Читать книгу Einer fällt den Baum - Reiner Strunk - Страница 6
ОглавлениеSONNTAG, 26. MÄRZ 2000
„Der kostbarste Teil ist vermutlich der Rahmen“, lachte einer der Kirchengemeinderäte, die sich am Sonntag in der Sakristei versammelt hatten und das rätselhafte Bild begutachteten. Niedermeyer hatte sich auf einem der gepolsterten Stühle niedergelassen, die Brautleuten zur Trauung vor dem Altar Platz boten. Der Buchhändler war neugierig auf alles, was mit Kultur in Verbindung zu bringen war. Er setzte seine kleine, randlose Brille mehrmals ab und wieder auf, so dass niemandem entgehen konnte, wie sorgsam er die Qualität des Bildes prüfte. „Eine kolorierte Zeichnung“, sagte er nach vernehmlichem Räuspern. „Kein großes Kunstwerk, aber nicht schlecht gemacht. Die Konzeption ist merkwürdig.“
Aufregend schien die Ausgrabung vom Kirchenboden nicht zu sein. Niedermeyer hielt sich, unter Brilleputzen, noch ein wenig beim Baummotiv auf. Man möchte an den kosmischen Baum denken, meinte er, der die obere und untere Region des Alls, Himmel, Erde und Unterwelt miteinander verbindet. Die große Zeit und Ewigkeit, Leben und Tod zusammenspannende Weltachse, um die sich alles drehe, Weltesche Yggdrasil oder so etwas.
Antusch unterdrückte ein Gähnen, das ihn überkam, weil er die Neigung des Buchhändlers zu gelehrten Exkursen kannte und nicht besonders schätzte. Verhindern konnte er allerdings nicht, dass Niedermeyer sich auch noch über das Phänomen der Tierköpfe auf den Menschenleibern ausließ. „Wären allein Adler und Löwe und obendrein, an der schadhaften Stelle vielleicht ausgemerzt, der Stier versammelt, könnten einem die Evangelistensymbole in den Sinn kommen“, sagte er, „aber der Hirsch fällt da aus der Rolle.“
„Vielleicht hilft es, darüber nachzudenken, wie das Bild auf den Speicher der Kirche gekommen sein mag“, warf Frau Heisterbach ein. Sie war altgedient im Gremium und betrieb einen Friseursalon mit ausgezeichnetem Ruf. Beermann bewunderte ihren Sinn fürs Praktische. Diskussionen, die sich ins Wolkige verloren, brachte sie nach einer Weile zielsicher auf die Erde zurück.
Beermann räumte ein, dass er keine Ahnung habe, wie das Bild in die Kirche und auf den Speicher gelangt sein könnte.
„Am Ende ist es die Frucht einer privaten Malstudie“, sinnierte Antusch. „Kompensationskunst einer frustrierten Pfarrfrau, was weiß ich, aus dem letzten Jahrhundert.“ Beermann bedachte ihn mit einem vielsagenden Seitenblick.
„Oder“, schloss sich der Buchhändler Antuschs Mutmaßungen an, „die Angelegenheit rührt ganz woanders her, wäre doch denkbar. Etwa so: Das Bild ist auf einem Trödelmarkt in Wien aufgetaucht, kurz vor dem Einmarsch der braunen Gesellschaft aus Berlin. Es wurde dort von einem schnauzbärtigen Zigeuner angeboten, der behauptete, es für teures Geld von einem jüdischen Antiquitätenhändler aus der Altstadt Budapests erworben zu haben. Die Bildidee stamme von einem Chassiden aus einem polnischen Schtetl und sei von einem Verwandten Chagalls gezeichnet und koloriert worden. Das gab dem Zigeuner natürlich das Recht, eine beträchtliche Summe zu verlangen. Irgendein junger deutscher Offizier aus reichem Hause, der sich mit einer hübschen Bankierstochter aus der schwäbischen Hauptstadt in Wien aufhielt, kaufte das Bild, um sich damit bei seiner Brautmutter einzuschmeicheln. Auf diese Weise gelangte es in unsere Stadt. Der junge Liebhaber hatte in der Bankiersfamilie die vermutliche Herkunft des Bildes erwähnt, was bald, im Zuge der bekannten politischen Entwicklungen, für das Bild keine Empfehlung mehr war, sondern ein schwerer Makel. Die aufgeweckte Bankiersgattin beeilte sich deshalb, das Bild zu entsorgen und schenkte es ihrer Kirchengemeinde, die zusehen mochte, was sie damit anfing. Aber die war selber auf dem Weg, sich zeitgemäß einzufärben und versteckte es auf dem Kirchenboden. Dort ruhte es im Verborgenen, bis das Schicksal Frau Krohn die Eingebung gewährte, es für den Flohmarkt ausfindig zu machen.“
Antusch nickte und klopfte Beifall. Er betonte, restlos überzeugt zu sein. Alle hatten ihren Spaß und ließen es dabei bewenden.
„Es wird gut sein, einen Sachverständigen hinzuzuziehen“, sagte Beermann, „davon gibt’s sogar einen in der Landeskirche. Er weiß wahrscheinlich nicht so fantastische Geschichten zu erzählen, könnte aber Anhaltspunkte für die Herkunft des Bildes liefern.“ Man war einverstanden.
* * *
Abends saß Beermann in seinem Fernsehsessel und schluckte ein Bier, das er vergessen hatte, in den Kühlschrank zu stellen. Das Bier war lau und die Heizung kalt, aus irgendeinem Grund funktionierte sie nicht, und Mesner Wilhelm zu Hilfe rufen mochte er auch nicht am späten Sonntag.
Die Nachrichten beschäftigten sich weiter mit dem Exkanzler und seiner Weigerung, die Namen der Geldgeber in seiner unseligen Spendenaffäre herauszurücken. Jeder hat sein Geheimnis und hütet es nach Kräften, dachte Beermann.
Seine polnische Heiligkeit war dabei, die Pilgerreise zum Heiligen Jahr ins Heilige Land zum Abschluss zu bringen. Er hatte den Berg Sinai besucht und machte nun den Autoritäten in Jerusalem seine Aufwartung. Auch dem dortigen Großmufti.
Betont wurde, dass es sich um einen Höflichkeitsbesuch gehandelt habe, bei dem der Papst sich brav bedankte, vom Vorsitzenden des obersten islamischen Komitees in der Moschee empfangen worden zu sein. Und seinem Wunsch hatte der Heilige Vater Ausdruck gegeben, der Allmächtige möge der Region Frieden schenken und alle dort lebenden Völker in den Genuss ihrer Rechte kommen lassen.
Beermann schnaufte. So viel Heiligkeit auf einem Haufen! Nicht ein Wort der Scham darüber, dass ein Vorgänger im Papstamt für das Lebensrecht von Juden im Dritten Reich praktisch nichts unternommen hatte. Und erst recht kein Wort der Erinnerung daran, dass ein Großmufti von Jerusalem politische Kumpanei mit den Nazis betrieben und vor dem Führer in Berlin bittstellend und anbetend auf den Knien gelegen hatte. Der arische Antisemit und der arabische Antisemit waren ihrer tiefen interkulturellen Einigkeit bewusst gewesen, der eine träumte von einem judenfreien deutschen Reich und der andere von einem judenfreien Palästina. Es sind immer die Drecksäcke, die eine große Säuberung vollziehen möchten, dachte Beermann.
Er hatte genug und schaltete den Fernseher aus. Gegen den faden Geschmack, der sich auf seiner Zunge gebildet hatte, ging er auf die Suche nach Süßem. Irgendwo musste doch ein Rest Schokolade oder wenigstens ein Kräuterbonbon herumliegen.
Als er dabei war, die Fächer des Wohnzimmerschranks zu durchstöbern, hielt er plötzlich inne. Er horchte – tat einen vorsichtigen Schritt rückwärts und drehte sich zum Flur. Jemand machte sich an der Wohnungstür zu schaffen. Etwas klapperte, ein dumpfer Stoß folgte, dann rumorte es verdächtig im Schloss. Beermann lauschte angespannt und rührte sich nicht vom Fleck. Für einen Augenblick herrschte Stille, dann wurde der Angriff aufs Schlüsselloch wiederholt, es machte klack und die Tür sprang auf.
„Ich probier’s immer wieder mit dem falschen Schlüssel“, sagte Bettina, ließ die Tür ins Schloss fallen und trat näher. „Wie stehst du denn da?“, fragte sie verwundert. „Erwartest du eine Erscheinung?“
„Mit dir habe ich jedenfalls nicht gerechnet“, knurrte Beermann. „Wusste auch nicht, dass du den Hausschlüssel eingesteckt hattest. Also: willkommen daheim, Bettina!“
„Daheim, na“, sagte sie kurz. Ihre Blicke schweiften missbilligend über die verwandelte Wohnlandschaft. „Schon beachtlich, wie rasch du aus einem ordentlichen Zimmer einen regelrechten Müllhaufen machen kannst! In die Küche schau ich lieber gar nicht erst rein. Bin auch gleich wieder weg, mein Lieber. Wollte bloß mein Malzeug holen, wenn ich’s noch finde in deinem Chaos.“
„Du malst wieder?“
„Will’s versuchen.“
„Du hast schon lange Jahre nicht mehr gemalt.“
„Herr Pfarrer, ich habe vieles schon lange nicht mehr gemacht, was zu mir gehörte wie der Herzschlag unter der Haut. Alles dran gegeben – zum Opfer gebracht auf dem Altar deines heiligen Berufs.“
„Das ist ungerecht“, nörgelte Beermann.
„Es ist die Wahrheit“, rief Bettina, empörter und lauter als beabsichtigt. Sie wollte nicht wieder streiten. Das lag hinter ihr, hatte genug Nerven gekostet und keine Besserung gebracht. Sie wollte lediglich ihr Malzeug holen und wieder verschwinden. Höchstens ein bisschen aufräumen, das Nötigste. Die Stapel von ungespültem Geschirr wegschaffen. Und etwas Staub saugen. Und nach dem Bad sehen.
„Ich freu mich, wenn du wieder malst“, sagte Beermann, „ein paar Bilder von dir müssen noch im Schlafzimmer sein, hinter dem Schrank. – Ach, und weißt du, die Krohn hat dieser Tage ein altes, merkwürdiges Bild ausgegraben vom Kirchenboden.“
„Ein altes Bild?“
„Scheint jedenfalls.“
„Und woher ist es? Was stellt es dar?“
„Woher es kommt, wissen wir nicht. Und was es darstellt, eigentlich auch nicht. Eine allegorische Malerei.“
Bettina schien nachzudenken. „Komisch“, sagte sie nach einer Weile, „auf dem Kirchenboden bin ich öfter gewesen. Aus Neugier, was da so alles gestrandet war von überall her. Aber ein altes Bild, mein Lieber, habe ich da nie gesehen. Das muss gut versteckt gewesen sein. In einer Kiste oder Hülle… vielleicht hinter irgendwelchen Verschlägen oder Wänden.“
Beermann massierte seine Stirn. „Du meinst, es war da oben nicht einfach weggeräumt, sondern bewusst und mit Sorgfalt versteckt worden? Damit es aufbewahrt, aber nicht gefunden würde?“
„Ich denke, ja. Was einer versteckt, das soll nicht auftauchen. Aber es soll aus bestimmten Gründen auch nicht verloren gehen oder vernichtet werden.“
„Und selbst wenn es keinen nennenswerten Kunstwert haben sollte“, ergänzte Beermann, „konnte es doch einen hervorragenden Wert haben für jemanden, der das Versteck ausgesucht hat.“
* * *
In der kommenden Woche mehrten sich die Ereignisse um das aufgefundene Bild. Dienstag war die Lokalredakteurin im Pfarramt aufgekreuzt, die Beermann flüchtig von einer Pressekonferenz kannte, bei der es um Austrittswellen bei den Kirchenmitgliedern gegangen war. Er hatte sie etwas mürrisch empfangen und sich verwundert gezeigt über das Interesse der Zeitung an einem Gegenstand, der bestimmt nichts Sensationelles zu bieten habe.
Mal sehen, hatte die Dame gemeint und nicht locker gelassen.
Ob der Gemeinderat Niedermeyer, Buchhändler mit guten Kontakten zur Presse, ihr einen Tipp gegeben habe, wollte Beermann wissen.
Die Dame lächelte und bat darum, das Bild in Augenschein nehmen zu dürfen. Beermann hatte das nicht gefallen, aber er hatte auch keinen plausiblen Grund gefunden, weshalb er die Präsentation verweigern sollte. Im Gegenteil: Wenn eine Ablichtung des Fundes in der Zeitung erschien, konnte sich unter Umständen ein Unbekannter melden, der etwas auszuplaudern hatte.
Beermann holte also das Objekt der Neugier aus einem Hinterzimmer des Pfarramtes, wo er es seit vergangenem Sonntag verwahrte, stellte es auf einen Stuhl und überließ die Redakteurin ihrer Betrachtung und ihrer Arbeit mit dem Fotoapparat.
„Vielleicht ist es gar nicht zufällig auf Ihrer Kirchenbühne gelandet“, meinte sie zwischendurch.
Beermann stutzte. „Hat meine Frau auch schon überlegt… Wie kommen Sie auf den Gedanken?“
„Bloß eine dumme Assoziation“, winkte die Redakteurin ab. „Wäre immerhin vorstellbar, dass das Bild aus dem Verkehr gezogen werden sollte, weil die Darstellung als ketzerisch oder einfach als unmoralisch empfunden wurde.“
Beermann machte große Augen. Das war ihm nicht in den Sinn gekommen. Er warf erneut einen Blick auf das Bild.
„Was mich vor allem darauf gebracht hat“, fuhr die Redakteurin fort und deutete mit dem Finger auf den Löwen, „sind diese Tierköpfe beim Festmahl. Wenn man mal unterstellt, es könnte das heilige Abendmahl gemeint sein, wäre das ziemlich harter Tobak, wenn es auf diese Weise parodiert worden wäre… aber das ist es nicht in erster Linie, was mich beschäftigt.“ Sie deutete auf den Baum. „Wesentlich interessanter finde ich das Auseinandergehen der beiden Stämme und die Figur im Spalt dazwischen.“
„Wieso?“, fragte Beermann.
„Nun ja“, zwinkerte die junge Dame ihm verschwörerisch zu, „ich sage bloß: Goethe.“
„Der Johann Wolfgang von?“
„Derselbe. Faust, erster Teil, Walpurgisnacht. Dämmert da was, Herr Pfarrer?“
Bei Beermann dämmerte gar nichts, und es verstimmte ihn, an der Nase seiner lückenhaften Bildung herumgezogen zu werden.
„Die Szene auf dem Brocken?“, murmelte er aber schließlich doch.
„Genau“, bestätigte die Redakteurin, „diese Szene mit einer jener pikanten Stellen, wo in unseren Goethe-Ausgaben die Zensurpünktchen statt des vollen Wortlauts erscheinen …“
„Die sämtliche Schüler viel mehr interessierten als der ganze poetische Text drum herum“, grinste Beermann.
„Etwa auch Sie, Herr Pfarrer?“, stichelte die junge Frau.
„Ich war ja noch nicht Pfarrer damals“, beteuerte Beermann. „Aber was für eine Stelle – zum Kuckuck – meinen Sie eigentlich?“
„Na, die mit Mephisto natürlich. Man vergnügt sich droben auf dem Brocken mit beschwingten und liebeskundigen Hexen beim Tanz. Faust dreht mit einer Jungen die Kreise, Mephisto hält eine Alte im Arm und raunt ihr seine Zote ins Ohr:
‚Einst hatt’ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum,
Der hatt’ ein …;
So … es war, gefiel mir’s doch.‘“
Sie lachte. „Entschuldigen Sie, aber der gespaltene Baum auf dem Bild und die Figur dazwischen, das kann einem schon vorkommen wie eine Illustration zu den Versen des lasterhaften Mephisto.“
„Und wenn das stimmt“, räumte Beermann ein, „dann gehört so ein Bild tatsächlich nicht aufs Harmonium im Gemeindesaal.“
Am Donnerstag erschien eine Wiedergabe des Bildes im Lokalteil der Ortszeitung, mit einem knapp gehaltenen Text darunter:
MYSTERIÖSER BILDERFUND
Per Zufall wurde dieser Tage ein lange vergessenes oder vorsätzlich verstecktes Bild auf dem Speicher der Jakobuskirche entdeckt. Herkunft und Bedeutung des Bildes sind noch ungeklärt. Klar dürfte lediglich sein, dass es sich um eine symbolische Darstellung handelt, vielleicht aus der Gedankenwelt sektiererischer Kreise.