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Kapitel 3

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Schlaksig, wie man das von Lorenz kannte, trat er vor zwei Tagen durch die Tür zum Dezernat 25 der Abteilung 2. Und wie es aussah, war er nicht mehr in der Lage, dem auszuweichen. Die Vorsehung hieß Jobhopping. Personallücken im Kriminaldauerdienst zu füllen, funktionierte stetig gleich. Seine Begeisterung war dünn. Die Disziplin fordernd. Zu diesem Zeitpunkt war nicht erkennbar, dass er sich durch die Aktivität fanatischer Täter in höchste Gefahr begab. Im Gegenteil. Die Euphorie durch private Glücksempfindungen trieb ihn in den Tag hinaus. Jede Sekunde davon auszukosten, war ein internes Versprechen. Genauso, Kollegen aus der Patsche zu helfen. Diesen heiligen Schwur brach er niemals. Polizist zu sein, bedeutete ihm, für Ehre, Treue und Kameradschaft einzustehen. Im Augenblick gewann eine andere Wahrnehmung die Oberhand. Mit dem frühen Sonnenaufgang erwachte die Lust. Es gab keinen Zweifel. Neben ihm lag Simone, die Spezialistin aus dem Cybercrime Competence Center des LKA. Nackt wie ein Fleck lichterfüllter Farbe schürte sie sein Begehren. Die ersten Sonnenstrahlen reflektierten auf dem zarten Braun ihrer Haut. Sie bemerkte den Blick. Lächelnd ergriff die fünfundzwanzigjährige Polizeikommissarin mit beiden Händen seinen Kopf. Sie näherte sich ihm, um genüsslich ihre Zunge zwischen seine Lippen zu schieben. Euphorisch flüsterte sie: »Komm, küss mich!«

Sie blieb an der durchtrainierten, muskulären Gestalt hängen, die eine erstaunliche Kraft entwickelte. Eine Gegenwehr schied vorbehaltlos aus. Aufstehen, kultiviert den Job anzutreten, war dahin.

»Okay, gib nach, genieße«, redete der erstarkende Geist im Hirn drauflos. »Schlaf mit ihr. Vergiss den Verdruss. Das Beste, was dir je passierte! Nimm es an!«

Darüber nachzudenken entfiel. Der Testosteronspiegel stieg sprunghaft an. Das Geschlechtshormon schaffte eine sichere Reaktion auf den Clinch, den ihre kraftvollen Schenkel um seine Lenden bewirkten. Willig ließ ihn die betörende Venus gewähren. Scheinbar in Höchstform, befeuerte sie den Liebesakt mit ungemeinem Ehrgeiz. Die langen, kohlrabenschwarzen Haare hingen ihr wirr vorm Gesicht. Sie verhinderten, ihre Ekstase augenfällig wahrzunehmen. In einer Art Wettkampf krümmte und bog sie sich. Das lebendige Wesen zu beherrschen, funktionierte nicht mehr. Ihre Oberschenkel fixierten ihn wie ein gigantischer Greifarm. Zum Andenken an die Explosion in ihr verblieb ein winziger Kratzer auf seinem Hals. Ein Obolus an den errungenen Sieg, in der Entrückung mit ihren Zähnen erzeugt.

Erstaunlich, die aufgelaufenen vierzig Lebensjahre verliehen ihm die Gabe eines Stehaufmännchens. Im Job des Kriminalbeamten jeden Tag erneut ausgespuckt, rang er dem das Beste ab. Hierzu zählte, den nach den Regeln der Behörde, soweit außer Frage realisierbar, mit eigenen Abläufen zu durchsetzen. Bisher funktionierte das ausgezeichnet. Er stammte aus einem Elternhaus mit geringem Einkommen. In kurzer Zeit lernte er, sich durchzuboxen. Dieses Vermächtnis investierte Lorenz in den Aufbau einer rundweg eindrucksvollen Karriere. Die kam zwar vorwärts, schob dagegen den krönenden Abschluss im gehobenen Dienst der Kriminalpolizei vor sich hin. Um zwei Stufen die Leiter hinaufzufallen, erlaubte das Amt. Das Band tiefer Befriedigung litt streckenweise darunter. Ausgepowert durch ein vom Personal ausgelaugtes Landeskriminalamt, Engpässen bei der Beförderung einschließlich der Vergütung bedurfte es Beamten wie ihn.

Der fliegende Atem mit einem klopfenden Puls verzog sich beim Betreten des Raumes schlagartig. Rasch fand er zu dem stetig gleichen Rhythmus, der für die Bekundung ernsthaft gesetzter Absichten zuständig war. Das betraf ebenfalls, die Peinlichkeit des Auftritts bewusst hinzunehmen. Unrasiert, Zigarettenrauch verbreitend, mit zerknitterten Klamotten bot er nicht den besten Anblick. Das scherte ihn mehr am Rande. Von all dem vermutete die Person hinter dem Schreibtisch nichts. Er war der geschmeidig-protzige Chef. Ein Gigant mit Befehlsgewalt über die Abteilung 2, zu der das Dezernat 25 mit der Tatortgruppe gehörte. Dem ordnete sich Lorenz generell unter. Egal, was da auf ihn zukam. Wie das ausging, stand nicht zur Debatte. All die unterschwelligen Gedanken störten den Beamten nicht im Geringsten.

»Ich brauche Sie für einen Sondereinsatz«, brach die Anspannung endgültig. Alle Anzeichen, wieder einen Ranzer zu kassieren, verschwanden.

»Also hab ich nichts falsch angepackt«, verzog sich im Sekundenbruchteil. Dabei lag die Ausrede im Hinterstübchen parat. Sein Verhältnis mit der Cyberspezialistin gehörte nicht zum Themenkreis. Das war ein Privatproblem, nicht das der Polizei. Na ja, für tiefgründige Gespräche über den Job blieb bisher keine Zeit. Die paar Stunden zwischendurch galten dem Vergnügen. Das war die einzig richtige Verständigungsbasis. Den Versuch, eine Vorstellung von dem zu erhalten, was ihn erwartete, winkte er im tiefsten Inneren ab. Hängen blieben da gegebenenfalls die Abende in den Kneipen, die 120 Zigaretten pro Tag, die schmuddelige zivile Kleidung. Der Drang nach dem Kick, zu kitzlige Fälle zu bearbeiten.

»Ich werde meine Haut gepfeffert verkaufen«, schob den Frust über den Ausfall der geplanten paar Tage Urlaub auf dem Darß in die Ferne. »Seifenblasen zerplatzen. Waren sie nicht dafür da? Und hatten sie nicht mit ihrem Glanz eine Aufgabe erfüllt, um dann ungeschminkt Wahrheiten zu verkünden?« Simone blieb der leibhaftige, rühmenswerte Engel mit den schwarzen Haaren. Der Geschmack ihrer Haut lag anhaltend auf der Zunge. Er trug ihn mit hinein zum Chef, um zumindest daraus für den heutigen Tag Hoffnung zu schöpfen. Gedanken für die Ewigkeit, die er in höchstem Maße verinnerlichte. »Keine Angst, wir geben uns einander hin. Täglich, zwischendurch, mit sportlicher Note. Ich bin dein Preis. Geh in dich. Der Job hat Priorität, sei wachsam!«, verlor sich in Anbetracht der Aufforderung, sich zu setzen.

Wer von der Obrigkeit dafür ein Auge hatte, entzog sich ihm. Weil sich an dem nichts ändern ließ, erwiesen sich jegliche fieberhaften Überlegungen als unnütz. Hier drehte sich alles um Disziplin. Das Gefühl, Großes zu bewirken, stimmte ihn beschwingt. Intern zählte er zu den leistungsstarken Gutmenschen mit Visionen, die in der Lage waren, einen Riecher für Erfolg zu generieren. Den Spannungsbogen zwischen privatem und dienstlichem Engagement hatte er lange vorher für sich geklärt. Verbrechen Einhalt zu gebieten, ein Anspruch, den er täglich bereit war, anzustreben. Einzig das zählte.

»Lorenz, setzen Sie sich«, klang nach einer Einladung, nicht wie ein Befehl. Der Rest verlor sich in den üblichen Beschwörungen. »Bleiben Sie bei der Stange. Es ist Urlaubszeit. Na ja, Sie wissen damit umzugehen. Ein Sondereinsatz. Vorübergehend überstelle ich Sie dem Revierkriminaldienst der Polizeidirektion im Harz. Ich habe Sie persönlich avisiert. Bereit?«, sah er ihn fragend an und streckte den Daumen nach oben. Die Antwort schien dem Chef geläufig. Trotz alledem schob er den dafür üblichen Spruch hinterher: »Ich sorge für angemessene Unterstützung, Lorenz.« Es dauerte Millisekunden, um sich darauf einzustellen.

»Chef, ich habe kein Problem, auszuhelfen. Seit zwei Jahren arbeite ich in fremden Gefilden. Bin buchstäblich der Ausputzer mit Besoldungsgruppe A 10.«

»Was denn, versteckt sich da eine Beschwerde? Nicht heute. Sie pokern zum falschen Zeitpunkt«, bohrte sich die Antwort monoton in sein Ohr. Sie besaß eine gewisse Schärfe und demonstrierte Angriffslust. Dieser Eindruck bestätigte sich. Es bestand keine Chance, sich zu wehren. Er gewahrte, wie die Disziplin Besitz von ihm ergriff. Ein Grund mehr, das Gesicht zu wahren.

Wie um sich zu beruhigen, sog er ein paarmal die Luft ein und erklärte: »Bringen wir die Sache hinter uns. Ich bin bereit!«

»Und wie Sie das sind. Sie lecken sich die Lippen. Ich sehe, wie es Sie drängt, sich zu beweisen. Das ist wieder eine Chance, sich in unkonventionellen Vorgehensweisen der Fallbearbeitung auszuprobieren. Lorenz, Sie gehören zu den Kriminalisten mit Biss. Die brauche ich bitter nötig. Und bitte, stecken Sie das dämliche Grinsen weg.«

Er schaute zu dem Oberrat auf. Verdammt, sein Verhalten war nicht professionell. Persönliche Interessen der Jobausführung voranzustellen, nein, das funktionierte nicht. Der Chef hatte den Sarkasmus mit der Besoldung auf eigene Art weggesteckt. Gott sei Dank. Wenn es einen Augenblick gab, dieser Blamage zu entrinnen, schien das sofort angebracht. Es kam anders. Der Vorgesetzte drückte eine Taste auf der Sprechanlage.

»Bitte bringen Sie für mich und den Oberkommissar Kaffee, Zucker und Milch und Gebäck. Kommen Sie, Lorenz, setzen wir uns dort drüben an den Tisch. Unser Gespräch dauert eine Weile. Klar, ich erteile Ihnen den Befehl, das war’s. Das bringt nichts. Die Sache ist zu prekär. Finden Sie es selber heraus. Da kommt eine Winzigkeit obendrauf«, brachte er in einer Art väterlichem Ton rüber. »Sie realisieren den Job im Alleingang. Ich verfüge volle Handlungsfreiheit. Sagen wir, drei bis fünf Tage für die Zeugenbefragungen. Sie lösen das Rätsel um den Vorgang, den Sie gleich zur Kenntnis erhalten. Und Achtung: Ich schicke Sie in einen Krieg! Erstaunt? Inhalieren Sie das wörtlich. Es ist bitterernst. Vermeiden Sie öffentliches Aufsehen!«

»Chef, was soll die Vorrede. Entweder bin ich dafür der geeignete Ermittler oder nicht.«

»Okay. Auf den Punkt gebracht heißt das: ein teilskelettierter, menschlicher Körper ohne Kopf im Flusslauf der Bode stiftet Unruhe. Hmm, hätte ich bald vergessen. Da gibt es eine ungeklärte Vermisstenanzeige. Die sticht mir ins Auge.«

»Weil? Und weswegen ist das ein Vorgang, der dem LKA anhängig ist?«

»Der Kerl ist beim Staatsschutz eingängig bekannt. Bei dem handelt es sich um den geschassten Anführer einer Sekte.«

»Da ist mein Einsatz eine reine Formsache? Wir reagieren, um Ruhe in den Vorgang zu bringen?«

»Ja und nein! Ich brauche einen nüchternen Bericht, den Sie verfassen. Keine Heldentaten. Ich setze auf Ihre Integrität. Beweisen Sie, dass mein bester Ermittler das nachfolgende Beförderungsamt verdient hat. Diesen Ritterschlag würde ich gern vollziehen.«

»Uff, das haut mich um«, erwiderte Lorenz. »Das Ausputzen mit meinem Vorwärtskommen zu verknüpfen, endet hin und wieder tödlich.«

»Quatsch, das basteln Sie hin. Da bin ich voller Zuversicht. Bitte, Oberkommissar, ich brauche kein Konfliktpotential mit den anderen Kollegen. Wir reagieren auf das Amtshilfegesuch der Polizeidirektion Harz. Schlagen Sie dort auf. Schalten Sie sich in die Ermittlungen ein«, hob er eine Art Sprechgesang an.

»Werde ich, verlassen Sie sich drauf. Okay. Sie erwarten von mir die Abklärung von Identitäten nebst Todesursache in drei bis fünf Tagen. Ist das in Ihrem Sinn?«

Auf das in die Länge gezogene »Hmm, tja, äh« folgte: »Korrekt! Keinen Schritt anders. Vergessen Sie nicht, der Bürgermeister der Stadt betet Sie garantiert an, den Fund tunlichst bedeckt zu kommunizieren. Erfüllen Sie ihm den Wunsch. Den erkennungsdienstlichen Teil, die Daktyloskopie, den Nachweis der DNA, überlassen Sie den Kollegen vom Dezernat 23. Schauen Sie zuerst da vorbei. Die Rechtsmediziner schaffen gemeinsam mit dem Forensiker über den Todesfall Gewissheit. Runden Sie das Bild vor Ort ab. Die Frage, ob ein Gewaltverbrechen beziehungsweise eine natürliche Todesursache vorliegt, ist wie gewohnt nach Handbuch zu klären. Hier lugt eine enorme Verantwortung um die Ecke. Ich bin nicht sicher, meine Vermutung legt mir nahe, dass da Ärger vorprogrammiert ist. Ich rieche das. Die Lage im Harzvorland ist angespannt. Sie sind der Joker. Ach, ein winziges Detail wäre in dem Zusammenhang zu beachten.«

Er hob den Kopf, sah den KOK mit zusammengekniffenen Lippen an. Die öffnete er schlagartig, um ernüchternde Worte preiszugeben.

»Mensch Lorenz, passen Sie gefälligst auf sich auf! Keine Eigenmächtigkeiten! Disziplin! Gott behüte. Verkacken Sie das nicht. Für den Jahresabschluss der polizeilichen Kriminalstatistik brauche ich aufgeklärte Fälle. Ein solcher Fund ist nicht nützlich für das Tourismusgeschäft der Harzstadt. Mein Rat, spannen Sie den Bürgermeister mit seinem Team in die Datensammlung ein. Irgendeiner hat garantiert was bemerkt. Die Stadt quillt ja über mit potentiellen Nachrichtenträgern.«

»Reden wir von den steigenden Touristenzahlen?«

»Was denn sonst, Lorenz. Mahlzeit, wenn die Medien Beute wittern. Es reicht, dass der Torso mitten in der Urlaubshochzeit zufällig zum Vorschein kam.«

»Chef, Sie haben da Details weggelassen.«

»Was? Quatschen Sie nicht rum!«, brauste der auf. »Sagte ich ja. Begeben Sie sich zu den Kollegen vor Ort. Schauen Sie, ob es da irgendwelche Verbindungen zum Vermissten gibt. Eine Menge treuer Anhänger verehren die gesuchte Person. Lassen Sie sich das vernünftig erklären. Denkbar ist alles. Nachrangig ein möglicher Bezug zum Fund in der Bode.«

»Hmm, wenn Sie meinen. Ich bin voll dabei«, erklärte sich Lorenz, um sofort nachzuschieben. »Rein hypothetisch betrachtet. Mir sind viele Tote bei den Ermittlungen in den Jahren begegnet. Die schmoren in der Vergangenheit. Ich dagegen kümmere mich um das Heute und die Zukunft.«

»Prima! Na das passt bestens in meine Überlegungen hinein. Schätzen Sie sich glücklich und freuen Sie sich, dass ich Sie nicht mit einem nackten Befehl abgespeist habe. Ihr Verständnis ist gefragt. Ich brauche jemanden mit eisernem Kalkül. Um Ihnen mehr Informationen zu liefern, hieße das, in die Trickkiste zu greifen. Funktioniert leider nicht. Erledigen Sie das vor Ort, oder bleibt das am Chef des Amtes hängen?«

»Blödsinn, ist das ein Test? Herr Kriminaloberrat, Sie foppen mich. Die Aufgabe ist eindeutig. Erklären Sie mir die Vorgehensweise in Kurzform. Das reicht. Zufrieden?«

»Ich glaube ja. Das ist eine schlitzohrige Antwort. Hmm, Sie wissen es besser. Ohne Frage mit versöhnlicher Absicht. Passt haargenau in das Klischee eines Spitzenbeamten. Bissig, mit blitzschneller Reaktion.« Er grinste. Sein Blick traf den von Lorenz. Mitleidserfüllt. Glasig. Aufgewühlt von einem harten Disput. »Habe gehört, das hilft, die Aversion gegen Glaubensfanatiker abzulegen.«

»Oh je, das ist zutiefst konkret. Vorschlag, wir kommen wieder runter vom hohen Ross. Sie sind mein Chef, geben die Befehle. Ergo, keine Sorge. Sie investieren in einen Profi mit Hungergehalt«, sagte er mit beißendem Spott auf der Zunge. Dafür erntete er einen fragenden Blick. »Das wüsste ich. Lorenz, erst der Job. Die Lobhudelei folgt. In dieser Reihenfolge. Haben Sie das begriffen? Abtreten!«

Eine Stunde später jagte ein eisiger Schauer über die Haut. Sein Handy schaltete sich per Freisprechanlage im PKW zu. »Hier ist das Sekretariat der Stadtverwaltung. Sie sind Oberkommissar Lorenz?«

»Korrekt, der bin ich!«

»Na Gott sei Dank. Es dreht sich um den Fund menschlicher Skelettreste in der Bode. Ich verbinde Sie mit dem Bürgermeister.«

Seine Konzentration galt in dieser Sekunde unwiderruflich dem Anrufer. Obendrein hatte er eine geistige Notiz parat. Volltreffer! Das traf den Nerv des Stadtpolitikers. Der ursprüngliche Erregungszustand verblasste im Nu. Ein Funke von Sympathie sprang über.

»Herr Bürgermeister, wir sind beide einer Meinung. Hier steht eindeutig eine Menge auf dem Spiel. Ob Unfall, Totschlag oder Mord, es gibt ein Ergebnis, garantiert. Ich verbürge mich dafür. Es stimmt, die Umstände sind kurios.«

»Einzig aus diesem Grund befeuern sie kontroverse Diskussionen. Ein menschliches Skelett ohne Kopf in der Bode, das ist ein äußerst schreckliches Ereignis. Herr Lorenz, das Image der Stadt leidet. Degradiert da jemand den Tourismus in unserer Harzregion zu einem Tal der Tränen? Haben wir ein ernsthaftes Problem? Bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen. Wir reden bei mir am Tisch darüber. Ich habe Verstärkung hinzugezogen. Das versetzt Sie garantiert in Erstaunen. Bei dieser Gelegenheit: Negativschlagzeilen verabscheue ich. Sie ebenfalls, meinte Ihr Vorgesetzter. Seien Sie nicht zimperlich«, gab er telefonisch mit auf den Weg. »Und, passt das? Im Übrigen, Sie fahren ja in ein Urlauberparadies«, folgte mit einem vernehmbaren Lachen. »Spaß beiseite. Kundige Kriminalisten besuchen uns nicht jeden Tag. Mein Vorschlag: Lernen Sie den Brunnen der Weisheit kennen. Das dient den Ermittlungen. Wo wir schon mal dabei sind, der Weg zu mir führt unmittelbar daran vorbei. Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter vom Harzklub erwartet Sie. Wann treffen Sie ein?«

»In einer Stunde, sagt zumindest das Navigationssystem.«

»Bestens, Herr Lorenz. Konzentrieren Sie sich auf das Café gegenüber dem Rathaus. Ist nicht zu verfehlen. Parkmöglichkeiten finden Sie in der angrenzenden Einkaufspassage.«

»Danke, ich komme klar. Sie kennenzulernen, ist mir eine Ehre«, brummte er zufrieden und drückte das Gespräch weg. Es gab nichts mehr zu sagen. Zurück blieb der Gedanke an die unzureichende Vorbereitung. Dem Termin fuhr er buchstäblich blind entgegen. Mit Wissenslücken aufzukreuzen, gefiel ihm absolut nicht. »Scheiße, die werfen mich in aller Ruhe in eine Sache rein, die mir unter Umständen das Genick bricht«, murmelte er mit Blick auf den Straßenverkehr. Die bloße Erkenntnis, dass der Harzklub mit dem Zweigverein der Stadt enormen Druck auf den Stadtvater ausübte, drängte sich im Gedächtnis nach vorn. Ein bis dahin unbekannter Fakt verblieb. Der Vermisste hatte engen Kontakt zum Verein. Da blieb die Frage offen, wieso sein Verschwinden nicht auffiel. Keine Anzeige bei der Polizei. Und ebenfalls keine Nachfragen im Bekanntenkreis. Einzig die Enkelin reagierte. Für sie war ihr Opa nicht nur ein Teil der Familie, sondern ein Geschichtenerzähler, stetig vermittelnd, um Zusammenhalt der Menschen bemüht. Klar zählte er zu den prominenten Wanderführern in der Region. War ein meisterhafter Kenner der germanischen Mythologie in der Harzer Sagenwelt. Darauf aus, nicht auf der Erde, sondern problemlos über Meere und sogar auf den Wolken zu reiten. Wie Sleipnir, das gewaltige Schlachtross, Wotans achtbeiniges Zauberpferd? War es denkbar, dass sich hier jemand verbarg, der den Zorn Andersgläubiger auf sich zog? Züngelte da ein Glaubenskrieg? Für Lorenz blieb das weitestgehend unbeantwortet. Die Frage drängte nach einer Lösung. Ungestüm, jeden Kilometer anmahnend, den der Passat auf dem Weg in die Harzstadt zurücklegte. Wie gefährlich war ein Skelett? Oder der vermisste Wanderführer? Für die Öffentlichkeit offenbarte sich mit dieser Person jemand, der in den Sommermonaten die Walpurgisnacht mit der Götterdämmerung den Zuhörern nahebrachte. Ein Künstler, in der Lage, die großflächigen Wandgemälde an der Seitenfassade eines Hauses inmitten der Stadt zum Leben zu erwecken. Ein Meisterredner, der die Mythologie zur Werbemasse erkor, um die Lobpreisung seiner Gottesansichten mit dem Einzug ins Paradies zu verweben. Die verhieß Rettung vor dem grausamen Tod. Eine Botschaft, die den sensationshungrigen Harztouristen zeitweise ein bloßes, primitives Lächeln entrang. Fragmente an Daten, die er dem flüchtigen Stöbern in einem dünnen Ordner entnahm.

»Hier lesen Sie das. Der Rest obliegt Ihrer Intelligenz. Und vergessen Sie nicht, Sie sind im Augenblick meine einzige scharfe Klinge. Mit dem Status des Sonderermittlers verfügen Sie über ausreichende Kompetenzen. Fragen Sie nicht, handeln Sie!«

Erst auf dem Parkplatz, im Auto sitzend, sammelten sich die einzelnen Bilder. Die Zigarettenlänge brachte Klarheit. Unterm Strich hing da eine banale Begebenheit dran. Zwei furchtbar nüchterne Fakten. Ein teilskelettierter menschlicher Körper ohne Kopf und eine Vermisstenanzeige. Alles eingepackt in den Bericht der Kollegen von der Polizeidirektion. Mehr Fragen, keine Antworten. Was stimmte daran nicht?

Am Zielort eingetroffen, schwächelte er. Der heiße Augusttag trieb unnachgiebig den Schweiß auf die Haut.

»Mir ist übel«, murmelte er. Das hielt ihn nicht davon ab, sich die nächste Zigarette anzuzünden. Verständlicherweise draußen unter dem Sonnendach des Eiscafés am Rathausplatz. Den Rauch von vierzig Stück hatte er lange im Vorfeld inhaliert. Im Moment vertrieben die Glimmstängel die Wartezeit auf den angekündigten Besuch. Von dem erhoffte er sich Einsichten über die vermisst gemeldete Person.

Sein Gastgeber stürmte sprichwörtlich auf ihn zu. Alle Achtung. Der Kerl zog das Interesse der Kaffeetrinker, Kuchenesser und Raucher an den Tischen auf sich. Seine massige Gestalt schob sich unaufhaltsam auf seinen Platz zu. Er hatte die Hände ausgebreitet. Das Gesicht von der Anstrengung gerötet und mit Schweißperlen auf der Stirn, stoppte er den Schnellgang. Sein Atem glich dem austretenden Dampf aus einem defekten Rohr. Heiß und zischend schlug er Lorenz ins Gesicht.

Die Sekundenwahrnehmung endete mit der dominanten Aussage: »Ah, Sie sind der Gast des Bürgermeisters. Der Herr Kriminaloberkommissar vom LKA Magdeburg. Treffer, stimmt´s? Scheiß Hitze heute. Na egal, ein herzliches Willkommen in der Stadt der Mythen.« Der gedrungene Vierziger schob zur Begrüßung die Hand vor. »Ich bin Wilhelm Feist, Immobilienmakler, Mitglied im Harzklub. Auf Bitten des Ratsherrn der zuständige Ansprechpartner, Ihr Führer durch den Harzer Mythendschungel.«

»Korrekt! Ihre Annahme stimmt.« Dem folgte sein stummes Lächeln. »Ich würde heute besser schlafen, wenn unsere Verabredung mir weiterhilft. Verehrter Herr Feist, trinken wir einen Kaffee zusammen? Kommen Sie. Setzen Sie sich.«

Die Antwort erstaunte ihn.

»Habe ich Ihre Erlaubnis, das da zu sehen?«, tippte der Begleiter mit dem Finger in Richtung der Ausbeulung unter der Sommerjacke.

Lorenz grinste unverhohlen. »Was ist derart wissenswert? Bin ich bekleckert, ein Kaffeefleck? Ist ja ein merkwürdiger Empfang.«

»Äh, äh, Verzeihung. Hab niemals eine richtige Polizeikanone in der Praxis gesehen. Ich frage mich, ob das die Gelegenheit ist. Problem damit?«

»Nein! Bin gespannt, wie Sie die Antwort interpretieren. Wenn die Waffe hilft, Gefahr von mir abzuwenden, beflügelt das aus Ihrer Sicht Zufriedenheit? Ergo, in fremde Hände geben funktioniert nicht. Die Pistole ist wie eine Lady, auf Befingern reagiert sie kopflos.«

»Klar. Akzeptiert!«

Irritiert fuhr sich Wilhelm Feist über das dünne Kopfhaar. Die Gesichtshaut wechselte innerhalb von Sekunden die Farbe. Aschfahl zeigte sie sich grade.

»Verzeihung, hab mich blöd benommen. Bitte, das bleibt hoffentlich unter uns, Herr Oberkommissar.«

»Hmm, hab es dauerhaft zurückgedrängt. Scheiß Idee, Ihr Interesse. Okay, beschließen wir das Thema. Auf jeden Fall ist das Vorkommnis an der Teufelsbrücke ein unheilvolles Omen. Ohne Aufsehen gerät die Sache nicht in Vergessenheit.«

»Diese Vorstellung trage ich mit, Herr Lorenz. Hier ist mein Vorschlag. Sie hatten einen langen Weg in den Harz. Wechseln wir den Gesprächsort. Es ist heiß. Bitte folgen Sie mir. Der Weg da hinten rund um die Skulpturen ist entspannend. Die Wasserspiele bringen Abkühlung.« Zugleich wies er mit einer Hand in diese Richtung, um fortzufahren: »Ich hoffe, Sie nicht zu überfordern. Schauen Sie.«

Lorenz verzog die Lippen. Er begriff nicht, warum sich dieser Wilhelm hinter einer Fassade versteckte. Wovor, das blieb ein Rätsel. Zumal sie sich nicht kannten. »Vorsicht!«, zischte er denkbar knapp. »Das ist nicht grade cool.«

»Was ist los?«, hob der Gastgeber an, um zugleich fassungslos die Luft auszustoßen. »Ich beabsichtige, Ihnen nichts anderes als die nackte Schönheit der Figuren aus der germanischen Götterwelt nahebringen. Die könnten Teil der Recherchen sein. Vergessen? Sie verweilen auf dem Boden einer Harzer Mythenstadt.«

Lorenz guckte erstaunt auf. »Ist das denn nicht gewollt? Droht uns hier Gefahr? Von dem imposanten Kerl mit dem Speer dort drüben?«

»Nein, um Himmels willen, das ist Wotan, der höchste Germanengott«, traf ihn unbekümmertes Lachen. »Leisten wir ihm Gesellschaft. Er trinkt aus dem Brunnen der Weisheit, die Zukunft vorhersagend. Ein Grund, wie mir scheint, dem Harz einen Besuch abzustatten. Liege ich falsch?«

»Sie haben akkurat den Punkt getroffen«, fuhr es knapp aus seinem Mund. »Herr Feist, wenn ich des Philosophierens wegen angereist bin, würde ich es Sie wissen lassen. Klar?«

»Hmm, Pech, das nennt man angearscht. Hab ich verdient, den Tadel.« Er wandte den Blick ab, schien ins Leere zu starren. Mit gesenktem Kopf fuhr er in bewusst demütigem Ton fort: »Nochmals, äh, äh, äh, tut mir leid«, krächzte er hustend.

Lorenz lachte. »Sie sind ein komischer Kauz. Das die Knarre eine solche Anziehungskraft hat, gottverdammt, ist mir partout nicht bewusst. Sie haben´s versucht. Strich drunter. Erklären Sie mir, wie es sich mit den Proportionen der Skulptur verhält. Wo bleibt das Geheimnisumwobene? Was hat es mit dem gigantischen Kerl auf sich?«

»Sie sprechen von Wotan mit dem Speer?«

»Ja! Das sind Ihre Worte.«

Feist zuckte die Achsel. »Klingt erhellend. Hab das nie in der Form betrachtet. Ich frage Sie, sind Sie denn bereit, dafür ein Opfer zu bringen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Symbolisch! Wotan gab ein Auge. Sind Sie ebenfalls für einen solchen Schritt aufgeschlossen?«, versuchte er schmunzelnd den Blick des Kripobeamten einzufangen. Der zeigte sich baff, im gewissen Sinne vom Ansturm der Worte überfordert. Hinzu kam das Gefühl, dass sich Feist auf unerklärliche Art versteckte. Die Angst, dass er dem auf die Spur kam, erzeugte einen erbärmlichen Gestank. Der Gedanke verlor sich abrupt, weil sein Gastgeber grade sagte: »Oberkommissar, ich bin der Auffassung, Sie bedürfen dringend der beiden Raben Hugin und Munin. Die Vögel berichten der Legende nach mit ihren täglichen Erkundungsflügen über das Geschehen in der Welt.« Er sah auf, grinste frech und redete weiter. »Ich helfe, soweit es mir machbar erscheint. Staunen Sie! Es verwundert mich nicht, wenn Sie erschrocken um Rat bitten und beten, um abschließend dem Fest der Verbrüderung zu frönen. Habe ich den Nerv getroffen?«, sprudelte es aus ihm in einer Art Befreiungsschlag heraus.

»Oh Gott, was war das denn? Eine Überraschung wie ein Picknick im Grünen?«, lachte Lorenz entspannt auf. »Das ist eine dummdreiste Vorstellung. Wer hat Ihnen die eingeflüstert? Poesie ist nicht meine Sache. Mich reizt, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Skelett und dem Vermissten gibt. Wie sehen Sie das? Wen suche ich? Einen Mörder? Oder hat sich derjenige aus freien Stücken aus dem Leben gestohlen?«

»Entschuldigung, Oberkommissar, wenn ich Sie bedrängt habe. Setzen wir unseren Disput im Rathaus fort. Der Bürgermeister erwartet Sie. Meine Aufgabe ist es, die Harzstadt zu vertreten. Nebenbei bemerkt, die Raben sind auf eine gewisse Art eingenordet. Dutzende verbundene Seelen sind aufgefordert, Informationen zu beschaffen. Das ist, zumindest symbolisch betrachtet, ihre Passion. Spaß beiseite, sehen Sie sich um. Kommen Sie! Den Mörder finden Sie früh genug. Ich verspreche Ihnen, es Sie wissen zu lassen, wenn die Raben mir was soufflieren.«

Lorenz strich sich mit der Hand über das Gesicht. War das ein Signal dafür, sein aufgebauschtes Gehabe wegzuwischen? Nein, zumindest verschaffte es ihm Millisekunden des Nachdenkens. Der Gastgeber schob sich grade ins rechte Licht. Er buhlte um seine Gunst. Die Herausforderung erforderte eine Reaktion.

»Ist ein weiser Spruch. Fangen wir mit dem ersten Schritt an. Greifen Sie zu. Meine Hilfe kostet nichts«, sagte er mit den Achseln zuckend. Stracks schob er nach. »Alleingang hat keinen Sinn. Die Alteingesessenen legen Wert auf eine effiziente Vernetzung. Zum gegenseitigen Vorteil, egal ob sie in irgendeiner Form gläubig oder Freidenker sind. Sie geben nichts preis ohne speziellen Grund, Herr Lorenz.«

Der sah in ein Gesicht, das einer undurchdringlichen Maske ähnelte. Darin fuhr der Mund unablässig fort zu reden.

»Wissen Sie, es ist Zeit, zu akzeptieren, weshalb Sie mich zum Bürgermeister begleiten. Ich bin hierher gereist, um Ihr Städtchen von einem üblen Omen zu befreien. Meine Ausbildung hilft mir, Täter zu entlarven. Das biete ich Ihnen an. Hilfe anzunehmen betrachte ich, wie ein Geschenk zu beanspruchen. Mit Anstand und Würde. Hätte ich einen Wunsch offen, beträfe der die Entscheidung, hier zu leben. Dafür gäbe ich alles, was Ihnen jeden Tag zufliegt.«

»Sie scheinen ein prima Kerl zu sein. Egal. Ich hätte mit einer wärmeren Begrüßung gerechnet. Ein gemeinsames Bekenntnis zum Beispiel. Vorschlag, erlauben Sie mir, Sie mit Ihrem Namen anzusprechen? Ehe ich jedes Mal Kriminaloberkommissar ausspreche, ist Weihnachten.«

»Einverstanden! Der bloße Dienstgrad bringt keinerlei Erkenntnisfortschritte.«

»Danke! Egal was passiert, weihen Sie mich und die Kameraden rechtzeitig ein. Unterm Strich haben wir alle einen untadeligen Ruf zu verlieren.«

»Sie haben es drauf, Spannung zu erzeugen«, gab Lorenz Minuten später beim Gang ins Rathaus eine Erklärung ab. »Überraschen Sie mich.«

Das trat mit der Präzision eines Uhrwerks ein. Das Räderwerk schaltete zugleich den höchsten Repräsentanten zu.

»Schlau eingefädelt, mein Gott«, schüttelte Lorenz den Kopf. Er grinste und behielt für sich, was er nicht auszusprechen gedachte: »Für mich nicht ausgekocht genug! Dieser Wilhelm ist mir unsympathisch. Schleim trieft aus ihm heraus. Ich werde ihn in die Enge treiben.«

Er hatte das Gefühl, dass Feist Teil dieses von ihm kreierten Netzwerkes war. Der beste Weg, ihn zu überführen, würde sich öffnen, wenn er sich dem Kult anschloss, um ihn von innen heraus zu sprengen. Verlockung pur, von der eine enorme Anziehungskraft ausging. Sie brachte die Entscheidung, Feist wie einen Rammbock zu benutzen. Eine unsagbare Erregung verbreitete sich mit diesem Gedanken. Sie beinhaltete die Lösung des Rätsels innerhalb eines Geheimnisses. Ein Privatkrieg, eine Verschwörung lag im Reich des Möglichen. Zu weiteren Überlegungen reichte die Zeit nicht, denn der Bürgermeister begrüßte ihn mit hartem Handschlag.

»Willkommen Herr Kriminaloberkommissar!«, sagte ein flott daherkommender, geringfügig fülliger Mittvierziger. Gutherzige, dunkelbraune Augen schauten in sein Gesicht. »Ergreifen Sie meine Hand. Ich bin zuversichtlich, mit Ihrer Hilfe dem Verbrechen auf die Spur zu kommen. Bitte, setzen Sie sich. Sie haben die Raben aufgesucht. Das lässt sich nicht verheimlichen. Um Sie bei der Informationsbeschaffung zu unterstützen, dafür sind wir angetreten.« Er erhob sich, zeigte mit einem Lächeln auf zwei Personen in der Tischrunde. »Das hier ist der Chef der Bergwacht, dort mein Pressesprecher, Herr Steiner. Ansonsten sind wir bestens mit der hiesigen Feuerwehr vernetzt. Schön, dass ich Sie als Vertreter der Polizeidirektion begrüßen darf. Ich hörte, es war ihr Wunsch, zunächst mit den Stadtvertretern zu sprechen. Das ist eine gute Idee. Sie können jede Menge Unterstützer gebrauchen, um dem Geheimnis im Bodetal auf die Spur zu kommen.«

Gesichter voller Erwartung sahen ihn an. Die Hand auf den Griff der P6 im Holster erhob er sich. Aufmerksame Augen verfolgten die Geste. Lorenz ließ keine Zeit verstreichen. Betont trocken sagte er: »Ich verstehe! Der Job verlangt von mir, eine Identität zu klären. Die Frage bedarf der Klärung, ob im Zusammenhang mit dem Fund ein Verbrechen vorliegt. Wäre ein Unfall vorstellbar? Ist es möglich, dass ein Wanderführer in der unwegsamen Bergwelt vom Weg abkommt. Ein krankheitsbedingter Sturz ist ebenso nicht ausgeschlossen.«

»Unwahrscheinlich, Herr Lorenz.«

»Bitte, was spricht dagegen? Bedenken Sie. Das reißende Wasser, Geröll und Tierfraß haben den Körper arg geschädigt. Zum Glück fanden unsere Spezialisten auswertbare Spuren, die Schlüsse zur Person zulassen. Eine Reihe von Fragen bleiben auf jeden Fall offen.«

»Welche, Oberkommissar?«, meldete sich der Pressesprecher. »Was erwarten Sie vom Team an diesem Tisch?«

»Eine berechtigte Frage, meine ich. Die Antwort darauf klingt eine Kleinigkeit theoretisch. Habe ich dennoch Ihre Aufmerksamkeit?«

»Legen Sie los. Die Kripo beehrt unser Haus nicht jeden Tag.«

»Okay, Ihr Wunsch. Die Aussage hört sich nüchtern an. Seien Sie nicht geknickt. Es stimmt. Das Landeskriminalamt in Magdeburg beauftragte mich mit der Aufklärung des Falls. Ich bin der Tatortgruppe zugeordnet. Mein Job besteht in der Unterstützung der Kollegen von der hiesigen Polizeidirektion. Es ist Sommer, Urlaubszeit. Ich leiste bei der Zuordnung erkennungsdienstlicher Aufgaben Hilfestellung.«

»Entschuldigung, Sie sind ein Ausputzer? Ich war der Auffassung, wir brauchen hier Spezialisten. Von dem Toten in der Bode existiert ja weiter nichts als ein paar Knochen. Der Kopf fehlt. Was gibt es denn da zu ermitteln?«, presste Steiner giftig raus.

Automatisch füllte sich die Raumluft mit Spannung. Winzige, elektrisch geladene Teilchen ließen die angewärmte Luft knistern.

»Meine Herren, Anspannung ist fehl am Platze. Sind wir einer Meinung?«, griff Lorenz in den Disput ein. »Sie sind Pressesprecher, stimmt’s? Sehen Sie, das Fest kommt gerade erst ins Rollen. Wir tanzen gemeinsam in einem Kreis voller Unbekannter, fern jeglichen lautstarken Beifalls.«

»Bei Gott, Herr Lorenz, ich versichere Ihnen ...«, nickte der bedeutsam. »Bei all dem, das ist wundersam«, rief er aus, in dem Bemühen, seine Stimme erschrocken klingen zu lassen. »Erklären Sie, was uns den Atem anhalten lässt. Das hier riecht nach Geheimnissen.«

»Hmm, Sie springen ungeprüft in den Teich der Gerüchteküche. Dachte ich mir’s. Typisch Journalist!«

Er hielt kurz inne, sah den Herrn an, um festzustellen, dass der sich durch sein Aussehen von den Teilnehmern der Runde abhob. Die angestaute Wut ließ sich nicht verheimlichen. Zumindest erklärte das dieses verdammte ständige Zusammenziehen der Pupillen, was die Iris vergrößerte. Dadurch erschienen die graublauen Augen leuchtender, was auf solcherart Emotionslage hinwies. Das verlieh ihm im Übrigen einen vorteilhaften Touch. Mit seinem gebräunten Teint und dem dunkelblonden Haar gehörte er ohnehin zu den gutaussehenden Menschen. Er sah jünger aus und setzte sich dadurch von den Teilnehmern der Tischrunde ab. Die saßen erstarrt auf den Stühlen. Wie angeschmiedet, unfähig zu reden. Diesem einschneidenden Erlebnis entzog sich niemand. Es war die verwegene Art, mit der er Probleme zu lösen anging. Nicht die des vertrauten Trottes, wie in Stadtratsversammlungen üblich.

Lorenz grinste. »Ich bin kein Gespenst, vielmehr jemand aus Fleisch und Blut, einem Hirn, dem Gefühle entspringen. Sie entschuldigen mein Aufbäumen. Wachrütteln ist angebrachter. Bitte, Herr Steiner, für wie blöd halten Sie mich? Ich hoffe, Sie brechen keinen Streit vom Zaun. Am besten scheint mir, Sie aus der Höhle der Unvernunft zu befreien. Seien Sie nicht das Arschloch in Ihrer eigenen, wundersamen Welt. Wir sind quitt, was den Ausputzer betrifft.«

Der Bürgermeister ließ die paradoxen Gedanken auslaufen. Ein paar Sekunden Verschnaufpause vergingen.

»Hmm, das war erhellend. Ich hab Sie ausreden lassen, um den Frust in eine Richtung zu lenken. Sowas gab es in dieser Oase der Vernunft bisher nicht. Ihre Empfindungen wie ein Heilmittel einzusetzen, alle Achtung, cool! Herr Lorenz, das genügt. Belassen Sie es dabei. Der Polizeichef hat uns um Hilfe gebeten. Hier sitzt ein bevorrechtetes Gremium in Warteposition. Sie sind dran. Ich bitte Sie, Ihren Vortrag fortzusetzen. Unser Wohlwollen gehört Ihnen.«

Das war der Zeitpunkt für Einsicht. Der Bürgermeister hatte dafür gesorgt, dass ihm niemand mehr was vormachen würde. Der erste Sieg. Diesen Augenblick zu nutzen, gebot die Vernunft. Er stieg darauf ein. Und Tatsache, die Augen und Münder der Gefolgsleute passten sich ihm jedes Wort verschlingend an. Lorenz sprach in den Raum hinein, bemüht, die Teilnehmer zu einer Aussage zu bewegen.

»Ich bemühe mich, den Blick für den Job des Kriminalisten zu öffnen. In diesem Fall arbeite ich eng mit den Spezialisten vom Bundeskriminalamt zusammen. Hierbei dreht es sich vor allem um die sichere Identifizierung der Personen im Tathergang. Reicht das?«

»Nein! Ist mir zu allgemein«, erklärte sich der Bergwachtchef.

»War das ein Todessturz von den Felswänden im Bodetal? Ein Unfall? Der vermisste Erich ist es garantiert nicht. Der Wanderführer gehört zu den absoluten Kennern der Materie.«

Mit eiskaltem Blick in den Augen mischte sich Wilhelm Feist ein.

»Entschuldigung! Die Wahrheit besteht meiner Ansicht darin, dass bisher nichts passiert ist, was die Aufklärung erhellt. Na ja, abgesehen vom Auffinden der Skelettreste durch Wanderer.«

»Und die Bergung durch örtliche Polizeikräfte?«, schloss sich der Pressesprecher fragend an. »Was meinen Sie, Oberkommissar, liegt hier ein Verbrechen vor? Handelt es sich bei dem Knochenfund um den Vermissten?«

»Sie haben den wunden Punkt getroffen. Jede Menge Fragen, deren Antworten wir im Moment nicht kennen. Darum sitze ich hier. Geben Sie mir ausreichend Input. Sie heben den Herrgott in den Himmel, verfügen auf der anderen Seite über schmalbrüstiges Wissen. Ist ja komisch!«

Sein Gegenüber übernahm die Antwort mit einem Scherz. »Meine Erfahrungen im Bergrettungsdienst stelle ich gern bereit, wenn es das Wohlergehen von Menschen betrifft. Bitte, ich fange bei Ihnen an. Zeigen Sie mir Ihre Schuhe«, sagte er breit lächelnd.

Stumm zählte Lorenz die Sekunden. Eins. Zwei. Drei ... da traf ihn eine schnippisch-ernüchternde Antwort.

»Na hoffentlich halten Sie im Gepäck brauchbare Wanderschuhe bereit. Die Fundstelle ist mit PKW nicht erreichbar. Zu Fuß ist angesagt. Leider auf einem spärlich ausgebauten Wanderweg. Nix von Gefahr, dagegen Aufmerksamkeit einfordernd. Der führt auf der rechten Seite des Bodeufers entlang. Endstation ist der Bodekessel nahe der Teufelsbrücke. Von Interesse ist das erst, wenn Sie bei Ihrer Version bleiben: tragischer Unfalltod oder Selbstmord. Scheidet beides aus, haben wir ein echtes Problem. Angenommen, dem Erich Feist saß einer der Getreuen im Nacken, spitzt sich die Lage zu. Ein Glaubensstreit ist der einzige Grund für eine interne Auseinandersetzung.«

»Weil?«

»Ist ja den meisten ansässigen Personen in der Region bekannt. Der Erich war über Jahrzehnte Chef der ortsansässigen Glaubensgemeinschaft. Er hat die Menschen missioniert, um sie auf die Gottergebenheit der Sekte einzuschwören. Erst der grausige Selbstmord seines Sohnes im Stahlwerk hat ihn gebrochen. Der Junge war dort Ingenieur.«

Lorenz stand kurz davor zu explodieren. Ungläubig fragte er: »Wieso, in Gottes Namen, leiern Sie das emotionslos herunter?« Seine Augen blitzten gefährlich auf. »Was stimmt nicht mit dem Herrn? Ist es richtig, dass er den Job eines religiösen Anführers mit dem des Harzer Wanderführers eingetauscht hat? Trägt diese Überlegung ebenfalls seine Enkelin?«

Abrupt endete er. Für Sekunden herrschte Schweigen. Lorenz unterbrach die Stille und fuhr gelassen fort.

»Das ist alles, verehrte Herren? Ich bin auf die drei Kilometer vom Ortskern bis an den Fundort vorbereitet. Schauen Sie«, reagierte er aus der Lage heraus. Er hob ein Bein an. »Da, festes Schuhwerk, reicht das?«, entwickelte sich sein Grinsen zu einem lauthalsen Lachen. »Es gibt ausreichend Urlaubslektüre, um den Harz zu erwandern. Wenn ich mich nicht täusche, ist das ein durchgehend befestigter Weg.«

Das Feixen der Teilnehmer überstieg auf Anhieb alle anderen Geräusche. »Angeschmiert, Jürgen«, hob Pressesprecher Steiner an. »Sagte ich ja, du wirst dich blamieren. Reize den Beamten nicht.«

Der Bürgermeister erhob sich zwischenzeitlich. Lorenz sah darin einen taktischen Zug, um die Lage zu entspannen.

»Kommen Sie bitte hierher ans Fenster. Den Herren ist es nicht gelungen, Sie einzuschüchtern. Freut mich. Das verzapfen die hauptsächlich, wenn Fremde in unser Reich eindringen.« Er nickte spielend mit dem Kopf in Richtung des Brunnens. »Sehen Sie, Wotan beschützt uns. Wir vertrauen auf seinen imposanten Speer in der Hand. Diesen Anspruch übertragen wir ebenfalls auf Sie und Ihre Kollegen. In diesem Sinne. Trinken wir Kaffee, einverstanden?«, fragte er. Im selben Moment griff er zum Telefonhörer der Haussprechanlage, um den bei der Sekretärin anzufordern. »Ach bitte, die rote Keramikdose mit den Keksen nicht vergessen«, folgte im Nachsatz.

Lorenz nutzte die Chance, um die Stille zu durchbrechen. »Ich beabsichtige keinerlei Schuldzuweisung, verehrte Herren, denn ich habe einen Ruf zu verlieren. Der verbindet sich logischerweise mit dem LKA. Legen wir die Fakten auf den Tisch. Ihr sagenumwobener Landstrich verdient das«, traf auf verblüffende Gesichter. »Fragen Sie mich, was ich sehe. Die Antwort lautet: Ein Flussbett, wo das Wasser zu kochen scheint. Die in die Tiefe gerissene Luft schäumt perlend wieder auf. Über der Bode reflektieren kleinste Wassertröpfchen. Das sind die Edelsteine im Harz, antworten Sie mir gleich verklärend. Dem halte ich nichts entgegen. Wenngleich mittendrin der Tod lauert. Die Frage ist, wie kam der an diesen Ort?«

Ein Raunen war deutlich hörbar. Die Anwesenden saßen konzentriert am Konferenztisch. Niemand schien die Ruhe durchbrechen zu wollen. Bis sie der Weckruf des Beamten traf.

»Was sieht der erfahrene Ranger? Massen an Touristen. Die spazieren vom Gasthaus Königsruhe zur Teufelsbrücke, den Bodekessel, bis tief in die Felsschlucht des Harzgebirges hinein. Ich frage Sie allen Ernstes: Einhundert Kilometer Harzer Hexenstieg, was vermitteln die uns? Sind die Augen und Ohren der Mitglieder in den Verbänden der Harzregion verschlossen? Nein, sagen Sie? Das glaube ich nicht. Da badet kein Mensch bei der sommerlichen Hitze in den Fluten der Bode? Ist ja ein Witz. Verbotene Kletterei und Abstürze in den Felsschluchten der Region sind ebenfalls nicht bekannt. Hmm, was ist mit dem vermissten Wanderführer? Wann hat ihn letztmalig jemand gesehen? Wer und wo? Sieht sich die Stadt in der Pflicht?«

»Moralisch betrachtet, ja! Weil das Team hier am Tisch den Erich bestens kennt«, kam halbwegs gehemmt über die Lippen des Chefs der Bergwacht. Er richtete den Blick auf den Nebenmann aus. »Bitte Wilhelm, erkläre du das.«

»Gern, wenn das jemand wünscht«, sagte er auf eine Antwort wartend. »Ja«, schob Holger Steiner dazwischen. »Ich rate, zügele deinen Eifer für den Herrgott. Der Kriminalbeamte dankt es dir. Ah, Entschuldigung, das ist unfair von mir.«

»Meine Herren. Rumfrotzeln bringt nichts. Das haben wir nicht nötig. Gebt euer Wissen weiter. Die Lage ist heikel. Erich Feist war ein hochbetagter Mensch. Dass die sterblichen Überreste einen Hinweis auf ihn liefern, ist im Moment Spekulation. Keine Ahnung, ob die Galionsfigur im Sagenharz einem Verbrechen zum Opfer fiel. Ich versichere, die Ratsmannschaft trägt zur umfassenden Aufklärung bei. Versprochen!«

»Ja«, fuhr Lorenz geistesgegenwärtig fort. »Das ist der einzig brauchbare Ansatz. Hand in Hand mit der Polizei vorzugehen. Die Lage zwingt uns zur Ordnung. Kommen wir alle wieder runter auf den Teppich. Bürgermeister, bitte übernehmen Sie das.«

»Entschuldigung, wir sind abgedriftet. Emotionen, Sie übersehen das besser. Unser friedvolles Städtchen zu schützen, ist heilig. Zeit für den Profi«, wandte der sich an den KOK.

»Üben Sie Nachsicht«, schob Wilhelm Feist, ohne abzuwarten, in die Tischrunde hinein. »Ich hätte eine Frage an den Kriminalisten. Wie stelle ich mir heute eine Identifizierung vor? Technisch betrachtet, meine ich.«

»Das zu erklären erfordert einen langen Atem. Ich versuch`s. Zuerst danke ich für den unbeabsichtigten Hinweis. Sie haben mich da auf eine Fährte gebracht.«

»Oberkommissar, auf welche? Bitte lassen Sie uns teilhaben.«

»Okay. Aus meiner Sicht ist es notwendig, beide Vorgänge zusammenzuführen. Erich Feist, Ihr hochgelobter Wanderführer, hatte jeden Grund zu leben. Leider liegt keine Spurenlage vor, die auf ein Gewaltverbrechen hinweist.«

»Was passiert da, Herr Lorenz? Dass ich nicht lache«, kam es von Steiner zurück. In seine Stimme hatte er angestaute Wut hineingezwängt. »Das ist der ganze Kommentar? Wenn die paar Knochen eine Identität erhalten haben, war’s das?«

»Nein! Der Reihe nach, bitte. Meine Herren, Sie baten um eine Aussage zur technischen Betrachtung des Vorgangs. Zum Verständnis, ich spreche von einem hochkomplexen Verfahren. Es liefert dem LKA Anhaltspunkte zum möglichen Tathergang. Das Ganze nennt sich Fingerabdruck-Identifizierungs-System. Kurz: AFIS.«

»Oha, das klingt nach einem hochfliegenden Begriff«, mischte sich der Pressesprecher ein.

»Ihre Antwort zeugt von Skepsis, Herr Steiner. Von mir aus nennen Sie es so. Geben Sie mir die Chance, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Schauen Sie, Wissenschaft, Erfahrung und Bauchgefühl treffen aufeinander. Hochleistungsdatenbanken erfassen die biometrischen Charakteristika einer Person. Es kommt zum Vergleich vorhandener und neuer Datensätze. Diese Methode stellt eine beträchtliche Erleichterung für die Strafverfolgung dar. Es ist kein Hexenzeug, auf dem die Harzlegenden aufbauen. Reicht meine Aussage?«

»Nein, Herr Lorenz. Die Leichenteile unterlagen lange dem Einfluss der Naturgewalten. Wie funktioniert denn das mit der Druckerschwärze an den Fingerkuppen? Da sind keine Abdrücke mehr brauchbar«, reagierte Jürgen aufgeregt.

»Bleiben Sie locker, bitte. Die Spurenlage ist momentan katastrophal. Das Wasser hat über Wochen an dem Körper gezehrt, ihn ausgelaugt. Die Frage ist berechtigt. Die Natur zerstört die organische Struktur allmählich. Das schließt alles Mögliche ein.«

»Ist die Kripo da nicht außer sich vor Wut?«, schob Wilhelm Feist fragend hinterher.

Lorenz nickte. »In gewisser Weise haben Sie recht. Wo liegt darin für Sie das Problem? Scheinbar hören alle nicht zu, wenn man ihnen was sagt.« Er atmete hörbar aus. »Kommen wir auf den Punkt, meine Herren. Sie haben mir Ihre Hilfe angeboten. Das erfordert, darüber zu sprechen, welche Art von Informationen mir helfen. Um das Thema Spurensicherung halbwegs abzuschließen, verweise ich auf Beiträge im Internet. Dort finden Sie den Begriff Live-Scan-Technologie. Lesen Sie es nach! Das besser zu erklären, gelingt mir nicht.«

»Klingt sperrig, überkompliziert, Herr Lorenz. Erzählen Sie den Rest. Obwohl ich zugebe, davon bisher keine Kenntnis zu haben«, griff Steiner erneut ins Gespräch ein. Er wandte sich an Feist. »Wilhelm, wechsle den Job. Mit diesem Wissen brauchen wir den Oberkommissar nicht«, lachte er ein heiser klingendes ha, ha, ha.

Lorenz’ Miene blieb unerforschlich. »Hmm, je nachdem, wie man die Sache betrachtet. Ernsthaft, was bringt das«, erklärte er kampfbereit. »Ich führe hier nicht irgendwelche Tests durch. Was den Toten in der Bode betrifft, wir sind zu spät gekommen. Der Teufel hat ihn freigegeben. Zumindest, was von dem armen Menschen übrig blieb.«

»Ist ja nicht von der Hand zu weisen«, stimmte Wilhelm Feist mit frostiger Miene ein.

»Meine Herren. Unbeabsichtigt sind eine Reihe von Emotionen hochgekocht. Ordnen wir uns dem Teamgeist unter. Unsere Stadt braucht einen makellosen Tourismus. Die Todesursache der Person aufzuklären ist Arbeit für Spezialisten. Sie sind ebenfalls in Ihren Jobs im Rathaus Profis. Als Ihr Bürgermeister stehe ich mit meinem Wort an der Seite der Ermittlungsbehörden. Enttäuschen Sie mich nicht.«

»Stimmt! Entschuldigen Sie bitte, Herr Lorenz. Jeder leistet den Teil in der Gesellschaft, wofür ihn Gott auserwählte. Es sei Ihnen versichert, wir sehen das im Kreis meiner Glaubensbrüder in besagter Art«, endete Feist.

»Okay! Fragen an mich?«, nickte Lorenz in den Raum hinein.

»Nein, Vorschlag: Wilhelms Worte lassen wir mal so stehen. Sie erlauben«, setzte Steiner den Gedanken fort.

»Einverstanden! Aus Sicht der Kripo halte ich es für erforderlich, unser Thema zur Identifikation von Personen abzuschließen. Sie löchern mich sonst weiterhin. Ich habe hier einen Toten und einen Vermissten. Schauen Sie sich das an«, sagte Lorenz schmunzelnd. »Das Material hier verschafft eine Menge Einsichten und hält sicher auch die eine oder andere Überraschung parat. Der Blick für die Verbrechensaufklärung schärft sich.«

»Das sagen Sie. Ich sehe einen Berg Statistik, ineinander verschlungene Linien«, verzog Steiner den Mund zu einem eher quälenden Grinsen.

»Schade«, konterte Lorenz. »Zu meiner Verteidigung. Ich hab nicht erwartet, dass Sie mit geschwollener Brust am Tisch sitzen.«

»Wieso das denn?«

»Weil Sie grade Ihre erste Erfahrung mit dem Verlauf von Papillarlinien einfahren. Das trifft logischerweise auf die anderen Herren genauso zu.« Bewusst richtete er den Blick auf den Bürgermeister. »Mir ist klar, Sie sind Jurist, ein Papiermensch, kein Ermittler. Was ich davon ableite, ist reines Handwerkszeug. Geben Sie mir ein paar Minuten zur Erklärung, meine Herren«.

Der Rathauschef unterbrach sein Stimmungshoch. »Sie haben sich bemüht. Oberkommissar, das reicht aus, sonst führen die Details zur Verwirrung.«

»Danke«, sagte er. Schlagartig war ihm die Dringlichkeit der Lage wieder bewusst. Unterstützer zu generieren, darum war er hier. »Konzentriere dich auf die Mission«, hämmerte es im Hirn. Die Stimme im Kopf leitete ihn an. Sie versuchte, ihm zu sagen, seine Gefühle zu ordnen und die Konsequenzen der Feststellung zu begreifen. Er beanspruchte drei oder vier Sekunden, um sich einen Ruck zu geben. Die Zeit reichte, die glänzenden Pupillen der anderen Gesprächsteilnehmer am Tisch zu erfassen. Begierig auf Sensationen hingen sie an seinen Lippen. Lorenz gewahrte, dass seine Haut vor Anspannung kribbelte. Den richtigen Ton zu treffen, darauf kam es an. »Hören Sie! Ich bin Tatortermittler und damit ein Erfüllungsgehilfe der modernen forensischen Wissenschaft. Erst sie bietet realitätsechte Rezepte zur Identifizierung sterblicher Überreste.«

»Was heißt das konkret, Herr Lorenz?«, traf ihn die Frage des Pressesprechers.

»Sie kennen die Antwort. Mein Handeln als Kriminalist basiert auf sittlichen und moralischen Grundsätzen. Das versuche ich zu vermitteln. Wenn Menschen sterben, begegnen wir ihnen mit Respekt und Würde. Ich bin sicher, unsere Forensiker lassen sich davon leiten. Wir sind dicht dran, die DNA und weitere anatomische Merkmale aufzuschließen. Seien Sie versichert, dem Skelett entreißen wir sein Geheimnis. Das verspreche ich. Sie erfahren rechtzeitig, wenn das kriminaltechnische Gutachten vorliegt.«

Gerötete Gesichter, die an seinen Lippen hingen, ließen seine Haut kribbeln. Die Anspannung war echt. Er hatte den Job des Kriminalisten mit ein paar Sätzen bestens verkauft. Aus scheinbar unerfindlichen Gründen, wie es aussah.

»Erlauben Sie mir, unsere Zusammenkunft für eine Erklärung zu nutzen«, wandte er sich an den Rathauschef.

Der reagierte sofort. »Meine Herren, mit deutlichen Worten ausgedrückt: Der Jurist meint, das da an der Teufelsbrücke ist Ekel erregend, grauenhaft. Mit der Stadt der Mythen hat das nichts am Hut. Bedenken wir. Der Teufel über der Brücke ist ein hausbackenes Produkt. Geschaffen für einen florierenden Tourismus. Ein Symbol der visualisierten germanischen Götterwelt. Wir bestimmen, wann er Ausgang erhält. Bekannterweise an den Festlichkeiten rund um Walpurgis. Herr Lorenz ist hier, damit das Ansehen der aufblühenden Touristenstadt nicht weiter aus dem Gleichgewicht gerät.« Vor Aufregung rutschte ihm über die Lippen: »Uff, ist eine anstrengende Rede. In diesem Augenblick ist sie raus, bin erleichtert. Zur DNA ein paar Gedanken. Wissen Sie, Herr Lorenz, das Allgemeinwissen des Juristen sagt mir, wir sprechen vom Träger der menschlichen Erbsubstanz. Dass die Spezialisten vom LKA das zu ermitteln versuchen, stimmt mich für die Lösung des Falls zuversichtlich. Geben Sie einen abschließenden Kommentar ab?«

»Ja, kurz. Solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, gibt es keine Preisgabe von Details. Ich telefoniere heute mit den zuständigen Beamten beim Bundeskriminalamt. Es ist denkbar, dass die Datenbank nichts von Wert ausspuckt. Die Erfahrung verlangt, Vergleichsmaterial zu beschaffen. Wie gesagt, jede Hilfe ist willkommen.«

»Oh ja. Da bin ich sicher«, meinte Wilhelm Feist. »Eine Chance sehe ich darin, unsere Mitglieder vom Harzklub zu mobilisieren. Der Fokus liegt auf der Suche nach Erich. Ist für mich naheliegend. Er war mein Onkel. Ein Mensch mit positiven Seiten und Fehlern. Mit ihm verschwunden ist seine Warmherzigkeit.«

»Die Zeit ist reif, um die Signale zum letzten Aufenthalt zu bündeln. Korrekt, hier setze ich auf die Kraft der Gemeinschaft«, unterbrach Lorenz.

»Leider wissen wir das nicht«, plapperte Steiner los.

»He Holger, bleib cool, das klärt sich. Da passt meine Frage«, setzte Wilhelm an. Um dem mehr Gewicht zu geben, erhob er sich. Ihm war nicht bewusst, dass seine Worte unter diesen Umständen einen hölzernen Eindruck hinterließen.

»Äh, ach ja, Oberkommissar, sagen Sie, wie verbindlich ist die Erwartung, dass es sich bei dem Skelett um den Vermissten handelt? Wie realistisch ist ein solcher Fall?«

»Beantworten Sie die Frage für sich.«

»Pardon. Ich beabsichtige nicht, Sie anzugreifen. Mein Onkel ist ein 86-jähriger Herr. Körperlich recht ordentlich gestählt. Sonst hätte er den Freizeitjob des Wanderführers nicht ausgeübt. Eine feste Größe im Harzklub. Der hatte garantiert keine Feinde.«

»Sie sagen das mit Bestimmtheit. Woher beziehen Sie Ihr Wissen?«

»Wilhelm, erklär´s dem Beamten«, protestierte der Chef der Bergwacht. »Das ist die klügere Wahl. Erzähl ihm von der Verwandtschaft.«

»Ich höre zu, Herr Feist, bitte sprechen Sie.«

»Sie haben ohne mein Zutun eh Kenntnis von der familiären Bindung. Die Anzeige hat Cousine Evelyn aufgegeben. Wir haben die Kinderjahre gemeinsam in einer Glaubensgemeinschaft verbracht. Erich war für uns die Stimme Gottes.«

»Komm Wilhelm, leg was oben drauf«, traf ihn Steiners Einwurf.

Dafür erhielt der eine Abfuhr. Die zusammengekniffenen Augen des Angesprochenen versprühten Missfallen.

»Wieso ich? Weil wir über drei Ecken verwandt sind?«, drang es aufgeregt aus seinem Mund.

»Ja, eben darum. Sag, verlangt eure Religion nicht das friedliche Miteinander, um Gott zu erleben?«

»Korrekt! Onkel zählte zu den gern gesehenen Menschen. Ich achte ihn wegen der streitbaren Verwirklichung seiner Glaubensvorstellung«, warf er Jürgen einen Blick zu. »Ist ein zu vollendetes Ebenbild unseres Herrn. Bitte akzeptiere, das gehört hier nicht her. Sonst klingt das wie ein Schuldbekenntnis.«

»Oh, solcherart Einsichten sind okay. Das vereinfacht meinen Job. Gibt mir obendrein die erste Richtung vor. Ich beabsichtige auf jeden Fall, mit Ihrer Verwandten zu sprechen. Begleitet mich einer der Anwesenden? Sie, der Cousin?«

Minuten nach diesen Turbulenzen zerstreute sich die Runde.

»Herr Lorenz, einen Moment bitte. Ich habe Ihren Besuch genossen. Mein Sekretariat hat im Berghotel auf dem Hexentanzplatz ein Zimmer reservieren lassen. Passt das?«

»Danke, Bürgermeister. Eine prima Idee. Der Job hier ist bald erledigt. Ich sorge für die Aufhebung der Absperrung an der Teufelsbrücke. An Spuren ist da nichts Neues zu holen. Zum Schluss ein Gedanke außer der Reihe.«

»Bitte, gern. Ich kann mir denken, worauf Sie anspielen«, sagte das Stadtoberhaupt einnehmend lächelnd.

»Hmm, tja, damit ist alles gesagt. Eine hochinteressante Diskussion, die sich hier am Tisch bot. Sie verfügen über mitdenkendes Personal. Herzlichen Glückwunsch!«

»Danke! Die Stadt lebt vom Engagement ihrer Bewohner. Differenzstandpunkte zu verkraften ist Teil meines Jobs. Das trifft auf uns beide zu. Rufen Sie mich an, jederzeit, wenn Gesprächsbedarf besteht. Ich habe Herrn Feist gebeten, Sie zu begleiten. Er wartet vor dem Rathaus. Die Cousine war Ihr Ziel. Oder haben Sie Ihre Absicht geändert?«

»Oh ja, fleißige Raben sehen Sie in der Gestalt des lobenswerten Menschen«, erklärte sich Wilhelm Feist.

»Göttlich, Sie an meiner Seite zu wissen. Steigen Sie ein. Wohin führt die Reise?«

»Unser Ziel ist der Nachbarort. Ein altes Bauerngehöft. Sie werden staunen. Die Besitzer haben ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Meine Cousine wohnt dort. Sie ist ledig, die Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ich habe ihr geholfen, von Gottes Pfad nicht abzuweichen.«

»Danke! Ich beabsichtige nicht, die Beständigkeit zur Religion zu prüfen. Für mich ist es bedeutsam, dass von der Person die Meldung zum Verschwinden eines Menschen ausging. Eine Pflicht, die Ihnen ebenfalls oblag. Der vielgerühmte Wanderführer trägt den gleichen Nachnamen. Verbirgt sich dahinter nicht eine ausgedehnte Verwandtschaft?«

»Das stimmt. Allerdings sah ich anfangs keinen Grund zum Handeln. Zudem fand ich sein Verschwinden auch nicht besorgniserregend. Nachdem ich mit anderen Mitgliedern des Harzklubs gesprochen hatte, beschlossen wir, einfach abzuwarten. Eines Tages fehlte der redegewandte Rentner. Der Felsen auf der Rosstrappe blieb leer. Erste Anfragen von Urlaubern trudelten bei der Stadtverwaltung ein. Die Touristen sehnten sich nach den Geschichten des sagenumwobenen Mythenführers. Vergebens! Kein Problem, um zu hinterfragen. Erich hatte sich öfters zurückgezogen. Der Grund: Meditation. Ich sah ihn oftmals wochenlang nicht. Fragen Sie nachher seine Enkelin. Die klärt das auf.«

»Wir sprechen von Evelyn Feist? Mensch Wilhelm, ich habe keine Lust, Ihnen alles aus der Nase zu ziehen. Erzählen Sie. Wer ist sie in Wirklichkeit? Lassen Sie die Kuh vom Eis. Wieso spüre ich Anspannung in Ihren Worten?«

»Verzeihung! Ich versuch´s, fange von vorn an. Sie arbeitet freiberuflich, ist Kunsthandwerkerin. Töpferwaren mit ausgeprägten Farbnuancen stehen ganz ober auf der Beliebtheitsskala. Auf den Wochenmärkten im Harz ist sie oft anzutreffen. Sie begegnen ihr gleich auf dem Wirtschaftshof ihrer Oma.«

»Ist ein Wort. Okay! Ihr Gesicht, Wilhelm. Es ist blass. Gibt es Spannungen, von denen Sie mir nichts erzählt haben?«

»Nein, nicht, wie Sie es erwarten. Ich versuche, Ihnen klarzumachen, dass es besser für Sie wäre, meine Worte zu verinnerlichen. Die Hofbesitzerin ist eine ehrbare Person. Hatten Sie im Leben je die Möglichkeit, einem religiösen Oberhaupt zu begegnen? Höre ich ein Nein?« Er lachte verhalten. »Entschuldigung, ich habe die Antwort vorweggenommen. Das ist die Älteste. Sie steht in der Hierarchie der Gläubiger an erster Stelle. Hinzu kommt der geheimnisumwitterte Ruf einer Wahrsagerin. Mit ihren 86 Jahren ist sie ein wahres Leuchtfeuer. Ihre Passion, die Malerei, erwähne ich nebenbei. Herr Lorenz, ich bin ihr Neffe. Der Familienzusammenhalt ist uns heilig. Machen Sie sich selber ein Bild. Ansonsten treffen wir gleich mit meiner Cousine zusammen. Fragen sind ja erlaubt. Sie bewohnt ein alle Annehmlichkeiten bietendes Appartement innerhalb des Anwesens.«

»Ja. Verstehe. Um die Sache abzukürzen, halte ich für mich fest: Ihre Cousine genießt die Geborgenheit einer intakten Familie. Sie lebt nicht im Nirgendwo.«

»Okay. Dem stimme ich zu. Ihr Verhältnis zum Opa ist logischerweise anders zu bewerten. Ich habe mehr Abstand.«

»Weil? Gibt es dafür eine Erklärung? Das klingt ein wenig nach einem angespannten Verhältnis zwischen Ihnen.«

»Gott hat Kenntnis, dass mein Onkel in einer schweren Vergangenheit gefangen war. Dies hat ihn vom Weg angebracht. Bitte, ich beabsichtige nicht, vorzugreifen. Eines ist sicher, persönliche Befindlichkeiten schaffen Befangenheit. Das ist der Stimme Gottes unwürdig.«

»Klingt logisch. Obwohl dem ein Stück Überzeugung fehlt. Eines spricht für Sie. Es ist eine gewisse Portion an Talent, Menschen zu beschwatzen.«

»Hmm, ist nicht grade ein Kompliment, Herr Lorenz. Ist es nicht legitim, sein Wissen erst freizugeben, wenn keine Gefahr droht? Meine Gefühlswelt mag Ihnen sicher etwas sonderbar vorkommen. Die Bibel zu lesen ist die eine Seite, deren Gebote zu befolgen eine andere. Zumindest gibt es jede Menge weiterer Ebenen, die Genuss versprechen. Graben Sie an der Stelle und mein Onkel verliert den Strahlenkranz der Lichtgestalt. Die Familie, vergessen Sie niemals deren Einfluss.«

»Oha, ich bin im Begriff, das zu unterschätzen. Ist nicht meine Absicht. Herr Feist, ich frage Sie mit aller Deutlichkeit. Weshalb fahren wir zur Hofanlage? Weil dort Ihre Cousine wohnt? Nein, Sie verheimlichen mir was. Für mich ist sie eine Zeugin. Die Vorladung zur Polizei wäre der bequemere Weg.«

»Ihr Problem! Ich helfe Ihnen auf die Sprünge.«

»Nein, danke! Ergo, worum geht’s? Ich meine, hat Ihre Cousine Andeutungen gemacht? Wieso bringen Sie die Familie ins Spiel?«

»Herr Lorenz, das überlasse ich Ihrem kriminalistischen Feingefühl. Erich hatte vor langer Zeit die Fähigkeit verloren, Sprachrohr Gottes zu sein. Die Gruppe hat sich von ihm abgewandt. Jene Achtung, die sie früher brüderlich miteinander verband, ist in Wut, Hass und Spott umgeschlagen.«

»Ja, ist eine verrückte Sache. Sie gehören ebenfalls diesem Kreis an«, sagte Lorenz zur Bestätigung nickend. »Vorschlag! Alles ist in Ordnung. Die Vergangenheit ist vorbei. Die Zukunft bietet einen vielversprechenden neuen Ansatz. Sehen Sie in mir eine Art Steuermann. Das entlastet Sie, großspurig zu tönen.«

»Da verkneife ich mir lieber das Lachen. Verzeihung, Herr Lorenz, wonach suchen Sie denn auf dem Hof? Welche Erkenntnis erhoffen Sie sich?«

»Jawohl! In erster Instanz nach der Dame, die eine Vermisstenanzeige aufgab. In Ihrem vertrauten Umfeld. Und, wie sich herausstellte, zu einer Person mit gleichem Familiennamen. Wie Sie, Wilhelm Feist. Mit dem Unterschied, dass er nicht redet. Sie dafür umso mehr. Erstaunlich, wie Sie ihn in den Himmel gehoben haben. Ich habe das nicht rasch genug verarbeitet, weil der Held Sekunden später ein Abtrünniger ist. Für mich ergibt sich da die genialste Aussicht auf eine bemerkenswerte Persönlichkeit.« Seine Stimme überschlug sich. »Ich vermute, der Ort kann uns einiges an Aufschluss verschaffen und helfen, den Tod aufzuspüren.«

In Bruchteilen von Sekunden durchfuhr Wilhelm ein eiskalter Schauer. Er reagierte verhalten. »Hmm, schwer zu sagen. Unser Gott ist unermesslich. Auf jeden Fall begegnen Sie überlegenen Ereignissen.«

Für sein unüberlegtes Herauspoltern ohrfeigte er sich innerlich. Üppig darüber zu reden, bringt Unglück. Halte Dich zurück, entsprach da eher den tausend Variablen für ein solches Szenario. Er hatte einen Fehler begangen. Zu spät. Der Bulle hielt bis heute nichts Konkretes in der Hand, außer geborgenen Teilen eines Skeletts. In dem Moment fuhr der PKW auf eine Toreinfahrt zu. Das imposante, zweiflügelige, dunkelbraune Holztor stand offen.

»Wir sind angekommen. Ich gehe vor. Cousinchen erwartet uns.« Der Rest seines Redestroms verlor sich in der verblüffenden Begrüßung.

»Hallo Wilhelm! Ach ja, mit angekündigtem Gast«, traf es beide aus Neugier erfülltem Mund. »Na, in dem Fall ein herzliches Willkommen, Herr Polizist! Ich bin Evelyn Feist. Höchstwahrscheinlich plauderte das Ihr Begleiter bereits aus«, fiel sie ihm mit einer Frage ins Wort. »Ihr Besuch kommt wider Erwarten. Gibt es denn einen Grund dafür?«

»Korrekt! Erinnern Sie sich? Es gibt eine Vermisstenanzeige bei der Polizeidirektion, die Ihre Unterschrift trägt. Beantwortet das die Frage? Fangen wir von vorn an«, sagte er schmunzelnd. »Mein Name ist Lorenz, Kriminaloberkommissar beim Landeskriminalamt in Magdeburg.«

»Oha, da bearbeiten Sie Mordfälle? Das ist hier nicht die richtige Adresse«, meinte sie steif.

»Ich akzeptiere Ihre Meinung, aber ich habe meine Gründe«, unterbrach er sie. »Penibel betrachtet, ist es das einzig Angemessene. Außer Ihnen gab niemanden, dem sein Verschwinden aufgefallen ist. Ist kurios. Ihr Cousin meinte, Sie sind eine Kämpferin.«

»Oh, da irrt er. Ich bin kein Fighter, nichts Übersinnliches. Der Vermisste ist Teil meiner Familie. Er hat mich aufgezogen. Seine Lehren zum Herrn sind auf mich übergegangen. Opa ist ein gutherziger Mensch mit ehrbaren Absichten. Hmm, Wilhelm, hast du das in der Form rübergebracht?«, fragte sie und wies mit einer Handbewegung in Richtung Haus. »Wenn es an dem ist, tretet ein.«

»Klar, was sonst, Evelyn! Familie ist heilig«, erzeugte bei ihr ein verächtliches Zucken der Mundwinkel. Sie lachte gequält.

»Na, ich schätze, du hast dem Kriminalisten deine Version eingeredet. Die Frage, die sich mir auftut, ist: warum?«

Wilhelm Feist zuckte mit den Achseln. »Was glaubst du? Ich habe geantwortet. Bin Zeuge, wie du.«

Lorenz nickte. Der Disput war ihm peinlich. Sein Aufenthalt nicht koscher. Er drehte sich ihren sanftmütig, braunen Augen zu.

»Bitte, mein Besuch ist eine reine Formsache. Ihre Aussagen sind dokumentiert. Ich habe sie gelesen. Dem Cousin gebührt Dank für die Idee, Ihnen persönlich zu begegnen.«

»Tja, was erwarten Sie von mir?«, fragte sie Aufmerksamkeit einheimsend. Das verschmitzte Lächeln ließ sich dabei nicht verbergen.

»Schau´n wir in die Zukunft. Ich glaube, die Lösung des Falls liegt in der Familie verborgen. Bitte, das ist eine rein rhetorische Aussage«, versuchte er den Satz abzuschwächen. Zu spät. Evelyn reagierte mit sichtbarer Leidenschaft, sich darin einzubringen.

»Herr Lorenz, eine Annahme, die sich momentan nicht bestätigen lässt. Außer mit meiner Zuarbeit? Verlangen Sie da nicht zu Anspruchsvolles?«

»Stimmt. Bleiben wir beim aktuellen Thema. Ohne Frage gibt es da weitere Geschehnisse abzuklären. Sofern Sie hierfür bereit sind. Die Vorladung auf die Polizeidirektion entfällt vorerst. Sagen wir, ich gewähre Ihnen eine Art Freundschaftsdienst.«

»Was denn, ist das eine Aufmunterung für ...«, fiel sie ihm erregt ins Wort, ohne den Satz auszusprechen.

»Oh ja. Das wäre vorstellbar«, ließ er sich feixend auf den spöttischen Tonfall ein. »Sie teilen kräftig aus. Ist eindrucksvoll! Ihr Cousin hat mich nicht ausreichend vorgewarnt. Tja, zu spät!«

»Nicht hundertprozentig. Ich bin überzeugt, tief graben ist angesagt. Dem Gedanken stimme ich zu. Wilhelm hat hoffentlich nicht dramatisiert. Was ich nicht zu leisten vermag, darüber entfällt jegliche Spekulation.«

»Genug. Kommen Sie runter, Evelyn Feist. Der Ermittler braucht Ihre Hilfe. Da gibt´s garantiert Informationen, die mich interessieren könnten. Sofern Sie, Verehrteste, das zulassen. Deal?«

»Hab ich eine Wahl?«, wandte sie sich fragend an Lorenz.

Dem war die Frage in Gegenwart von Cousin Wilhelm peinlich. Dessen Reaktion schien angesichts des Disputs verständlich.

»Evelyn, es stimmt. Die Gerüchteküche bietet fesselnde Einsichten, beantwortet sie. Gibt Auskunft darüber, was wahr und unwahr ist? Verdammt, du bringst mich in Schwierigkeiten!«

»Ist keine Absicht. Opa ist wie vom Erdboden verschluckt. Die Polizei ermittelt wegen des Toten in der Bode. Das bereitet mir panische Angst. Das ist meine Wahrheit.«

»Danke! Ein ehrliches Wort«, schob sich Lorenz in die Schusslinie der beiden. »Klar, Evelyn, dass Sie einen dicken Hals einheimsen.« Versöhnlich sagte er: »Ein Grund für Panikattacken sehe ich nicht. Keine Sorge, wenn’s an dem ist, merken Sie es.«

»Wie? Werde ich vorgeladen?«

»Nein. Ich bringe Sie zur Polizeidirektion. Das Protokoll fertigt ein Kollege, den ich auf die Lage eingestellt habe. Zufrieden?«

Sie schmunzelte. Lorenz meinte, eine gewisse Gelöstheit zu erkennen. Die knappe Antwort befriedigte ihn. »Ich nehme Sie beim Wort.«

»Hmm, na ja, wenn Sie das sagen.«

»Werde ich, denn uns eint ein Gedanke.«

»Und welcher?«

»Wir suchen beide eine Wahrheit, die für alles eine Erklärung bereithält.«

»Den Schritt gehe ich grundsätzlich mit. Herr Lorenz, bis auf die Tatsache, dass ich Gebete ausschließe, in denen religiöse Überzeugungen zu Worthülsen verkommen. Im Übrigen stehe ich an Ihrer Seite.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte er, bis ihm ein Licht aufging. Hier schwang Sympathie mit. Es gab da keine Sicht der Ereignisse, die diese Gefühlsregung trüben würde.

»Ich liefere Ihnen Auskünfte, egal, ob die mir gefallen oder nicht«, sagte sie gedämpft. Für Lorenz unsichtbar schrie die Stimme in ihrem Hirn: »Geh in die Offensive.« Seit einigen Minuten war ihr bewusst, dass sich mit dem Ermittler eine Chance bot, Bewegung in den Anzeigevorgang zu bringen. Zurückhaltung war nicht angebracht.

Seine Antwort bestätigte die Vermutung.

»Gern. Das kommt meiner Interessenlage entgegen.«

Er zögerte einen Augenblick. Sein Instinkt verriet ihm, dass ein schwerer Brocken auf ihre Seele drückte.

In dem Moment sagte Sie zu Ihrer Entlastung: »Mir ist klar, das Sie zur Aufklärung von Opas Verschwinden jede Information gebrauchen können. Also, fragen Sie mich«, endete im Aufblitzen eines Lächelns.

»Hm, das werde ich. Im Hinterkopf hat sich bei mir festgesetzt, dass ihr Opa sich des Öfteren zur Meditation zurückzog. Wann nahmen Sie das letztmalig wahr? Wo hielt er sich auf? Und für mich ist es nicht nachvollziehbar, dass ein bekannter Wanderführer einfach so von der Bildfläche verschwindet. Hat es denn überhaupt keine Nachfragen gegeben?«

»Wissen Sie, Opa hat sich bei mir nicht abgemeldet. Er war da, wenn der Tourismusverband einen versierten Geschichtenerzähler brauchte. Vor ein paar Wochen bin ich zur Polizei. Nicht ohne Grund, denn er war seit Tagen unerreichbar. Herr Lorenz, heute sind Sie hier und ich bin voller Neugier, wie Sie weiter vorgehen.«

»Das verstehe ich. Wissbegierde ist in dieser Hinsicht kein verwerfliches Omen. Wir stehen nicht unter Beschuss. Na ja, Sie wissen, dass meine Konzentration dem Skelett in der Bode gilt. Logischerweise stelle ich mir die Frage, ob es da einen Zusammenhang zu dem Vermissten gibt. Ah ja, hab vergessen, bei Verwandtschaft sind die Regeln der Geheimhaltung straffer ausgerichtet.«

»Korrekt«, reagierte Wilhelm. Einen flüchtigen Blick lang wähnte er, die Kontrolle über das Zusammentreffen zu verlieren. Nein, im Gegenteil. Er gab eine prima Figur im Rennen ab. Alles entwickelte sich wie vorausgesehen. Die Cousine hatte keinen blassen Schimmer, was in den letzten Wochen passiert war. Sie tappte im Dunkeln. »Zuhören, das ist meine Passion«, entschied er blitzartig.

Eine Rolle zu übernehmen, lag ihm seit langem im Blut. Sie war konkreter Bestandteil eines Spiels. Wilhelm fand sich bestens darin zurecht. Er war ein Genie. Beherrschte jedwede Form der Kontrolle, um wirksamen Einfluss auf den menschlichen Geist auszuüben. Soeben passierte das wieder unbemerkt.

»Meine liebe Cousine, mir ist bewusst, das Telefongespräch, unser Erscheinen ... sieht nach einem Überfall aus. Bitte übe Nachsicht! Fakt ist, die Kripo hat reagiert. Sie schickt einen erfahrenen Kriminalisten. Das ist mehr, als ein Protokoll am Schreibtisch aufzunehmen.« Seine Worte erzielten Wirkung. Er hakte nach. »Ja klar. Ich helfe mit, der Polizei Argumente zu liefern. Erich und der Tote in der Bode, das ist für mich die Kernfrage.«

»Hör auf, Wilhelm. Kein Rotz um die Backe. Vergiss die blöden Sätze. Darüber hinaus ist ja bisher nichts passiert.«

»Das sehe ich anders, Cousine. Unterm Strich ist mir die ganze Sache scheißegal. Was dich betrifft, meine Liebe, du bist die Gegenwart und Zukunft. Wir beide verkörpern Gottes Stimme.«

»He, alle zwei. Der Ermittler bin ich. Lorenz, Kriminaloberkommissar. Vergessen? Ich bin hier, weil Ihre Hilfe erforderlich ist.«

»Herr Oberkommissar, Hand aufs Herz, nähern wir uns der Nabelschnur? Der des Skeletts ohne Kopf. Der unseres verehrten Erich? Oder sind Sie hier bald wieder weg, überlassen einen ungeklärten Fall?«, brachte Wilhelm nun schnippisch hervor.

»Nein, ich halte die Stellung! Hellsehen ist out«, bellte Lorenz missgelaunt zurück. »Sorgen wir gemeinsam dafür, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.« Er warf den beiden ein knappes Nicken zu. »Hören Sie. Mein Appell heißt, ich bestimme den Gesprächsverlauf. Das betrifft ebenso die Älteste, Erna Feist.«

Wilhelm reagierte gelassen.

»Einverstanden! Eine Bemerkung, denke ich, ist angebracht«, stammelte er in verkorkster Tonlage. »Der Glaube ist wie ein reinigendes Bad. Er setzt hoffnungsfrohe Gefühle frei. Wie heute zwischen uns dreien.«

»Fertig? Ich schäme mich, Wilhelm. Lauf den frommen Wünschen hinterher«, sagte sie vor Erregung zitternd. »Herr Lorenz, mein Cousin folgt einem alten Verhaltensmuster der Glaubenslehre. Es erlaubt, sich zeitweise an der eigenen moralischen Überlegenheit zu berauschen. Besser, es begünstigt die Voraussetzungen, Antworten auf tiefere Fragen zu finden. Verzeihen Sie ihm. Er ist heute zu direkt und ruppig vorgegangen.«

»Okay! Gern! Sorgen um Sie beide resultieren daraus nicht. Was die Fallbearbeitung betrifft, der Kripo fehlen ausreichend Hinweise, die ein Täterprofil nahelegen. Wir hatten bisher keine Möglichkeit, exakte Tathergänge abzubilden.«

Sie nickte mit einem friedfertigen Schmunzeln.

»Das Verschwinden von Opa aufzudecken ist von hoher Relevanz. Er hat mich gelehrt, zufrieden mit dem Leben zu sein, um sich damit wie ein Teil einer einzigen, weltweiten Familie zu erfahren. Ich frage mich oft genug, warum Gott enorme Mengen an Leid zulässt. Heute stehe ich ohne Fürsprecher da. Verzeihung. Das war´s.«

»Im Augenblick, Evelyn Feist, ist das eine berechtigte Ansage. Mit Verlaub. Wieso gibt der alte Herr uns allen ein Rätsel auf?«

Rote Flecken in ihrem Gesicht zeugten von enormer Aufregung. »Ich frage Sie, Oberkommissar, bringt uns Opa auf diesem Wege bei, die Angst zu beherrschen? Verbirgt sich dahinter ein Versteckspiel, um eine Sache aus der Bedeutungslosigkeit zu bergen? Das sind jede Menge Unklarheiten. Besseres passiert nicht bei dem Wetter. Kühlen die Gemüter ab. Ein Eistee wäre nicht schlecht. Kommen Sie mit, ich gehe voran«, erklärte sie mit Bedacht, um die Verlegenheit zu umspielen. »Herr Lorenz, Sie erleben garantiert nicht die gleiche Faszination beim Rundgang wie ich. Drücken Sie die Augen zu, wenn Ihnen das herumstehende Gerümpel im Wege ist. Bitte beachten Sie das Sammelsurium nicht.«

Gelegenheit zum Antworten bekam er nicht. Sie schien die Luft anzuhalten, sprach weiter, um ja nicht aus dem Redefluss zu kommen.

»Ich lebe heute mit Oma Erna auf diesem Hof. Der ist mittlerweile eine Art Begegnungsstätte. Aufrichtige, beachtenswerte Menschen einer Konfession versammeln sich hier. Die alte Dame ist das Oberhaupt meiner Familie. Unsere Gemeinschaft verehrt sie sprichwörtlich wie eine Königin.«

»Bitte Evelyn, das ist zu allgemein. Erklären Sie mir das etwas genauer. Betrete ich hier eine Kirchgemeinde mit überzeugten Gläubigern?«

»Ja, Gottes Soldaten, wenn Sie das verinnerlichen.«

»Oh, ein Elitekorps, das sich durch harte Arbeit aufopfert? Trifft das den Kern? Eine Sekte?«

»Nein. Sie liegen falsch. Wir sind eine Gemeinschaft von Menschen, die dem Herrn dienen. Mein Opa stand über Jahre hinweg an deren Spitze. Er war angetreten, die Gläubiger aus der Dunkelheit in ein neues Zeitalter der Erleuchtung zu führen.«

»Stopp, Evelyn Feist«, hob Lorenz mit einer warnenden Gebärde die Hand. »Ach ja, Verzeihung, ich bin in dieser Beziehung ein Ungläubiger. Bei mir prallen solche Aussagen weitestgehend ab.«

»Ja klar. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Leider klingt das aus Ihrem Mund abwertend. Die Anhänger widmen ihre Gedanken und auch ihr Tun der Rettung vor dem grausamen Tod. Die Belohnung für diese Mühen folgt mit dem Eingang ins Paradies. Erich Feist, mein Opa, war jahrelang ihr geistiger Anführer. Zum tieferen Verständnis. Für uns ist so jemand ein Sprachrohr Gottes.«

»Verstehe, ich suche einen Clanchef, der urplötzlich verschwunden ist«, stellte er trocken fest.

»Dem stimme ich zu, Herr Lorenz. Ihm reden die verlassenen Anhänger nach, abtrünnig zu sein, weil er Verfehlungen in seiner Ergebenheit zuließ. Da ist was dran, wenn nicht die Gerüchteküche wäre ... na ja, erwägen Sie lieber eigene Gedanken.«

»Hmm, ein Psychogefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab«, schoss es Lorenz unvermittelt durch den Kopf. Von Gott auserwählt. Das klang abstrus, war der Wirklichkeit entrückt. Obwohl sich darin ein Stück Wahrheit verbarg. Die Geschichte faszinierte ihn über das normale Maß hinaus. Die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Toten in der Bode und dem Vermissten gab, schien eine verlockende Alternative zu sein. Einzig die Gesprächspartnerin würde hier eine fehlerfreie Antwort finden. Sie schilderte ihm grade ihre Version vom Zusammenleben mit den Großeltern.

»Herr Lorenz, Opa war ein herzensguter Mensch. Seine geschiedene Ehefrau, Oma Erna, steht mir trotz der ehelichen Differenzen mit ihm nahe. Ihr verdanke ich die göttliche Bestimmung. Das ist meine Art, den Vorstellungen der germanischen Mythologie und ihren Berührungspunkten mit der Harzer Sagenwelt künstlerisch zu begegnen.«

»Verstehe. Sie hegen beste Absichten. Vereinfachend gesagt, das übersteigt die bloße Vermarktung von Ideen.«

»Absolut! Ich sehe, Sie sind meinem Cousin haushoch überlegen. Aufrichtigen Dank dafür!«

Lorenz lächelte. »Was führen Sie im Schilde?«

Sie warf ihm einen auffordernden Blick zu. »Lust, mitzumachen?«

»Wenn dem eine Erklärung folgt.«

»Gern. Ich lese in Ihren Augen. Wir halten an einer gemeinsamen Herangehensweise fest.«

»Bin gespannt drauf. Welche?«

»Den Menschen Freude bereiten, sie animieren, das sagenhafte Naturareal im heimischen Bodetal zu erkunden. Das schließt den Hexentanzplatz, die Rosstrappe, den Tierpark und andere Sehenswürdigkeiten ein. Darin sehe ich eine echte Herausforderung. Ehrlich, halten Sie mich für verrückt?«

Der letzte Satz verlor sich beim Durchschreiten einer gigantischen Scheune. Lorenz stand für Sekunden neben sich.

»Oh Scheiße«, huschte es über seine Lippen. »Irrsinnig!«

Den unartikuliert dahingeworfenen Ausspruch registrierte sie grinsend. Das betraf ebenso den Funken, der sich darin verbarg. Er riss die Augen weit auf, um ja nichts zu verpassen. Vor ihm zeigte sich eine gewaltige freie Fläche bis oben zum Dach. Die umschloss eine Konstruktion aus geleimten Holzelementen. Das suggerierte die Wahrnehmung von unvorstellbarer Größe. Eine Handvoll Kojen mit künstlerischem Bauanspruch rundeten dieses Bild vom ersten Eindruck ab.

»Sie brauchen sich nicht anzustrengen, Herr Lorenz«, drang es an sein Ohr. »Das Ganze hier ist dreißig Meter lang, fünfzehn breit, ragt mindestens zehn in die Höhe. Die Entkernung setzte eine gewaltige Hülle frei. Platz für eine großzügige Werkstatt und einen Ausstellungsraum mit Präsentationsfläche. Ich zeig´s Ihnen.«

»Genial«, rutschte ihm über die Zunge, wofür er ein Lächeln erntete.

»Ich habe eine Überraschung parat. Eistee, aus Kräutern hergestellt, selbstgemachtes Gebäck. Mögen Sie?«

Sie hob den Blick. Wie zufällig trafen sich die beiden Augenpaare. Lorenz zuckte elektrisiert zusammen. Der Blitz hinterließ einen Funken, einen Bann, den Zwang, ihr wieder nahe zu sein. Ein Gefühl, das üblicherweise nicht zwischen ihm und einem Kontakt zustande kam.

»Bitte, verschwenden wir keine Zeit«, sagte sie. Ihre Hand wies auf einen Rohrsessel. »Habe ich in eigener Handarbeit hergestellt. Sind alles Haselnussruten.«

Lorenz drehte vor Begeisterung den Kopf hin und her. Überall bemerkte er Holzgestelle mit Keramiktassen, Vasen, Teller, Schüsseln. Der leuchtende Rotton mit wolkenartig eingelagerten graublauen Einfärbungen faszinierte ihn.

»Das ist Spitzenklasse, Evelyn Feist. Ein satter Ton, der zum Hinsehen animiert. Habe ich bisher in keinem Geschäft, geschweige denn Baumarkt gesehen.«

»Freut mich, Ihre Begeisterungsfähigkeit. Ich vermarkte meine Waren direkt auf Wochenmärkten im Harzkreis. Kaum überregional. Der Fokus ist auf das Plateau des Hexentanzplatzes ausgerichtet. Die Produkte verkaufen sich recht ordentlich. Ich lege Wert auf Design und Qualität. Schauen Sie sich in der Werkstatt um. Ich bin gespannt auf Ihre Meinung.«

Lorenz ließ die Worte vorbeigleiten.

»Probieren Sie das da«, meinte sie. In der Hand hielt sie eine zylindrische Keramikdose mit Deckel.

»Kekse, ein Verkaufsschlager im Harz. Das Rezept der Hausherrin.«

»Pardon, mich reizt vielmehr die Form des Behälters. Die Lasur ähnelt der auf den anderen Gefäßen. Irre ich da?«

»Ihr Gefühl trügt nicht. Das sind absolute Highlights. Bitte, ich schlage vor, die Höflichkeit zur Seite zu legen. Eine Stunde Gespräch, vier Gläser Eistee, selbstgebackene Kekse schaffen Lust auf mehr.«

»Trifft auf mich ebenso zu! Ihnen hier zu begegnen, war eine vernünftige Entscheidung. Sie verfügen über eine meisterhafte Begabung. Tja, vor allem das freigiebige Entgegenkommen mit einem geballten Paket an Informationen war erste Klasse«, sagte er. Wilhelm Feist bemerkte das Feixen in seinem Gesicht. Beschämt drehte er sich zur Seite. Lorenz gab keinen Kommentar ab. Es war ihm zu blöd.

»Ich werde am späten Nachmittag im Polizeipräsidium erwartet. Besten Dank!«, erklärte er stattdessen.

»Verstehe, das heißt, Sie checken sicher gleich im Hotel ein?«, wollte Evelyn Feist nun wissen.

»Ja, unter Umständen, weshalb fragen Sie? Ist für mich die Gelegenheit, um noch eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Zu wandern beabsichtige ich nicht.«

»Schade, mir liegt grade ein Vorschlag auf der Zunge. Ich würde Sie liebend gern begleiten.«

»Einverstanden!«, sprudelte es aus ihm heraus. »Nicht heute. Morgen, übermorgen. Wohin möchten Sie mich denn führen?«

»Zur Walpurgishalle, nahe dem Hexentanzplatz. Das ist ein geschichtsträchtiger Ort. Ein blockhausartiger Museumsbau im altgermanischen Stil. Götterdämmerung, Teufel und Hexen zeigen sich dort mit neuem Blick für Übersinnliches. Die beste Gelegenheit, um Verständnis zu schaffen. Ich sehe Ihnen an, wie sich Ihre Gedanken gegen all das hier in meinem Heim auflehnen. Interesse?«

»Angenommen! Zustimmung erteilt! Wann treffe ich Sie?«, unterdrückte er das aufkommende, interne Siegesgeheul im Hinterkopf.

»Morgen, neun Uhr vor dem Hotel, okay?«, schwebten ihre Worte anhaltend in der Luft. Und dem Augenschein nach erzielten sie Wirkung. Sein Gesicht färbte sich puterrot.

»Das ist faktisch unmöglich«, versuchte er sich auf die Gegebenheit einzustellen. »Auf Wiedersehen, Evelyn Feist«, sagte er aus tiefer Inbrunst heraus. Sein Blick konzentrierte sich auf ihren makellos kurzen Haarschnitt. Der passte blendend zu dem fein geschnittenen Gesicht. Ihre Art Lebenskunst, die sich gegen traditionelle Normen des Frauenbildes in der Sekte wandte. Sein Instinkt verriet, dass sie ihm Vertrauen entgegenbrachte. Mit dem Gedanken, dass sie im Augenblick die einzige Möglichkeit war, Insiderwissen zu erlangen, verabschiedete er sich.

Zinnobertod

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