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Ein Land im Umbruch

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Gleich nach Eintreffen in der Türkei fiel Papen auf, dass der arbeitsfreie Tag auf den Sonntag und nicht mehr auf den Freitag fiel, wie er es aus der osmanischen Türkei kannte. Mittlerweile waren auch das Kalifat und Sultanat abgeschafft und den türkischen Frauen war das Wahlrecht zugesprochen worden. Noch in den 1920er-Jahren hatte Atatürk türkische Rechtsnormen in Anlehnung an das Schweizer Zivilrecht, das Italienische Strafrecht und das Deutsche Handelsrecht eingeführt. Der islamische Kalender war durch den gregorianischen und die arabische Schrift durch das Lateinische abgelöst worden, womit dem europäischen Ausländer das Einleben im Land wie auch das Erlernen der türkischen Sprache wesentlich erleichtert wurde. Andererseits behielt die Diplomatensprache des Sultanats, das Französische, weiterhin seine Stellung. Papen konnte seine offiziellen Gespräche und Verhandlungen also in der ihm gut vertrauten Sprache führen.

20 Jahre nach Verlassen der osmanischen Türkei fand Franz von Papen jetzt ein völlig verändertes Staats- und Sozialwesen vor. Es zeigte sich 16 Jahre nach Atatürks Republikgründung als De-facto-Diktatur: Der Präsident der Republik war das Zentrum der Macht. Der Ministerpräsident war sein exekutiver Arm. Die Gesetze wurden im geschlossenen Kreis der einzigen Partei, der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi-CHP), von deren Führung erörtert und dann der Nationalversammlung zur formalen Verabschiedung vorgelegt. Die CHP trug praktisch über zwei Jahrzehnte die alleinige, nicht durch Wahlen legitimierte Regierungsverantwortung. Ende des Jahres 1938 war İsmet İnönü auf einem außerordentlichen Parteitag der CHP zum Parteichef gewählt worden. Eine geänderte Parteisatzung bestimmte ihn „zum unabänderlichen, lebenslangen Vorsitzenden der Partei und zum Nationalen Führer.“

Die CHP verstand sich nicht als politische Partei im engeren Sinne, sondern als Dachorganisation der ganzen Bevölkerung. Dementsprechend war der Vorsitzende auch Chef und Führer der ganzen Bevölkerung. Im Gegensatz zu Hitler und Mussolini aber strebten Atatürk oder İnönü keine Massenbewegung an, um ihre Macht zu festigen. Die sogenannten Kemalisten legitimierten sich durch die konsequente Anwendung einer autoritären Modernisierungsstrategie nationalistischer Prägung, die von den Militärs und den bürokratischen Kadern getragen wurde. Ohne die Vermittlung von organisierten Gruppen wollten die charismatischen nationalen Führer Atatürk und İnönü eine direkte Beziehung zwischen sich und dem Volk herstellen. Die Medien ließen sie kontrollieren, ohne sie gleichzuschalten. Papen und seine Botschaft machten mit ihnen ihre besonderen, häufig wenig erfreulichen Erfahrungen.

Die politischen Umwälzungen Atatürks kamen nicht ohne einen ideologischen Überbau aus. Sechs Prinzipien des Kemalismus wurden aus den zahlreichen Reden Atatürks herausgearbeitet. Sie versinnbildlichten die programmatische Grundlage der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Modernisierung der Türkei. Zugleich waren sie das ideologische Konstrukt, mit dem die Maßnahmen der kemalistischen Elite zur konkreten Umsetzung dieses Programms gerechtfertigt wurden. An erster Stelle sollte der Republikanismus das Prinzip der Volkssouveränität als Grundlage aller politischen Entscheidungen ausdrücken. Damit war gleichzeitig die Absage an die in der Figur des Sultans verkörperte personale Herrschaft des Osmanischen Reiches verbunden.

Das Prinzip des Populismus sollte die Gleichheit der türkischen Staatsbürgerinnen und -bürger ausdrücken, das des Etatismus die staatliche Lenkung der Wirtschaft. Im Prinzip des Revolutionismus sollte sich ausdrücken, dass die Modernisierungspolitik von oben kontinuierlich fortzusetzen ist. Der Laizismus stand als Ausdruck der Trennung von Staat und Religion, der Nationalismus schließlich für das Zusammengehörigkeitsgefühl der neuen türkischen Bürgerinnen und Bürger. Im Jahre 1937 wurden die Prinzipien in der türkischen Verfassung verankert. Seit Einführung des Mehrparteiensystems im Jahre 1946 berufen sich fast alle Parteien bis zur Ära Erdoğan in ihren Programmen mehr oder weniger deutlich auf diese Prinzipien, und die Kemalisten weiterhin.

Atatürks Verständnis des nach französischem Vorbild entwickelten Laizismus ließ ihn die Trennung von Staat und Religion radikal umsetzen und religiöse Aktivitäten im Land einschränken. Den Islam bezichtigte er, das türkische Volk daran gehindert zu haben, in die politische Moderne der ‚zivilisierten Welt‘ aufzusteigen. Die Einheit von Religion und Staat im Osmanischen Reich machte er für die gesellschaftliche Rückständigkeit seines Landes verantwortlich. Im Rahmen der Reformen sollte nun der Einfluss des Islam auf alle gesellschaftlichen Bereiche total abgebaut werden. Abgeschafft wurden deshalb das religiöse Rechtssystem der Scharia, religiöse Schulen, Orden und Bruderschaften sowie der Religionsunterricht an Schulen. Die Pilgerfahrt nach Mekka wurde ebenso verboten wie der Gebetsruf in Arabisch. Er hatte nur noch auf Türkisch zu erfolgen.

Atatürk rief das ‚Präsidium für religiöse Angelegenheiten‘, das Diyanet İşleri Başkanlığı, ins Leben. Dem Ministerpräsidenten direkt unterstellt, war und ist es noch heute zuständig für alle Fragen des Glaubens, für die Verwaltung der Gebetsstätten und die religiöse Aufklärung des Volkes. Die Imame, die Vorbeter in den Moscheen, wurden zu Beamten des türkischen Staates, welcher auch den Inhalt der Freitagspredigten vorgab und vorgibt. Das Amt vertritt ausschließlich den sunnitischen Islam, also keine religiöse islamische Minderheiten wie die Aleviten. Keinerlei Rechtspersönlichkeit erlangten die christlichen Kirchen wie das Ökumenische Patriarchat der griechischen Orthodoxie oder die katholischen Christen. Angelo Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII., zu dem Franz von Papen in der Türkei einen engen Kontakt pflegte, vertrat den Vatikan deshalb auch nur als ‚Apostolischer Legat‘, ohne als Nuntius beim Staatspräsidenten akkreditiert zu sein.

Kemal Atatürks Republik brach durch ihre Reformen abrupt mit der 500-jährigen Tradition des religiös dominierten Staats- und Bildungswesens. Mit dem Erziehungs- und Wissenschaftsverständnis des Westens übernahm sie auch das lateinische Alphabet anstelle des arabisch-persischen. In ‚Schulen für die Nation‘ wurde den Bürgern das neue Alphabet im Eiltempo beigebracht. Landesweite ‚Volkshäuser‘ sollten die Bildungssituation in der Türkei verbessern, die Menschen im Rahmen der europäischen Kultur aufklären und den Einfluss von neo-osmanischen und neofundamentalistischen Zirkeln begrenzen. In den Schulen wurde die Koedukation eingeführt. Statt des zuvor obligatorischen Persisch und Arabisch wurden westliche Sprachen unterrichtet.

Die Bildungsreformen machten vor den Hochschulen nicht Halt. Nach Lehr- und Wissenschaftsplänen des Schweizer Pädagogen Albert Malche öffnete im Herbst 1933 die İstanbul Üniversitesi ihre Pforten. Ein Großteil der Lehrstühle war mit deutschen Dozenten besetzt. Sie waren weitgehend Opfer des sogenannten Berufsbeamtengesetzes, mit dem das NS-Regime bereits im April 1933 politisch unliebsame und jüdische Professoren entlassen hatte. Angesichts der Wertschätzung, welche die deutschsprachigen Exilprofessoren und -künstler in der Türkei genossen, sah sich Botschafter Franz von Papen wiederholt zu unfreiwilligen Entscheidungen herausgefordert.

Nach langen Jahren des Krieges war die ökonomische Ausgangslage der jungen Republik im Zustand nahezu völliger Erschöpfung. Europäische Staaten hatten die Wirtschaft des späten Osmanischen Reichs dominiert, die Kriege einen Aderlass an Arbeitskräften und Intelligenz gebracht. In der Landwirtschaft, der Haupterwerbsquelle der Türkei, lagen weite Flächen brach, Transportmittel fehlten. Auch mangelte es an Fachleuten, welche die Anbauweise absatzfähiger Produkte hätten lehren können. Von einer Industrie ließ sich kaum sprechen. Selbst Grundbedarfsgüter wurden importiert.

Mit seinem Prinzip des Etatismus zielte Atatürk mittels einer gemischten Wirtschaftsordnung von Staats- und Privatsektor auf eine schnelle Industrialisierung und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Türkei. Der Staat gab die Ziele vor und wurde selbst in strategisch wichtigen sowie kapitalintensiven Sektoren aktiv. Dies galt für die Infrastruktur, den Aufbau der Schwerindustrie und von Spezialbanken für Landwirtschaft sowie für Bergbau. Fünfjahrespläne und Preiskontrollen lenkten die Wirtschaft, welche ihre Produkte, geschützt durch ein protektionistisches Außenhandelsregime, absetzen konnte. Die Weltwirtschaftskrise 1929 traf die Türkei weniger als die entwickelten Industriestaaten. Im 2. Weltkrieg weckten türkische Rohstoffe, besonders Chromerze, und Landwirtschaftsprodukte wie Baumwolle und Getreide bei den Achsenmächten wie Alliierten große Begehrlichkeiten.

Grundlage der Außenpolitik der Türkischen Republik war das Prinzip der ‚vollständigen Ungebundenheit‘ unter dem von Atatürk verkündeten Motto ‚Friede daheim, Friede in der Welt‘. Der junge Staat nahm damit Abstand von den vielfältigen, meist kriegerischen, außenpolitischen Auseinandersetzungen, in die das Osmanische Reich besonders in den letzten beiden Jahrhunderten verwickelt war. Ein System von Verträgen mit den Nachbarstaaten sollte ein stabiles Umfeld schaffen. Mit der Sowjetunion und dem Iran wurde ein Freundschafts- bzw. Nichtangriffsvertrag geschlossen. Besonders wichtig war der Ausgleich mit Griechenland. Er ermöglichte es der Türkei, auf dem Balkan eine Friedenszone anzustreben. Den ‚Balkanpakt‘ von 1934 unterzeichneten neben der Türkei auch Griechenland, Jugoslawien und Rumänien. Bulgarien schloss 1938 einen Nichtangriffsvertrag mit den Pakt-Staaten ab. Die Türkische Republik erlangte damit eine beachtliche außenpolitische Reputation.

Auf der Konferenz von Montreux erreichte die Türkei mit der Revision des Friedensvertrages von Lausanne im Jahre 1936 schließlich die volle Souveränität über die Meerengen am Bosporus und an den Dardanellen. Sie konnte nunmehr in Kriegszeiten die Durchfahrt fremder Kriegsschiffe kontrollieren, bei Bedrohung auch in Friedenszeiten. Die Verträge mit den Nachbarn erlaubten es der Türkei bald, ihr Prinzip der ‚vollständigen Ungebundenheit‘ und im 2. Weltkrieg das einer ‚aktiven Neutralitätspolitik‘ gegen Ansinnen der Achsenmächte und Alliierten erfolgreich zu behaupten. Mit ebenso großem Geschick wusste sie auch, die Hoheit über die Meerengen gegen Begehrlichkeiten der Kriegsgegner zu verteidigen. Franz von Papen hatte sich in den fünfeinhalb Jahren seiner Botschaftertätigkeit in Ankara auf die nicht leicht durchschaubare türkische Diplomatie einzustellen. Intensiv bemühte er sich, sie den Reichszielen zugänglich zu machen.

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