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Aktive Neutralität und Weltmachtwahn Wirtschaftlicher Aufbau und Großraumwirtschaft

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Seit dem Jahre 1934 regelte ein Handels- und Clearingabkommen die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Türkei. Deutschland bezog in erster Linie Rohstoffe, Getreide und Nahrungsmittel, womit die Türkei aus Sicht der Nationalsozialisten zu einem agrar- und rohstoffwirtschaftlichen Ergänzungsraum des Reichs wurde. Im Gegenzug zahlten die Deutschen mit Investitionsgütern aller Art. Vertieft wurden die Beziehungen, als Deutschland 1935 begann, auch Waffen an die Türkei zu liefern, welche die Türkei wiederum mit wichtigen Chromlieferungen für die deutsche Maschinen- und Rüstungsindustrie ausglich.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Türkei vom Deutschen Reich wuchs im Weiteren rasant: Im Jahre 1933 war das Deutsche Reich für die Türkei mit 19 % an den Exporten und 25 % an den Importen ein wichtiger Handelspartner. Fünf Jahre später rückte Deutschland im türkischen Import und Export mit einem Anteil von 45 % bzw. 40 % an die erste Stelle. Im Jahre 1938 Jahr bezog die Türkei 70 % ihres Eisen- und Stahlbedarfs, 60 % der Maschinen und über 55 % der Chemikalien aus Deutschland.

Im Verlauf von lediglich einem halben Jahrzehnt gewann damit das Deutsche Reich im türkischen Außenhandel eine dominierende Stellung. Parallel stieg das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern um das Vierfache. Zwar konnte die Türkei ihre Stellung unter den Handelspartnern Deutschlands in dieser Zeit deutlich verbessern, doch ging ihr Anteil an den deutschen Ein- und Ausfuhren nie über 3 % hinaus. Lediglich die rüstungswirtschaftlich bedeutsamen Chromlieferungen boten der Türkei zu Beginn des 2. Weltkriegs einen politisch nutzbaren Hebel. Im Verlauf des Krieges konnte die Türkei diesen umso besser nutzen, als für Deutschland mit Kriegsbeginn der Hauptlieferant, das Commonwealthland Südafrika, ausfiel. Die Berliner Strategen der ‚Großraumwirtschaft‘ mussten im Falle von türkischen Liefereinschränkungen und -stopps ihr Konzept einer ‚erweiterten Autarkie‘ beeinträchtigt sehen. Ihr Bestreben war es nämlich, jederzeit gesichert und in ausreichendem Umfang Nahrungsmittel und Rohstoffe aus dem ‚Versorgungsraum‘ Südosteuropa beziehen zu können.

Berlins Vertreter in Ankara ab 1939, Franz von Papen, erkannte im ‚Großwirtschaftsraum‘ ein außenpolitisch und militärstrategisch ergiebiges Konzept für das Deutsche Reich. Bereits in den Jahren seines Kriegsdienstes im Osmanischen Reich hatte er sich für ein von Deutschland dominiertes Südosteuropa ausgesprochen. Mangels ergiebiger überseeischer Kolonien könne das Reich nur auf diese Weise dem englischen und französischen Großmachtstatus begegnen. Dementsprechend reagierte der Hauptmann Franz von Papen im Jahre 1917 auf die Überlegungen des politischen Publizisten und Gründers der ‚Deutsch-Türkischen Vereinigung‘, Ernst Jäckh, zu einem Europa mit Selbstständigkeit der jungen Staaten auf dem Balkan.

Papen schrieb Jäckh von der Palästinafront zu dessen Europakonzept, dass dieses generell wohl akzeptabel sei, nicht aber in Gestalt einer Vereinigung von unabhängigen Staaten und Nationen: „Sie sprechen von einer türkischen Türkei, einem griechischen Griechenland und einem serbischen Serbien. Diese Nationen sollten aber im Gegenteil Vasallen Deutschlands sein. Als erfreulichste Aufgabe in meinem Leben würde ich es sehen, für dieses pangermanische Berlin-Bagdad zu wirken. Ich hoffe, eines Tages dazu in der Lage sein zu können.“31 Papens Hoffnungen wurden nicht enttäuscht.

Doch zuvor konnte bereits der Gesandte Franz von Papen in Wien für seine Lebensaufgabe wirken. Schon kurz nach Antritt seines Dienstpostens im Spätsommer 1934 teilte er dem US-Botschafter George S. Messersmith mit, dass ganz Südosteuropa bis zu der türkischen Grenze Deutschlands natürliches Hinterland sei. Er, Papen sei berufen, „die deutsche wirtschaftliche und politische Kontrolle über dieses ganze Gebiet für Deutschland zu erleichtern.“32 Der erste Schritt hierzu sei die Kontrolle über Österreich, der mit dem ‚Anschluss‘ im März 1938 bekanntlich getan wurde.

In der Berliner Gruppe des 1925 in Wien gegründeten ‚Mitteleuropäischen Wirtschaftstags‘ (MWT) hatte Papen bereits sein wirtschaftliches Expansionsprojekt eines ‚Kernraums Großdeutschland‘ und ‚Ergänzungsraums Südosten‘ vertreten. Mit seinen Agrarüberschüssen und Bodenschätzen sollte der ‚Ergänzungsraum‘ den deutschen ‚Kernraum‘ versorgen und dessen Export von Industriegütern ankurbeln. Ziel deutscher Außenpolitik sollte es sein, Südosteuropa wirtschaftlich zu durchdringen und auf agrar- und rohstoffwirtschaftlichem Gebiet vollständig vom Deutschen Reich abhängig zu machen.

Der MWT und sein Mitglied Papen fanden ab dem Jahre 1936 in Hermann Göring, dem Beauftragten für den Vierjahresplan, einen überzeugten Verfechter ihrer Pläne eines ‚Großwirtschaftsraums‘. Nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs an das ‚Altreich‘ waren ausreichende Einflusssphären in Südosteuropa zu erreichen. Dann könnte man mit einem dermaßen großen und reichen Versorgungsraum wieder in Richtung Rohstofffreiheit und ‚erweiterter Autarkie‘ denken. Ende 1936 trug Göring einer großen Zahl von Industriellen im ‚Preußenhaus‘ vor, in welcher Richtung er den 1. Vierjahresplan des NS-Regimes umzusetzen gedachte.33

Die Unternehmer wies er an, sich Rohstoffe selbst unter Verlust zu sichern. Sie sollten sich nicht nach „buchmäßiger Gewinnrechnung“ richten, sondern „nach den Bedürfnissen der Politik“. Ein Ende der Aufrüstung sei nicht abzusehen und allein entscheidend sei hier „der Sieg oder Untergang. Wenn wir siegen, wird die Wirtschaft genug entschädigt werden.“ In Görings Industriellenrede ging Hitlers Auftrag ein, den er in einer Denkschrift im August desselben Jahres erteilt hatte: „I. Die deutsche Armee muß in 4 Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muß in 4 Jahren kriegsfähig sein.“34

Ende April 1939 in Ankara angekommen, unterstrich Botschafter von Papen sehr bald in einem Grundsatzbericht an das Auswärtige Amt, dass die künftige Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zu seinem neuen Gastland nicht nur unter rein ökonomischen Aspekten zu sehen sei: „Denn unsere wirtschaftliche Machtstellung in diesem Lande bedeutet ein so wichtiges, ja vielleicht das wichtigste Atout, das wir in den Händen halten, als dass wir darauf verzichten können, es für die Verfolgung der gesamtpolitischen Zielsetzung der Achsenmächte im Nahen Orient zu verwerten.“35 Dieser Zielsetzung könne aber kein Erfolg beschieden sein, wenn nicht auch mögliche Bedrohungsängste der Türkei sowie ihre strategischen Ressourcen, namentlich das rüstungswirtschaftlich bedeutsame Chromerz, in die Überlegungen einbezogen würden.

Der deutsche Bedarf an Chromerz sollte eine wichtige Waffe der Türkei schon im Vorfeld des bald beginnenden Weltkrieges und im Rahmen ihrer ‚aktiven‘ Neutralitätspolitik werden. So bezog Deutschland in den Jahren 1936 und 1937 die Hälfte, 1938 noch ein Drittel seines Chrombedarfs aus der Türkei. Südafrika, Neuseeland und die Sowjetunion deckten im Wesentlichen den Rest des Bedarfs. Mit der Kriegserklärung Englands an das Reich am 3. September 1939 entfielen die Lieferungen aus den beiden Commonwealth-Staaten, knapp zwei Jahre später mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion auch die russischen. Die Türkei rückte damit in eine strategisch sehr bedeutsame Rolle für die deutsche Rüstungswirtschaft. Beim Lavieren zwischen Alliierten und Achsenmächten regelte die türkische Regierung dann auch ihre Chromerzlieferungen vorzugsweise in Geheimprotokollen.

Die Türkei betrachtete bereits die deutsche Besetzung der ‚Rest-Tschechei‘ im März und den italienischen Einfall in Albanien im April 1939 als bedrohliche Ausweitung des Machtbereichs der Achsenmächte in den Südosten Europas. Um möglichen weiteren Aggressionen der beiden Staaten auf dem Balkan begegnen zu können, suchte sie Partner. Sie nahm sowohl mit der Sowjetunion wie auch mit England und Frankreich Gespräche auf. Als sie daraufhin Mitte Mai 1939 mit England eine Beistandserklärung und einen Monat später eine solche mit Frankreich veröffentlichte, reagierte Berlin prompt mit einer Liefersperre von bereits in Deutschland bestellten Rüstungslieferungen.

Im Gegenzug verzögerte die Türkei Chromexporte ins Reich und kündigte Verträge von deutschen Experten, die in staatlichen und halbstaatlichen türkischen Unternehmen tätig waren. Berlin wiederum legte Verhandlungen auf Eis, welche der Verlängerung eines Verrechnungsabkommens und des Abkommens über Waren- und Zahlungsverkehr mit der Türkei dienen sollten.

Mit Beginn des 2. Weltkriegs verschärften sich die Auseinandersetzungen auf dem Wirtschaftsgebiet noch weiter. Die Türkei hatte am 3. September 1939 ihre Neutralität erklärt, sechs Wochen darauf aber mit England und Frankreich einen Dreierpakt abgeschlossen. Dieser verpflichtete sie zwar nicht zum Beistand gegen das Reich, zumal Italien dem Deutschen Reich noch nicht in den Krieg gefolgt war. Auf Druck der Partner stellte Ankara aber sofort die Chromlieferungen nach Deutschland ein. Auch veranlasste es die letzten deutschen Militärberater, das Land zu verlassen. Wenig später, im Januar 1940, schlossen die neuen Partner ein geheimes Handelsabkommen über Chromlieferungen gegen Finanzhilfe ab. Die Türkei verpflichtete sich darin, ihre gesamte Chromförderung für zwei Jahre an England und Frankreich abzutreten, mit der Option für ein weiteres Jahr. Diese wiederum stellten der Türkei umfangreiche Kredite und Waffenlieferungen in Aussicht. Erst mehr als sechs Monate nach Abschluss des Dreierpakts erfuhr der deutsche Botschafter von dem Geheimabkommen durch Numan Menemencioğlu, dem Generalsekretär im türkischen Außenamt – kein Beweis für Papens später behauptete schnelle Kenntnis der türkischen Gesamtlage.

Numan Menemencioğlu war den Deutschen eigentlich durchaus gewogen. Er kam aus der Diplomatie und sprach aufgrund seiner langen Dienstzeit in Wien und Bern neben Arabisch, Persisch und Französisch ein perfektes Deutsch. In den 1920er-Jahren hielt er sich häufiger in Berlin auf. Dort behandelte ihn der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch wegen eines hartnäckigen Rückenleidens. Sauerbruchs Schüler Rudolf Nissen übernahm ab 1933 diese Aufgabe, als er nach Istanbul ins Exil ging und dort bis 1939 die Chirurgie an der İstanbul Üniversitesi leitete. Im Sommer 1933 war Menemencioğlu zum Generalsekretär im Außenministerium ernannt und im Sommer 1942 zu dessen Leiter befördert worden. Papen bezeichnete ihn als leitenden Kopf der türkischen Außenpolitik. An Menemencioğlus erzwungenem Rücktritt im Frühsommer 1944 war er – wenn auch unfreiwillig – nicht unbeteiligt.

Nach dem Ausfall der Chromlieferungen ans Deutsche Reich Anfang 1940 bemühte sich Papen, seine türkischen Verhandlungspartner davon zu überzeugen, dass ihre Chromerze für die deutsche Kriegswirtschaft eigentlich weiter keine größere Bedeutung hätten. Immerhin habe sich die Sowjetunion in einem Handelsabkommen im Februar 1940 zu Lieferungen in einem Umfang verpflichtet, welcher das türkische Defizit auszugleichen in der Lage wäre. Seinen türkischen Gesprächspartnern teilte Papen indessen nicht mit, dass die sowjetischen Lieferungen nur einen Bruchteil der immer größer werdenden Mengen ausmachten, welche die deutsche Rüstungsindustrie dringlich benötigte. Papens Versuche, türkische Chromlieferungen gegen Lieferungen von Handelsschiffen oder Waffen zu erreichen, welche die Türken vor dem Krieg in Deutschland bestellt hatten, scheiterten schließlich auch an den langfristigen Abmachungen der Türkei mit den Alliierten.

Es dauerte mehr als ein weiteres Jahr zäher Verhandlungen, bevor Deutschland im Handelsvertrag vom Oktober 1941 wieder türkische Chromlieferungen in Aussicht gestellt wurden. Die Türkei beharrte auf ihren Lieferzusagen an die Alliierten, was Berlin zunehmend empörte und die Verhandlungen verzögern ließ. Papen drängte dagegen auf ein Wirtschaftsabkommen auch ohne Zusage von Chromerzen mit der Begründung, es böte eine einzigartige Gelegenheit, eine starke Spannung in das englisch-türkische Verhältnis zu bringen. Die türkischen Verhandler saßen aber am längeren Hebel, zumal die USA und England in ‚Paketdeals‘ türkisches Chromerz zusammen mit schwer absetzbaren türkischen Landwirtschaftsprodukten aufkauften. Schließlich einigte man sich, die Chromlieferungen nach Deutschland erst 1943 und dazu in begrenztem Umfang wieder aufzunehmen.

Papen bilanzierte später die zähen Verhandlungen mit den Worten: „Da es für uns keine andere zugängliche Chromquelle gab, war es von höchster Wichtigkeit, ab 1942 wieder von der Türkei beliefert zu werden. Dieses Problem gegen den britischen Widerstand zu lösen, hat mich unendlich viel Mühe gekostet.“36 Weniger Mühe machte sich der Memoirenschreiber mit der korrekten Angabe des Jahres und der verfügbaren Chromlieferanten. Es traf nicht zu, dass die Türkei für das Reich die einzige zugängliche Lieferquelle war. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war diese Quelle zwar versiegt. Ersatz bot sich dem Reich im selben Jahre aber durch die Chromerzlieferungen des Achsenpartners Bulgarien aus eigenen Vorkommen und denen des besetzten Mazedonien sowie aus dem von deutschen Truppen besetzten Jugoslawien und Griechenland.

Mit den Eroberungen auf dem Balkan und dem Einbau der in das Reich eingegliederten und besetzten Gebiete in die großdeutsche Wirtschaft sahen sich die Berliner Strategen ihrem Ziel eines Neuaufbaus der von Deutschland geführten kontinentalen Wirtschaft nahe. Nur die Türkei mit ihren strategisch bedeutsamen Chromvorkommen zögerte, ihre Rolle im ‚Ergänzungsraum Südosteuropa‘ zu übernehmen. Indessen erhöhte der Russlandfeldzug den Chrombedarf des Reichs dramatisch. Um Flugzeuge, Panzer, U-Boote, Kraftfahrzeuge und Geschütze herstellen zu können, mussten die Erze gesichert und ausreichend gefördert sowie reibungslos transportiert werden können.

Während die Chromreserven im Reich zunehmend knapper wurden, verfügte die Türkei über noch umfangreichere Chromvorkommen als die Balkanländer. Das ‚Dritte Reich‘ hatte schon bald nach der Machtübernahme und den beginnenden Aufrüstungsplänen begonnen, Abbauanlagen für Chromerze sowie Lokomotiven und rollendes Material für deren Transport nach Deutschland in die Türkei zu exportieren. Mit Kriegsbeginn und der von der Türkei verkündeten ‚aktiven Neutralität‘ brach der Austausch dann abrupt ein. Spätestens mit Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion musste es deshalb Ziel der Reichsregierung und deren Vertreter in Ankara werden, die Türkei nicht nur als Chromlieferant unter Kontrolle zu bekommen. Trotz zeitweiliger türkischer Befürchtungen stand eine Besetzung der Türkei in Berlin allerdings nicht zur Diskussion. Die Türkei aber für die Achse zu gewinnen, war angesichts der Lage der Türkei an der Südflanke der Sowjetunion nicht nur rüstungswirtschaftlich, sondern auch strategisch von größtem Interesse für das Reich.

Franz von Papen

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