Читать книгу Zinnobertod - Reinhard Lehmann - Страница 7
Kapitel 2
ОглавлениеDas Erwachen brachte höllischen Schmerz mit sich. Nichts passierte. Friedhofsstille, tiefe Dunkelheit und Leere im Hirn begleiteten Lorenz.
»Zeit, die Augen zu öffnen«, blieb ein scheuer Gedanke. Alle Mühe war umsonst! Die Wimpern am Rand des Ober- und Unterlids ließen sich keinen Millimeter bewegen. Verkrustetes Blut bedeckte die zarten Härchen und verschmolz sie miteinander. Der kräftezehrende Kampf, das zu ändern, war zum Scheitern verurteilt. Licht zu erheischen, um das Eingesperrtsein zu ergründen, fiel aus. Das war beileibe nicht alles. Den Kopf hatte sein Attentäter mit Gewebeband fixiert. Den Rest des Körpers mit meisterlicher Gründlichkeit ebenfalls. Das Blut in den zusammengepressten Adern stockte. Verharren in der Bewegungsunfähigkeit brachte Gefühllosigkeit und Schmerz. Das einzig Positive daran: es verordnete Konzentration und verhalf, den ersten klaren Gedanken zu fassen.
»Wo, verdammt, ist der Feind ... mein Peiniger? Wie bin ich in seine Fänge geraten? Welcher Tag ist heute?«
Eine Antwort blieb aus. Die Grabkammer demonstrierte, wofür sie der Täter geschaffen hatte: Angst zu verbreiten. Demut zu schaffen. Ja, was denn, war sein Leben bedroht? Und warum? Fragen, denen sich komplexe Erinnerungen entzogen.
Dabei war es nicht lange her, da überschlugen sich die Wogen in Erwartung auf ein Date. Wartete nicht Evelyn Feist am Ende des Wegs? Der Gedanke war dicht dran. Die aktuelle Lage zeigte sich von ihrer schlimmsten Seite. Mit übermenschlicher Anstrengung gab das Gehirn Parallelen zum Vorgang auf dem Hexenplateau nahe der Stadt Thale frei. Die Gedanken auf Kurs zu bringen halfen sie nicht. Zu penetrant waberte das eigene Unvermögen mit der fatalen Selbstüberschätzung seiner Kräfte. Indes endete das im bitteren Sarkasmus mit einem Ergebnis. Dem perfiden Verfall in einen Gedankenblitz. Das Wort Vertrauen verbarg sich darin. Fehlanzeige!
»Mist«, verbreitete sich die stille Reflexion rasant im Hinterstübchen aus. Ein übler Beigeschmack bedrängte ihn. Dominante Übelkeit setzte ein. Sie verstärkte seinen Wunsch, den quälenden Durst zu löschen. Hinzu kam dieser unsägliche Harndrang. Unverzagt quollen die Gedanken über. Sie reiften zu Worten, die hervorsprudelten, um sich am verschlossenen Mund wie eine Welle in der Meeresbrandung anzustauen. Hier einzig dem Zweck verbunden, Verständigung zu erlangen. Der Verschluss erfüllte das Qualitätsversprechen des Gewebebandherstellers. Lorenz hing festgezurrt wie an einem Marterpfahl.
»He, zeigt euch, ich muss pinkeln. Gebt mir was zu trinken. Wasser!«
Beides verlor sich erneut in seiner Gedankenwelt. Zu den Unbekannten drangen sie nicht vor. Lorenz meinte, deren Verhaltenskodex zu erkennen. Pure Angst des Versagens, was sonst.
Da gab es diese unsägliche Betäubung. Die traf ihn aus heiterem Himmel. Nichtsahnend! Blitzschnell! Hochwirksam! Das, obwohl der Schütze den von komprimierter Luft getriebenen Pfeil nicht zielgenau verschoss. War er abgelenkt? Hatte er Angst? Kam da Verzweiflung zum Ausdruck? Agierte er daher mit brutalen Schlägen und Tritten?
Lorenz erinnerte sich ebenfalls daran, dass die Wirkung des Narkotikums die Schmerzempfindlichkeit ausschaltete. Leider bis zu diesem Moment, wo sich der Speichel mit Blut vermischt im Mund sammelte. Er schluckte ihn runter, stieß dabei vor Schmerzen ruckartig die Luft aus. Ein Fehler, denn das Nasenbein schien gebrochen. Vorsicht war angesagt. Nicht aufregen! Nicht husten! Den Erstickungsanfall wegdenken. Dem blutigen Auswurf erlauben, aus der Nase zu fließen.
Die Methode, Angst wegzudenken, funktionierte leidlich. Sie brachte ihm Entspannung und Platz für neue Wahrnehmungen. In Wirklichkeit hatte sich was verändert. Er bemerkte einen sanften Luftzug. Da gab es demzufolge ein offenes Fenster, eine Tür?
»Mein Gott, was ist das?«, verlor sich in der Aufnahme muffig riechende, lauwarme Luft, die über nicht vom Klebeband bedeckten Hautpartien im Gesicht strich. Der Geruch von Schweinestall hatte sich darin verfangen. Dem auszuweichen, schien unmöglich. Sich dem Peiniger gegenüber zu artikulieren nicht. Lorenz fluchte innerlich.
»Ich gebe nicht auf«, verlor sich in dem von Schmerz durchfluteten unsichtbaren Blick in der künstlich geschaffenen, bedrohlichen Dunkelheit. In dieser Szenerie wuchs eine tödliche Gefahr heran. Die hatte ihren Ursprung im Speichel, der sich in der Halbmaske staute. Mittlerweile führte der zu einem würgenden Schlucken, welches den ausgeprägten Adamsapfel in der Mitte des Halses krampfen ließ. Nichts geschah, um es zu verhindern.
Ein oder zwei Sekunden lang trieb ihn der pure Instinkt einer taffen, selbst auferlegten Disziplin zu folgen. Das verhinderte, elendig zu krepieren. Die Akzeptanz, die undurchdringliche Dunkelheit wie ein Geschenk zu handhaben, zeigte ihre Stärke. Im Handumdrehen stellte sich die Frage nach dem Wie. Die Antwort hieß: durch absolute Konzentration! Durch Täuschung des Gegners! Bewusstlosigkeit vorzutäuschen wäre eine Option. Das Ziel, die Aufmerksamkeit der Schergen abzulenken. Was immerfort notwendig ist. Er hatte kaum genug Zeit, sich diesem Gedanken zu widmen. Das Martyrium zu beenden hieß, der Notlage mit List zu begegnen. Auf sich gestellt, bedurfte das einer blitzgescheiten Lösung. Sehen, hören, atmen war einzig in der Form machbar, wie man es ihm gestattete. Der ganze Körper, außer der ramponierten Nase, war mit Klebeband umwickelt. Hilflosigkeit schaffen gehörte zu einer ausgeklügelten Strategie. Es setzte mit der wachsenden Handlungsunfähigkeit Ängste frei. Die konzentrierten sich auf Schmerz, Betäubung der Seele und Muskulatur.
Dem Hohn zum Trotz hatte man ihm eine Atemhalbmaske aufgesetzt. Ein geschickter Schachzug, der ein Teil des psychologischen Kalküls der Namenlosigkeit war. Ungeachtet dessen bedeutete das bei ausbleibender Hilfe den Tod. Der zeigte ungeniertes Interesse. Sein betäubter Geist versuchte grade, dem zu entgehen. Er drängte ihn, aus dem Dämmerzustand zu erwachen. Wie sich herausstellte, gestaltete sich das zu einem eher schwierigen Unterfangen. Die Maske saß nicht. Keiner richtete den Sitz, sodass der mit Blut angereicherte Speichel sich darin ansammelte. Die Behinderung erwies sich der Sache dienlich.
Für Lorenz und seine Peiniger öffnete sich dadurch eine Tür ins Heute, mit dem einzigen Ziel: die Anonymität aufzubrechen. Nein, sterben lassen war nicht drin. Dieses Risiko einzugehen, bedurfte der Billigung eines Auftraggebers, nicht der seiner Vasallen. Gebetsmühlenartig wiederholte er den Gedanken.
»Abwarten, Lorenz! Füge dich! Erfülle ihnen der Form halber ihren Wunsch. Deine Stärke ist die Anpassung! Locke sie! Lass sie protzen! Stelle fest, ob ihnen das gasförmige Narkotikum Sevofluran ein Begriff ist. Gefesselt, hilflos dazustehen, ist die eine Wahrheit. Die andere, das dem Gegner nicht zu zeigen. Wie? Das liegt an dir. Sie sind scheinbar Meister der Manipulation. Mit deinem Körper und Geist über willfährige Werkzeuge zu verfügen, ist ihre Passion.«
Es blieben mahnende, unausgesprochene Worte, die mit dem salzigen Geschmack von den Lippen auf das Hirn übergingen. Der Versuch, den Kopf in die Schultern einzuziehen, misslang. Ebenso die verklebten Augen zu öffnen. Der Mund weigerte sich, vernehmbare Laute zu artikulieren. Schweiß strömte über das Gesicht. Die beißende Körperflüssigkeit bedeckte mittlerweile den ganzen Körper. Das Gefühl des Ekels verwob sich mit der stickigen Luft. Angst, an einem Krampf zu verrecken, breitete sich wieder aus. In der schrecklichen Bewegungslosigkeit wie eine Presswurst zu verharren, gab dem einen Rang.
Mit einem Ruck änderte sich die Wirrnis. Fahles Licht verdrängte durch die geöffnete Tür einen Teil der Dunkelheit.
»Hey, lass den Schalter auf Off«, schwappte ihm entgegen. Zwei Stimmen in unmittelbarer Nähe drängten sich wie durch eine Nebelwand in sein Ohr.
»Er ist wach, verliert sich grade in einer Art Dämmerzustand.«
»Du Esel, der massive Schock sitzt dem Kerl im Körper. Bist Du blind? Hättest ihn um ein Haar erschlagen. Gefangennahme ja, das war dein Auftrag. Vergessen? Was sehe ich? Einen Kripomann, der nicht ansprechbar ist. Blödmann! Polizistenmord endet lebenslänglich! Ziehst mich da rein, Scheiße verdammt.« Die hohe Stimme klang zunehmend fuchsiger. »Haben wir nicht genug andere Probleme? Mistkerl, elender.«
»Bleib cool, Chef. Der Kerl kam mir schnurstracks entgegen. Ich habe reagiert, ihm eine übergebraten. Na ja, zur Sicherheit opferte ich ein paar Meter extra Klebeband. Ist dir das ebenfalls nicht recht?«
»Das ist Vergangenheit. Augen, Nase, Ohren befreist du von dem Firlefanz«, bellte die Stimme der scheinbar übergeordneten Person. Sie traf den Begleiter auf Anhieb. Zugleich klärte sie unmissverständlich, wer hier das Sagen hatte.
»Warte!«, bohrte sich der zischend scharfe Ton in den Raum. Mit der Hand auf das Panzerband verweisend, senkte er den Befehlston ab. »Trotz alledem, tüchtige Arbeit! Arme und Beine bleiben fest mit dem Körper verbunden. Binde ihn da hinten an den Pfosten. Vierundzwanzig Stunden im Stehen, das ist meine Therapie der Ernüchterung. Den Glaubensbrüdern von Wilhelm zu schaden, hat just seinen Preis. Hör zu. Zweimal am Tag schiebst du dem Kerl fünf Kekse in den Hals. Hinterher ein Glas Wasser mit einem Narkotikum. Ruhigstellen nennt sich das. Begriffen?«, traf der eisig mutierte Ton fragend die zweite Gestalt. Deutlich erkennbar ein Vertrauter, der ihn Chef nannte.
»Ja, keine Frage. Der Bulle erlebt glasklar, welch ein Mist das Leben produziert, wenn man dagegen anläuft.«
»Hast du treffend erkannt. Na hoffentlich irre ich nicht. Wir sind in den nächsten Tagen aufeinander angewiesen.«
»Weil? Was verbirgt sich dahinter, Bestatter?«
»Wisch dir den Rotz vom Kinn. Glotz nicht. Wir schlagen ein neues Kapitel auf. Unser eigenes Spiel kommt in Gang.«
»Das heißt? Eine Erleuchtung? Behandle mich nicht wie einen Aussätzigen. Ich bin dein Partner.«
»Du nervst. Sperr die Hinweise auf unsere Identität weg. Verdammt, hier nicht. Was gibt es da zum jetzigen Zeitpunkt zu erzählen. Wart`s ab«, grinste er breit.
»Mir ist egal, was der über uns weiß. Er ist eine Bedrohung. Eine lebende Gefahr, der wir gegebenenfalls ein paar Monate des Darbens schenken. Ergo, treuer Helfer, du brauchst ihn nicht direkt umlegen. Körperlicher Zerfall sorgt dafür, dass er dahinvegetiert.«
»Ahnte ich`s. Chef, du bist unter die Giftmischer gegangen. Der langsame Tod. Qualvoll! Anstelle die Garotte singen zu lassen. Warum machst du dem Kerl kein Geschenk? Einen kurzen, schmerzlosen Tod.«
»Nein, halte das Maul. Ich setze auf ein Nervengift.«
»Oha, wie im Krieg?«
»Denkbar, du Knallkopf, einzig hier an diesem Ort. Denke an Quecksilber. Die allerkleinsten Mengen schädigen den Menschen. Füttre den Bullen mit den Keksen, mehr ist nicht erforderlich.«
»Hoi, die hab ich ebenfalls gegessen. Du ebenso. Verkauft das Gedöns diese Evelyn Feist?«
»Mensch, drück dich klarer aus. Wer sonst? Die Enkelin der Wahrsagerin.«
»Ja, die sogenannte Älteste der Sekte. Das ist keine gebrechliche Oma. Die hat mehr auf dem Kasten als du Miesepeter.«
»Von mir aus. Ich weiß, diese Evelyn produziert die rote Keramik mit blauen Farbeinträgen.«
»Stimmt! Das Geheimnis liegt in der Keksmischung. Das honigsüße Gelumpe ist ein Verkaufsschlager im Harz. Niemand anderes außer ihr Gott ist im Bilde, wo die tödliche Gefahr des schleichenden Giftes lauert.«
»Korrekt! Hinzu kommt, die Zeichen stehen auf Sturm. Wilhelm steht in den Startlöchern. Er spricht davon, des Herrn Fürsprecher zu sein. Da tobt ein Machtkampf. Zu unserem Vorteil helfen wir dem Stärkeren. Die Evelyn ist ein Bastard, gezeugt von einem Selbstmörder, der gegen den Ehrenkodex verstieß.«
»Für mich zeigt sich da eine lebende Lüge, die ich in deinem Auftrag heimlich beobachtet habe.«
»Klar, du hast das Richtige auf die Reihe gebracht. Wenn das hier mit dem Kripomann vorbei ist, wirst du ihr Schatten bleiben. Wie klingt das für dich? Du schaust in ihre Seele, durch die Haut hindurch. Vergiss es, denn berühren, nein, das funktioniert nicht. Bist du dem gewachsen?« Er lachte mit Niedertracht im Blick auf. »Ha, ha, da werde ich direkt eifersüchtig. Sie braucht einen potenten Kerl.«
»Dich?«, prustete der Helfer fragend los.
»Du Esel, ich trete dir in den Arsch. Such dir gefälligst andere Weiber. Die Evastochter zähme ich langsam. Der impfe ich Gefügigkeit ein, treibe die Gottesfürchtigkeit aus. Zugleich besteige ich die Stute wie ein geiler Hengst.« Er gurrte wohlgefällig. Mit zwei Schritten stand er neben Lorenz. »Hmm, mein Riesenbaby hat dich bestens fixiert. Wir wünschen, dass du den Aufenthalt hier genießt. Ach ja, verstehst mich nicht.« Er schlug sich schallend auf einen Schenkel und sagte: »Bist angepisst, was? Bin gleich weg. Du kriegst sofort Marscherleichterung, der Höflichkeit wegen. Keine Fragen! Klar?«
»War’s das, Chef? Der ist hin. Ich füttere ihn später.«
»Ja! Komm!« Ungeachtet dessen, wurmte ihn was. Kurzerhand drehte er den Kopf, reagierte mit Häme im Tonfall. »He Kriminaler, wie schmeckt die neue Erfahrung? Egal, lass dir sagen, es bereitet mir Freude, dich hier zu sehen. Verehrtester, genieße jeden Augenblick. Er ist eine Art Geschenk. Eine Bitte hätte ich. Stirb nicht! Das wäre fatal, weil es mir den Spaß an deinen Qualen vergällt.«
Die Stimme entfernte sich von Benno Lorenz. Mit einem dröhnenden Knall flog die Tür ins Schloss. Urplötzlich herrschte Ruhe. Zeit, um alles neu zu ordnen. Vergebens! Der Komplize des Redners hatte ihm über die Atemmaske eine Droge beigemischt. Die Dröhnung brachte tiefe Dunkelheit. Für den Moment vertrieb sie ebenfalls den Schmerz.