich gefangen zu haben, nun war der entscheidende Moment gekommen.

»Herr Seifert … bitte empfinden sie die Frage nicht als Provokation. Ich muss sie ganz einfach stellen. Das gehört zur Ermittlungsarbeit dazu. Hatten sie mehr als ein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter?«

Die erwartete Reaktion blieb aus. Möglicherweise fehlte ihm aber auch ganz einfach die Energie zu einer heftigen Zurückweisung eines solchen Gedankens. Berger beobachtete ihn genau.

»Sie wissen, auf was ich mit meiner Frage anspiele? War die Liebe zwischen ihnen beiden mehr, als die zwischen einem Vater zu seiner Tochter?«

Nein, auch hierbei sprang nichts an. Da kam keine Hektik auf. Da war nichts, soviel war sicher. Seifert atmete einmal tief ein und aus und schloss für einen kurzen Augenblick die Lider. Dann schüttelte er den Kopf. So langsam, dass man hätte meinen können, ihm sei mittlerweile alles egal. Berger reichte das.

»Sie verneinen meine Frage, richtig?«

Als sein Gegenüber ihn mit einer ehrlichen Leidensmiene ansah und matt nickte, fuhr Berger fort.

»War ihnen bekannt, dass Kathi etliche Männerbekanntschaften hat?«

Den Kopf leicht herabhängend und die Augen zu einem Schlafzimmerblick verengt, als wolle er gleich einnicken, antwortete Seifert: »Ja, natürlich. Mein Gott …« Er richtete sich in seinem Stuhl auf, als hätte er soeben eine Extraportion Vitalität erhalten. »Meine Frau und ich waren uns immer darüber im Klaren, dass Kathi auch eine sexuell aktive junge Frau ist … seit sie im entsprechenden Alter war. Wie gesagt …« Er pumpte tief Sauerstoff in seine Lungen und weitete die Augen. »Sie ist sehr offen. In jeder Beziehung. Das ist kein Geheimnis bei uns zuhause. Und wir haben es auch immer als Ausdruck ihrer Lebensbejahung und ihrer Freiheitsliebe angesehen.« Sein Oberkörper wippte leicht zur Bekräftigung seiner Worte. »Wir hatten nie Angst, dass sie dabei übertriebe. Sie ist sehr selbstständig und hat uns niemals das Gefühl gegeben, wir müssten uns deshalb Sorgen machen.«

»Sie haben also nicht darunter gelitten, dass sie …?«

»Nein. Absolut nicht.« Er schluckte nervös. »Wir fanden nichts Unnatürliches an ihrem Verhalten, an ihrer Sexualität. Absolut nicht.«

»Danke, Herr Seifert. Zuletzt: Ich muss ihr Alibi überprüfen. Für die Zeit von Mittwoch, als ihre Tochter das Haus verließ, bis Donnerstagmorgen.«

Auch hierbei war keine besondere Reaktion Seiferts erkennbar. Entweder war der Mann ein perfekter Schauspieler, oder hinsichtlich des Todes seiner Tochter so sauber wie Meister Propper.

Seifert machte seine Angaben. Im Wesentlichen würde seine Frau das Alibi bestätigen müssen, denn Seifert war nach seinen Angaben von Mittwoch, achtzehn Uhr, bis Donnerstagmorgen, sieben Uhr, zuhause gewesen. Berger machte sich Notizen und verabschiedete sich. Seifert blieb kraftlos in seinem Stuhl sitzen. Den trauernden Vater nahm man ihm ab. Absolut. Der riss sich nur zusammen, solange er nicht alleine war. Aber, und da war sich Berger sehr sicher, da schwang noch irgendetwas anderes mit. Berger konnte es nicht genau beschreiben, aber Seifert trieb noch etwas um, dass nichts mit der Trauer um seine Tochter zu tun hatte. Irgendetwas stimmte nicht und das konnte seiner Meinung nach auch mit den KWK zusammenhängen. In dem Laden hier roch es regelrecht nach unausgesprochenen Geheimnissen.

Als er die Klinke der Bürotür in die Hand nahm, wusste er, dass der Mann hinter ihm gleich die Schreibtischplatte vollheulen würde.

Beim Verlassen der Direktionsräume zwinkerte er Frau Blank zu, die ganz brav hinter ihrem Schreibtisch saß und ganz, ganz wichtige Dinge auf ihrem PC-Bildschirm zu beobachten hatte. Er nahm ein Pfefferminzbonbon, dass er aus den Tiefen seiner Sakkotasche hervorkramte, schob es ihr über die Schreibtischplatte zu und wies mit seinem Daumen nach hinten, zum Büro ihres Chefs. »Die Besprechung ist beendet. Der Herr Direktor ist jetzt frei!«

-

»Moni?«

Wo war sie denn? Um sechs war sie normalerweise immer zu Hause. Und wo war Janis? Na, ja. Wahrscheinlich war der gestrige Abend bei Melanie so anregend gewesen, dass sie heute noch einen draufsetzen mussten.

Berger schlurfte zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier und öffnete die Terrassentür. Ein Schwall heißer Luft schlug ihm entgegen. Er fuhr die Markise heraus und ließ sich in einen Stuhl in der Sitzgruppe fallen, die auf den anthrazitfarbenen Platten der Terrasse vor dem Wohnzimmerfenster stand und nahm einen ausgiebigen Schluck aus der Flasche.

Das Brandmädchen war ganz sicher nicht die brave Abiturientin gewesen, als die sie ihre Mutter hatte hinstellen wollen. Auf die Frage nach den Bekanntschaften ihrer Tochter hatte sie mehr als unsicher reagiert. Wahrscheinlich, weil sie das ungezügelte Sexualleben ihrer neunzehnjährigen Tochter nicht preisgeben wollte. Die Lösung des Falles musste in ihrem Lebenswandel zu finden sein, soviel war Berger bis jetzt klar. Er setzte die Flasche nochmals an, leerte sie in einem Zug und rülpste verhalten.

»Ah, Ron! Man hört, dass du da bist!«

Erschrocken riss Berger den Kopf zur Seite und blickte auf das Nachbargrundstück, auf dem sich soeben Ulrich Kreuzberg am Gartenzaun postiert hatte. Berger hob den Arm zum Gruß.

»Feierabend? Na, muss ja auch mal sein, hm? Auch für die Polizei!« Kreuzberg setzte ein fast aufrichtiges Lachen hinzu, wischte geschäftig wirkend die Hände an seinen Shorts ab und nickte sich selbst zustimmend mehrmals mit dem Kopf.

Ulrich Kreuzberg war pensionierter Gymnasiallehrer und nur ein Jahr älter als Berger. Klein, dürr, Halbglatze, Deutsch und Erdkunde. Seit seiner Pensionierung hatte Kreuzberg ein außerordentliches Interesse an allem und jedem aus dem Viertel entwickelt. Vielleicht war er aber auch schon früher einfach nur neugierig gewesen. Jedenfalls konnte man von ihm alles Wesentliche erfahren, um auf dem neuesten Stand gehalten zu werden. Was Berger aber nicht nutzte, weil ihm diese Art der Nachbarschaftsspionage missfiel.

»Ist Monika in Urlaub gefahren? Zu Lana, nach Frankfurt?«

Mit einem fragenden Blick und frechem Grinsen im Gesicht forderte er Antworten auf seine neugierigen Fragen.

Monika in Urlaub? Da stimmte doch etwas ganz und gar nicht. Aber egal wie, Kreuzberg ging es nichts an.

»Ja, ja. Genau … nur kurz«, antwortete Berger daher und hoffte, das Gespräch wäre damit beendet, da sich seine Gedanken Monikas wegen fast überschlugen.

»Na, da wird sich eure Tochter aber freuen, was? Eine Reisetasche voller Geschenke, hm? Hat Lana Geburtstag oder so?«

Kreuzberg ging ihm auf den Senkel. Grundsätzlich schon, aber jetzt, in dieser Situation, wo er nicht einmal selbst wusste, was eigentlich los war, ertrug er die Labertasche überhaupt nicht. Er sprang auf und hob die Hand. »Verdammt, hab was auf dem Herd vergessen«, rief er und spurtete ins Wohnzimmer.

Drinnen sortierte er sich erst einmal. Moni, mit einer vollen Reisetasche weggefahren? Das konnte nur mit gestern Abend zu tun haben. Er konnte die besorgte Beraterrunde förmlich vor sich sehen. Ja, Monika, das geht aber wirklich nicht … auch Ron muss sich an Abmachungen halten … das darfst du dir einfach nicht gefallen lassen … da musst du dich schützen, abgrenzen …

Er nahm das Telefon und drückte die gespeicherte Nummer von Melanie. Es klingelte dreimal.

»Senkenberg!«, tönte es betont weibisch aus dem Hörer.

»Ron hier! Melanie, weißt du vielleicht wo Moni ist?«

Das nervöse Räuspern am anderen Ende der Leitung signalisierte ihm, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte.

»Einen Augenblick …«

Nach einer gefühlten halben Stunde knisternder Gerätegeräusche und unterdrückter Sprachfetzen aus dem Hintergrund meldete sich Monika.

»Hallo?« Das klang sehr zurückhaltend, fast schon ein wenig distanziert.

»Moni? Du bist nicht hier, ich meine … wieso? Was … was ist denn los?«

Er ertrug kaum die Zeit, die sie sich ließ, um ihm zu antworten.

»Ach Ron.« Sie seufzte. »Ich kann einfach nicht mehr, weißt du? Ich …«

»Aber, was meinst du denn damit? Etwa wegen gestern? Ich war ein paar Minuten zu spät … noch keine Viertelstunde. Ja, mein Gott.« Berger demonstrierte sein Unverständnis, indem er die Stimme hob.

»Ja, das ist es ja. Du verstehst gar nichts … es geht doch gar nicht nur um gestern. Du … weißt du eigentlich, wann du das letzte Mal einen wichtigen Termin eingehalten hast?«

»Einen … einen wichtigen Termin?« Bergers Stimme verriet absolute Ratlosigkeit ob der Bedeutung des gestrigen Termins.

»Ron, ich habe mich entschlossen, eine Zeitlang nicht zuhause zu wohnen. Solange, bis ich mir im Klaren darüber bin, ob das mit uns überhaupt noch funktionieren kann. Melanie hat mir angeboten …«

»Das ist mir klar, dass Melanie dir erzählt, was bei uns geht und was nicht!« Berger schlug das Herz im Hals.

»Schrei mich bitte nicht an, ja! Das hat mit Melanie gar nichts zu tun. Sie war nur so freundlich und hat mir ein Zimmer angeboten … vorübergehend.«

Berger wusste, dass es keinen Zweck hatte, jetzt, hier am Telefon, eine Grundsatzdiskussion zu führen. Es hatte auch keinen Zweck, Monika zu überreden, den Unsinn zu lassen und unverzüglich nach Hause zu kommen. Er atmete tief und wartete einen Augenblick, bevor er weitersprach.

»Gut, wenn du das brauchst … ich kann dich nicht zwingen, nach Hause zu kommen. Ich denke zwar …« Er kratzte sich am Kopf, überlegte kurz und vermied es, seine Sicht der Dinge zu beschreiben. Stattdessen sagte er: »Können wir denn telefonieren? Ich meine, bleiben wir in Kontakt, solange du … überlegst?«

»Ron, ich glaube, wir sollten erst einmal keinen Kontakt haben. Wenn ich klarer sehe, melde ich mich bei dir. Bis dann!«

Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch.

Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte er diese Scheinheiligentruppe in ihrem Einfluss auf Moni unterschätzt? Der starke Impuls, jedes Mitglied dieser Runde aufzusuchen und ihm die Meinung zu geigen, stieg in ihm auf wie eine schwarze Gewitterfront über der Eifel. Jetzt erst mal ruhig bleiben, Ron, sagte er zu sich selbst. Hat ja keinen Zweck, jetzt verrückt zu spielen. Das ist auch anderen schon passiert, und dann hat sich alles wieder eingerenkt.

Er nahm sich eine zweite Flasche Bier aus dem Kühlschrank und ging zurück ins Wohnzimmer. Draußen würde womöglich Ulrich Kreuzberg auf ihn warten, um mehr Informationen zu bekommen. Den wollte er jetzt keinesfalls sehen! Also setzte er sich aufs Sofa, nachdem er den Fernseher eingeschaltet hatte.

Mensch Moni …

Völlig irreal das alles!

Brandmale

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