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MITTWOCH, 22. MÄRZ 2000

Erst mal wieder liegen, sachte. Mit einem Kissen im Rücken. – Beermann war ziemlich verbiestert aufgewacht, weil er sich im Traum mit der lateinischen Abiturklausur abgequält hatte, einer immer wieder nächtlich sich einstellenden Tortur, bei der ihm alle Vokabeln aus dem Gedächtnis schwanden und die Grammatik der Sätze ein Rätsel blieb. Er setzte sich kopfschüttelnd auf die Bettkante und angelte mit den Zehen nach seinen Hausschlappen, stieg hinein, setzte in der Küche Wasser auf für den Morgenkaffee und trottete ins Bad. Dort bediente er den Lichtschalter, obwohl ihm bekannt sein musste, dass die Birne seit Tagen defekt war. Eine neue zu kaufen, hatte er vergessen, und im Haushaltsdepot für Glühbirnen, das Bettina verwaltete, war auch nichts vorhanden gewesen. Da musste eben die Lampe im Flur reichen bei geöffneter Tür zum Badezimmer.

Beermann kletterte in die Duschwanne, übersah bei der spärlichen Beleuchtung, dass der Wannenboden seifig war von der letzten Nutzung, drehte den Wasserhahn auf und glitt bei der ersten Bewegung aus, sodass er haltlos auf dem Gesäß landete. Der Schmerz schoss vom Steiß über den Rücken bis unter die Schädeldecke und sprühte ihm glitzernde Funken vor die Augen.

Irgendwann war er so weit, sich aufzurappeln und die rauschende Dusche, die sich bloß noch kalt über ihn ergoss, abzustellen. Nackt und nass schlurfte er über die Fliesen. Ein Handtuch war im Augenblick nicht greifbar, aber auch nicht vonnöten. Beide Hände in die Hüften gestemmt, arbeitete er sich vor in die Küche. Der Wasserkessel hatte gekocht bis zum Überlaufen und war inzwischen zum Stillstand gekommen. Vielleicht war er hin. Beermann registrierte es mit Gleichmut, er hatte nur sein Bett im Kopf und erreichte es unter Stöhnen, setzte sich, überlegte, wie die Prozedur des Hinlegens am glimpflichsten zu bewältigen sei, ließ sich auf den Rücken sinken, vollzog eine Vierteldrehung, indem er die Beine anhob und die Bettdecke über seinen tropfnassen Leib zog.

Erst mal wieder liegen!

Ihm kam in den Sinn, dass statistisch besehen die meisten Unfälle im Haushalt passierten – oder im Garten. Die Leute fielen serienweise von Leitern, stürzten sich in Garten­scheren, verbrühten sich an heißen Dämpfen oder Laugen. Ihm selber war kürzlich noch das Gemüsemesser mit seiner tödlichen Klinge aus der Hand gerutscht und Zentimeter neben seinem Fuß in den Boden gefahren. Was hatte das alte Patriarchat bloß angestellt, als es die Frauen in die Risikozonen des Haushalts verbannte? Die Hausfrauen mussten sich allen Gefahren aussetzen und die Männer entzogen sich, weil sie außerhalb angeblich dringend gebraucht wurden.

Jetzt hatte er den gesamten Haushalt für sich – Keller und Garten inklusive. Aber die Menschenleere gefiel ihm nicht. Bettina war ausgezogen, mit einem Rollkoffer als Reisegepäck, den Rest hatte sie zurückgelassen. Ich brauche Abstand, hatte sie erklärt. Über Scheidung war nicht geredet worden, noch nicht, aber eine Trennung stand bevor. Und dann war sie gegangen. Punktgenau am Morgen des Neujahrstages. Bettina liebte Gelegenheiten und Szenen mit Bedeutungsaura. Zu Neujahr ein Neubeginn! Beermann hatte geknurrt, das habe sie feinsinnig eingefädelt, ihren Abflug exakt von der Startlinie zum Heiligen Jahr zu nehmen, das der Papst feierlich eingeläutet hatte. Grüß Gott, Heiliges Jahr, und ade, Heilige Ehe! – Was an der Ehe heilig sein sollte, sei ihr überhaupt nie in den Kopf gegangen, hatte sie erwidert. Heilige Ehe, nun ja, das könnte in ihrem Fall sogar noch verständlich sein, weil sie doch mehr mit einem geistlichen Amt als mit einem Mann verheiratet sei. Da hätten die Katholiken mit ihrem priesterlichen Zwangszölibat am Ende die ehrlichere Lösung gefunden.

Beermann empfand einmal mehr, dass er Bettina vermisste. Nicht allein wegen der Haushaltsführung, die im Argen lag seit Neujahr. Auch wegen ihrer Stimme, der spitzen Bemerkungen, des unvergleichlich duftenden Haars. Er war nicht zum Einsiedler geboren und zum ausrangierten Ehemann schon gar nicht. Er tat sich leid.

Das Telefon auf dem Nachttisch läutete, und er zögerte zu reagieren. Aber es war das Haustelefon, das nur vom Pfarrbüro aus bedient werden konnte. Da musste er reagieren. Als er sich ächzend auf die Seite gewälzt und den Hörer in die Hand genommen hatte, sprudelte die Sekretärin gleich los.

„Du bist also doch zu Hause und nicht unterwegs. Weißt du, wie spät es ist? In einer Viertelstunde beginnt dein Unterricht in der Schule, kriegst du das geschafft?“

„Ich liege im Bett“, brummte Beermann.

„Im Bett?“, wunderte sich die Sekretärin. „Es ist halb zehn, Helmut, hast du verpennt?“

„Nein, bin verunglückt.“

„Verunglückt? In deiner Wohnung?“

„Die meisten Unfälle geschehen in der Wohnung“, belehrte Beermann, „aber es geht bald wieder. Komme gleich runter. Nur die Schule, die sag besser ab für heute.“

Eine knappe Stunde später erschien er im Pfarrbüro.

„Na, du siehst aber wirklich angeschlagen aus“, empfing ihn die Sekretärin, „und deinen Kamm hast du anscheinend auch ruiniert bei deinem Missgeschick, oder?“

Beermann winkte ab und ließ sich mit greisenhafter Umständlichkeit auf den Besucherstuhl nieder. Sein schwarzes, mit grauen Fäden durchwirktes Haupthaar, dessen Locken schon lange keinem Friseur mehr untergekommen waren, stand in Wirbeln nach allen Seiten ab. Über dem karierten Hemd, das seitlich aus verwaschenen Jeans heraushing, trug er die häusliche grüne Strickjacke, die nach Bettinas Anweisung höchstens in der Privatwohnung, keinesfalls aber in den Amtszimmern zu verwenden war. Beermann schaute trüb und wartete auf Mitleid.

Die Sekretärin Sibylle Brotbeck zeigte sich nicht näher interessiert an den Umständen seines Sturzes, sondern traktierte ihn sofort mit den Fälligkeiten des Tages. Die Schule war erledigt, aber nicht das Krisengespräch mit der Kinder­gartenleitung und der Termin im Baudezernat sowie dringende Briefe. „Außerdem will dich Frau Krohn sprechen!“

Frau Krohn war der menschliche Treibriemen, den es in jedem Verein und in jeder Gemeinde gibt. Immer in Bewegung, immer auf hohen Touren, angestrengt tätig für die Abläufe im Betrieb und anstrengend für alle in ihrer Umgebung. Sie hatte gerade den Päckchenversand für eine afrikanische Missionsstation über die Bühne gebracht und organisierte jetzt den bevorstehenden Flohmarkt. Dazu hortete sie Überflüssiges aus vielerlei Quellen in einem Gruppenraum des Gemeindezentrums und taxierte täglich die möglichen Erlöse. „Sie hat einen besonderen Fund gemacht, den sie dir zeigen will“, lächelte Sibylle Brotbeck. Und bevor Beermann Einspruch erheben und die Sache abwenden konnte, war die Telefonverbindung zum Gemeindehaus hergestellt. „Frau Krohn ist schon unterwegs“, war die Auskunft.

Minuten später stand sie in der Tür, atemlos und rot gefleckt im Gesicht vor Aufregung: „Denket Se, Herr Pfarrer, i henn do ebbes gfonde uff’m Bode, des wär was für de Flohmarkt!“

Beermann hörte mit halber Aufmerksamkeit hin. Er war mit sich und seinen Rückenschmerzen beschäftigt. Vielleicht sollte er im Bad nachschauen, ob er eine Salbe fand zum Einreiben. Aber wie dann? Bettina war nicht zur Hand, um ihn hinterrücks zu salben, und Sibylle Brotbeck konnte er nicht gut bitten. Wahrscheinlich würde sie sich nicht mal verweigern. Und nachher die pikante Szene der halben Gemeinde erzählen.

Zwischen seinen Abschweifungen nahm er zur Kenntnis, dass Frau Krohn sich auf den großen Kirchenspeicher begeben hatte, um nach geeigneten Stücken für den Flohmarkt Ausschau zu halten. Da läge ja eine Menge Zeug herum, das meiste unbrauchbarer ‚Kruscht‘. Aber manches sei eben doch interessant. Eine alte Vase zum Beispiel mit buntem Blumenmuster. Oder eine antiquarische Schreibmaschine. Den Volltreffer aber habe sie zum Schluss gelandet, etwas ganz Besonderes, versteckt hinter Kisten und einer alten Schrankrückwand.

Beermann fürchtete sofort Verwicklungen. Er selbst hatte nie die Lust verspürt, über den staubigen Kirchenspeicher zu kriechen und Gerümpel zu sortieren, das sich dort seit Generationen angesammelt hatte. Aber er wusste von Kollegen, die es anders hielten. Einige gruben sich mit archäologischem Ehrgeiz durch den Kirchenmüll in düsteren Kellern und auf verwinkelten Bühnen und förderten gelegentlich sogar Bemerkenswertes zutage: das Bruchstück einer barocken Kanzel, einen wertvollen frühen Bibeldruck, eine geschnitzte Truhe aus der spätmittelalterlichen Sakristei oder ein vergessenes silbernes Abendmahlsgerät. Doch dann fingen die Verwicklungen an. Der Fund war zu prüfen, sein Wert zu taxieren, seine Herkunft zu ermitteln, Berichte zu verfassen, Zuständigkeiten zu klären: eine Horrorvorstellung.

„Kommet Se, Herr Pfarrer“, rief Frau Krohn, „i zeig Ihne den Fund, drübe im Gemeindehaus.“

„Geht jetzt nicht“, erklärte Beermann, „ich sitze hier, weil ich nicht gut stehen und noch weniger gut laufen kann im Moment. Hexenschuss. Bedaure.“

„Net schlimm!“, winkte Frau Krohn ab, ohne eine Spur ihrer Begeisterung einzubüßen. „I brings her, bin glei wieder do!“

Sie brachte ein Bild, lehnte es an den Aktenschrank und präsentierte es mit Stolz:

„Sehet Se, e wunderbars Bild – oder net? I henns in em Sack gfonde, ganz verstaubt, no henn ichs scho e bissle sauber gmacht.“

„Hoffentlich nicht mit Bürste und Seifenschaum“, meinte Beermann.

Die Entdeckerin blieb unbeirrt: „Also alt isch des Bild gwiss, Herr Pfarrer, vom Dürer oder vom Rembrandt oder so. Der Rahme isch au no guot, bissle wegbroche an oiner Stell, aber des macht nix!“

Beermann hörte kaum hin. Beim ersten Blick auf das Bild hatte ihn schon die Ahnung befallen, es dürfte mit diesem Objekt einige Umstände geben. Nicht, weil er von seiner künstlerischen Qualität überzeugt oder von der Darstellung begeistert gewesen wäre. Es war etwas Ungreifbares, das von dem Bild ausging, wie eine geheimnisvolle Energie, der er sich ausgesetzt fühlte.

Er sah zwei Baumstämme im Zentrum des Bildes, die aus einer gemeinsamen Wurzel herauswuchsen. Aber es war keine natürliche Malerei wie etwa bei einem Stillleben, eher im Stil eines Sinn-Bildes, bei dem verschiedenartige Elemente zu einem Gesamtsinn komponiert werden. Im Spalt, wo die Stämme sich trennten und im spitzen Winkel zueinander in die Höhe ragten, saß eine menschliche Gestalt und stemmte ihren Rücken gegen den einen und die Hände gegen den anderen Stamm, als wollte sie beide auseinanderdrängen.

Geäst und Kronen der Bäume wirkten bei flüchtigem Hinsehen sehr ähnlich, bei genauerer Betrachtung zeigten sich jedoch Unterschiede. Der Baum auf der rechten Bildseite war üppig mit Blättern und Früchten besetzt, und auf den Zweigen saßen farbenfrohe Vögel. Der linke war insgesamt in den Farben matter, und Vögel schauten nur vereinzelt aus dem Gezweig.

Obwohl die beiden Baumstämme den Mittelteil des Bildes ausfüllten, bestimmten sie doch nicht das Ganze. Auf der rechten und linken Seite bewegten sich Menschengruppen wie zur Prozession, links in mondsichelförmigem Bogen von unten nach oben und vom Helleren ins Dunklere, rechts umgekehrt und in entsprechendem Bogen von oben nach unten. Die Gruppe auf der rechten Bildseite zielte auf eine Szene im unteren Eck. Das Bild hatte an dieser Stelle durch Flecken am meisten gelitten, aber es war deutlich, dass es sich um eine Mahlszene handeln musste, mit reich gedecktem Tisch und Figuren dahinter, die in rote und goldfarbene Gewänder gekleidet waren. Alle trugen Tierköpfe. Leicht zu erkennen waren ein Löwe, ein Adler, ein Hirsch, die anderen ließen sich nicht ohne weiteres bestimmen.

Schließlich steuerte der Menschenzug auf der linken Bildseite nach oben, einem runden dunkelbraunen Loch entgegen. Doch dieses dunkle Rund besaß Struktur, einem geometrischen Ornament ähnlich, und erwies sich als Schuppenleib eines großen Fisches. Der krümmte seinen Körper in der Kreisform, so dass sein Schwanzende von seinem Maul ergriffen wurde, wie beim Uroboros, der mythologischen Schlange, einem Symbol des unendlichen Kreislaufs und des ewigen Lebens, dachte Beermann.

„Was denket Se denn nu, Herr Pfarrer?“, fragte Frau Krohn, deren Geduld durch Beermanns Betrachtung arg strapaziert worden war, „was meinet Se, ob des Bild koschtbar isch?“

„Ich weiß es nicht“, gab Beermann zur Antwort, und er hatte tatsächlich nicht die geringste Ahnung. „Das Bild wird erst mal in der Sakristei deponiert und dann festgestellt, ob es auf den Flohmarkt kommen soll oder nicht“, beschied er. Die stolze Finderin nahm es mit sichtbarer Enttäuschung hin.

* * *

Abends kam Antusch zum Schach.

Er war kein Großmeister, aber auch keiner von der nerv­tötenden Sorte, die stundenlang über dem Brett grübeln, um am Ende einen kleinen Bauern vorwärts zu rücken.

Beermann schätzte das Schachspiel, weil es Geselligkeit ohne Gerede erlaubte. Man durfte sich anschweigen und miteinander ganz bei der Sache sein. Antusch war Kirchengemeinderat und beinahe ein Freund. Er hatte einen kaufmännischen Beruf mit weit verstreuten Geschäftsbeziehungen in aller Welt. Handel mit elektronischen Geräten und anderem. Genaueres wusste Beermann nicht und wollte es nicht wissen.

Er hatte eine Flasche Roten entkorkt, Trollinger mit Lemberger, war im Wohnzimmerschrank auf eine in Plastik eingeschweißte Keksschachtel gestoßen, hatte sie aufgerissen, den Inhalt noch einigermaßen genießbar befunden und neben die Weingläser auf den Couchtisch gestellt. Er selber war genügsam, und Antusch sollte es auch sein.

Als der Schachpartner pünktlich eingetroffen war und Platz genommen hatte, stopfte Beermann sich ein Kissen samt Wärmflasche in den Rücken.

„Ischias?“, fragte Antusch teilnahmsvoll.

„Nein, Duschwanne“, seufzte Beermann.

Man brachte die Figuren in Stellung, wählte die Seiten, kam in raschen Zügen voran. Bauern fielen, Offiziere wurden geschlagen, und Beermann hatte den Eindruck, dass beide erst richtig nachzudenken anfingen, als sich die Reihen auf dem Schlachtfeld gelichtet hatten und die Lage überschaubar geworden war.

Die erste Runde ging an Beermann. Er hatte den gegnerischen König auf blank geputztem Gelände mit König und Dame in die unentrinnbare Ecke gedrängt. Die zweite Runde gewann Antusch, auch mit letztem Aufgebot gegen einen entblößten Gegner. Beermann erhob sich theatralisch und stakste unbeholfen mit seiner Wärmflasche in die Küche, um sie mit heißem Wasser neu zu füllen.

„Vielleicht solltest du morgen zum Arzt gehen“, meinte Antusch, als der Pfarrer zurückkam und sich zeitlupenhaft in den Sessel sinken ließ.

„Ja, vielleicht.“

„Schon blöd, dass Bettina nicht da ist“, schob Antusch lauernd nach.

„Kann man sagen.“

„So ist das eben mit den Angehörigen. Sind sie bei dir, wünschst du sie irgendwohin. Sind sie irgendwo, vermisst du sie.“

„Gut gebrüllt, Löwe“, grinste Beermann und schenkte beiden nach. „Aber du bist doch fein heraus. Hast Geld wie Heu, tourst in der Gegend herum und verdienst noch mehr Geld dabei und daheim hast du eine entzückende Frau und einen Sohn, auf den du stolz sein kannst.“

„Na, stolz sein…“, wehrte Antusch ab.

„Wieso – etwa nicht?“, bohrte Beermann nach.

„Von der Schule bringt er ordentliche Noten heim“, sagte Antusch nachdenklich, „aber sonst tut er nicht gut.“

„Was denn?“

„Naja, er ist viel weg, auch abends bis spät, und wir wissen nicht, wo er sich rumtreibt.“

„Soll vorkommen bei Sechzehnjährigen“, lachte Beermann.

„Ich fürchte, er hat nicht die richtigen Freunde. Und verkehrt in abseitigen Kreisen.“

„Dein Thomas?“

„Neulich saßen wir zum Länderspiel vorm Fernseher. Und als man die Nationalhymne spielte, sang er mit. – Aber nicht die dritte Strophe, sondern die erste.“

„Und?“

„Hab ihm eine gescheuert.“

„Und dann?“

„Ist er aufgesprungen, hat mich giftig angesehen und gebrüllt, er jedenfalls schäme sich nicht, ein Deutscher zu sein. Und raus war er.“

„Olala!“

„Meike lässt trotzdem nichts auf ihn kommen. Nimmt ihn in Schutz und entschuldigt alles. Das hänge mit seinem Alter zusammen, sagt sie. Pubertät und Rebellion gegen den Vater und Ödipuskomplex. Aber weshalb man sich wegen Ödipus innerlich die braune Kluft anziehen soll, begreif ich nicht.“

„Ein Sohn, der’s probiert, seinen Vater mit rechten Parolen zu provozieren, muss ja nicht gleich ein Jungnazi sein.“

„Muss nicht, klar, aber die Anzeichen häufen sich. Ich denke ja nicht, dass er schon bekennendes Mitglied in einer Clique von Neonazis ist, aber die Sympathien hat er. Und Kontakte in der Szene auch – da bin ich sicher.“

„Kannst du nicht drüber reden mit ihm?“

„Ja, wie denn? Er wittert doch sofort, wenn ich Anstalten mache in der Richtung. Dann macht er komplett zu oder nimmt Reißaus. Und Meike wickelt ihn in Watte und argumentiert, man müsse ihm Zeit lassen. Dürfe bloß nicht zu erkennen geben, dass man sich aufrege. Das wäre wie Öl ins Feuer gießen. Wenn man ihn lasse und sich anscheinend überhaupt nicht interessiere für seine Extravaganzen, werde er sich am ehesten beruhigen und in die richtige Spur zurückfinden.“

„Gar nicht so verkehrt“, sagte Beermann.

„Ich weiß nicht“, fuhr Antusch fort und knetete seine Finger, „mir ist nicht wohl bei der Sache. Was mit den Rechten in den neuen Bundesländern los ist, hat man ja mit Staunen zur Kenntnis nehmen dürfen in den Jahren nach der Wende. Und keiner sollte so naiv sein zu glauben, das wären bloß die Eiterpusteln am östlichen Volkskörper. Als hätte der Westen einen Immunstoff dagegen. Junge Leute, die meinetwegen auch gegen ihren „Alten“ kämpfen, sind verführbar, das weißt du so gut wie ich.“

„Sicher! Was willst du machen?“

„Nichts. Abwarten. Aufpassen – so, wie Meike sagt. Nicht alles Vertrauen, das doch einmal da war, aufs Spiel setzen. – Aber du, finde ich, du könntest mit ihm reden.“

„Ich? Wieso?“

„Du hast ihn konfirmiert. Er ist gern in den Unterricht gegangen.“

„Weil wir die halbe Zeit gekickt haben auf dem Bolzplatz hinterm Gemeindezentrum und mehrere Wochenenden zur Freizeit waren auf der Alb.“

„Aber es hat ihm gefallen.“

„Klar hat’s gefallen. Die neckischen Spiele und die langen Nächte im Ferienheim. Wo die Jungs anfangen zu entdecken, dass es Mädchen gibt, und die Mädchen, die ihnen immer ein Stück voraus sind, kräftig dabei helfen. Ich habe mir nie eingebildet, dass sie vor lauter Spannung die Bibelarbeiten nicht abwarten könnten oder den Pfarrer verehrten, weil er der Profi für anständige Sitten ist.“

Antusch grinste, beharrte aber: „Trotzdem, du könntest es versuchen.“

Beermann wand sich. „Thomas würde den Braten sofort riechen. Dass du dahinter steckst und mich angestiftet hast. Und schon wäre ich auf verlorenem Posten, dann hättest du wieder ein paar miese Punkte gesammelt bei ihm.“

Antusch gab auf. Er ließ jedoch durchblicken, dass er die Zurückhaltung seines Schachpartners nicht für vornehm und auch nicht für klug und verantwortungsbewusst hielt. Der Abend war gelaufen, Antusch drängte nach Hause. An der Haustür sagte Beermann: „Ach, übrigens, die Krohn hat auf dem Speicher der Kirche ein altes Bild aufgestöbert und will es auf dem Flohmarkt verscherbeln. Ich hab allerdings Bedenken. Weiß weder, wo das Bild herstammt, was es bedeutet, noch was es wert ist.“

„Wir können es uns am Sonntag nach der Kirche ansehen“, schlug Antusch vor, „zusammen mit anderen Räten, die zufällig im Gottesdienst sind. Soll ja vorkommen, manchmal.“

Einer fällt den Baum

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