Читать книгу Einer fällt den Baum - Reiner Strunk - Страница 8
ОглавлениеFREITAG, 7. APRIL 2000
Kleine Fluchten!
Es konnte nicht verkehrt sein, für ein paar Tage das Weite zu suchen, hatte Beermann überlegt, um allem den Rücken zu kehren: der Stadt, dem Pfarramt, der vertrackten Geschichte mit dem Bild, der Polizei. Er fühlte sich wie von böswilligen Geistern verfolgt und überlastet. Die Frau war ihm davongelaufen, und es hatte ihn gekränkt, weil er sich früher für einen glänzenden Liebhaber und zurzeit immerhin noch für einen liebenswerten Ehemann gehalten hatte. Was wollte Bettina eigentlich? Wodurch hatte er sich ihren Missmut zugezogen? Er begriff es nicht.
Kurz entschlossen ließ er sich vom Dekanat einen Kurzurlaub bewilligen, traf die nötigen Vorkehrungen für seine Abwesenheit, packte seine Reisetasche, stieg in seinen alten Passat und brach nach Süden auf – an den Bodensee. Er wollte einfach stundenlang am Wasser sitzen, dort, wo der See am breitesten ist, bei Friedrichshafen. Wollte seiner Seele Raum lassen, die so elend ins Enge geboxt worden war, und sie gleichsam hinbreiten und sich herumlümmeln lassen auf dem großen Wasserbett, das alles Schwere in die Tiefe hinabzog und verschwinden ließ.
Gelingen wollte es ihm nicht. Die Unruhe, die sich festgesetzt hatte in ihm, vermochte er nicht abzuschütteln. Sie trieb ihn, obwohl er ruhen und einfach faulenzen wollte, und er pendelte rastlos von einem Ort zum andern.
Wenn er über die Friedrichshafener Uferpromenade schlenderte, fühlte er sich wie amputiert. Bettina fehlte neben ihm, allein war er ein Torso. Lindau mied er von vornherein, er wäre dort an allen Ecken mit schönen Erinnerungen zusammengestoßen, die wehtun mussten, weil sie von seiner Gegenwart nicht mehr gedeckt wurden. Auch die schönsten Plätze der Erde sind nicht schön an und für sich, dachte Beermann. Sie werden schön durch Augen, die glücklich sind.
Er unternahm einen Ausflug in die nahen Berge. Vielleicht half ja die Mühsal des Wanderns gegen die Tristesse der Gedanken. Mit der Bahn fuhr er zum Hochgrat hinauf und stieg weiter bis zum Gipfel. Der Weg war nicht schwierig, brachte ihn aber völlig außer Atem. Andere, auch ältere Wanderer musste er an sich vorbeiziehen lassen. Wenn jetzt Bettina dabei wäre, würde sie ihm todsicher mit Programmvorschlägen für gymnastische Übungen und verwandte Ekligkeiten kommen oder ihm dringend den Verzicht auf seinen spärlichen Rotweinkonsum empfehlen!
Vom Gipfel schaute er nordwärts weit ins Allgäuer Land, nach Osten über die Kämme des Bergrückens, auf dem er stand, nach Süden zu den höchsten Erhebungen der Alpen und nach Westen bis hinunter zum Bodensee. Er empfand Augenblicke der Stille und des gütigen Vergessens. Dohlen umkreisten ihn, aber er hatte keine Brocken für sie, nicht mal Brot für sich selbst. Etwas entfernt hockte ein Bergwanderer auf der Erde, langte eine Wasserflasche und eine kolossale Hartwurst aus seinem Rucksack, schnitt sich die Köstlichkeit zurecht und speiste mit sichtlichem Genuss. Geht also auch, erkannte Beermann; es geht anscheinend, allein und vollkommen zufrieden zu sein.
Ihm selbst wollte es nicht gelingen.
Er saß am See, doch es wurde ihm nicht leichter dabei. Bloß langweilig. Weitere Ausflüge nach Meersburg, von dort mit dem Schiff nach Konstanz, ein Spaziergang am Hafen und an Peter Lenks üppiger Imperia vorbei, anschließend durch die Altstadt mit Kaffeepause bei frühlingshaften Temperaturen in einem Straßencafé: Lauter künstliche Beschäftigungen, die nicht wirklich erfreuten, kleine Fluchten, die nirgendwo hinführten, dachte Beermann, der die Nase voll hatte. Er packte seine überschaubaren Sachen im Hotel zusammen und reiste zurück. Unglücklich mit sich und der Welt konnte er auch zu Hause sein.
Am Abend saß er bereits wieder in seinem Pfarramt und sah den Poststapel durch, der sich in den vergangenen Tagen angesammelt hatte. Er enthielt nichts von Bedeutung: Werbung, Bettelpost, Amtliches. Das meiste für den Papierkorb. Als er sich gerade vom Schreibtisch erheben und die Lampe löschen wollte, klirrte es furchtbar. Scherben flogen durch den Raum, ein harter Gegenstand schlug gegen die Türen des Aktenschrankes.
Beermann hatte sich instinktiv geduckt und schützend beide Hände über den Kopf gelegt. Er rührte sich nicht, versuchte aber durch die Gardinen zu spähen, ob er draußen eine Person oder sonst etwas Verdächtiges erkennen könnte. Dann machte er das Licht aus, zog die Vorhänge zu und wartete. Nichts geschah. Entfernt vernahm er die Geräusche der Fahrzeuge, die die Straße vor der Kirche passierten. Ansonsten war es still. Als er meinte, davon ausgehen zu können, dass keine weiteren Angriffe drohten, streckte er sich, bediente den Lichtschalter und sah sich um. Glassplitter lagen auf dem Boden. Es war nicht schwer zu ermitteln, dass eine Fensterscheibe durch ein Wurfgeschoss zu Bruch gegangen war. Mitten in seinem Pfarramt, kaum dass er heimgekehrt war nach Tagen der Abwesenheit.
Was ging hier eigentlich vor?
Er musste nicht lange herumsuchen und fand den faustdicken Gegenstand, der mit Wucht durchs Fenster geschleudert worden war. Ein Stein, in Papier gewickelt. Bei näherem Hinsehen, erkannte Beermann, dass das Papier beschriftet war, mit Druckbuchstaben, die man offenbar aus Titelzeilen einer Zeitung ausgeschnitten und in der gewünschten Anordnung auf das Blatt geklebt hatte. Die alte Methode, mit der gehässige Verleumder oder um Tarnung besorgte Erpresser ihre Nachrichten übermitteln. Beermann ließ sich auf seinem Schreibtischstuhl nieder und las:
ACHTUNG!
DER BRUCH HAT LEIDER NICHT VIEL
GEBRACHT AUSSER SILBER
LASS DAS DING VERSCHWINDEN
ES KÖNNTE UNGLÜCK BRINGEN
WER STAUB AUFWIRBELT KANN DRAN ERSTICKEN
Keine Unterschrift, kein Hinweis auf einen Absender, natürlich. Eine anonyme Drohung. Beermann hatte so etwas noch nie erlebt und saß wie versteinert vor dem Papier. Gewiss, anonyme Briefe kamen vor. Am häufigsten von verwirrten Geistern, die von Endgerichtsphantasien geplagt wurden, gerade in dieser Zeit der Jahrtausendwende, wo die Apokalypse Geburtstag feierte. Der Kirche, vorab ihren Theologen, wurde die Schuld an bevorstehenden Katastrophen in die Schuhe geschoben. Weil Teuflisches verkündet und die wahre Lehre verraten werde. Dann wurden gern Feuer und Schwefel über das Haupt des Angeschriebenen herabgerufen und ewige Höllenstrafen in Aussicht gestellt. Man las so etwas, entsorgte es in den Papierkorb und hatte es in der nächsten halben Stunde vergessen.
Hier allerdings lagen die Dinge deutlich anders. Das anonyme Schreiben war mit konkreten, aktuellen Bezügen versehen. Der Einbruch in die Sakristei wurde angesprochen und auf das Bild vom Kirchenboden angespielt. Die Warnung ließ schon durch die Art ihrer Versendung an Klarheit keine Wünsche offen: das Bild sollte beseitigt und vergessen werden. Sonst könnte etwas passieren, schlimmer als ein Einbruch in eine mangelhaft gesicherte Sakristei.
Beermann wusste nicht, was er anfangen sollte. Er fühlte, wie Angst in ihm aufstieg und dass die Hände feucht wurden, die das Drohpapier hielten. Ohne sein Zutun war er in eine Sache hineingeraten, die ihm über den Kopf wuchs. Natürlich würde er dem Inspektor berichten, was vorgefallen war, aber er hatte wenig Hoffnung, dass der Inspektor wirklich Hilfreiches in die Wege leiten würde. Er würde seine Notizen machen und erklären, dass dergleichen leider vorkomme, heutzutage. Und sich empfehlen.
Was jetzt?
Beermann hatte nicht den Nerv, vom leeren Pfarramt in die leere Wohnung hinüberzugehen, vielleicht die Reisetasche auszupacken und in der Küche festzustellen, dass es nichts zu essen gab. Er schob den Hausschlüssel in die Tasche, horchte noch einmal, bevor er die Haustür öffnete und hinaustrat, um in der Stadt ein Bier zu trinken. Oder zwei. Er verstand auf einmal, dass es Situationen gibt, in denen Menschen den klaren und zielführenden Entschluss fassen, sich in einer Kneipe ordentlich volllaufen zu lassen.