Читать книгу Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte - Reinhard Warnke - Страница 4
1 Eine neue Deutsche Welle
ОглавлениеNach dem konstruktiven Misstrauensvotum im Oktober 1982 stellte der neue Bundeskanzler Helmut Kohl am 17. Dezember die Vertrauensfrage, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Am 06. März 1983 mussten die Bundesbürger also vorzeitig an die Urnen, um einen neuen Bundestag zu wählen. Da Helmut Schmidt nicht erneut kandidiert hatte, trat Hans-Jochen Vogel, der frühere Münchener Oberbürgermeister, als Spitzenkandidat für die SPD gegen Helmut Kohl an. Die erhoffte absolute Mehrheit konnte die CDU/ CSU zwar nicht erreichen, doch in Koalition mit der FDP reichten die Wählerstimmen für eine deutliche Regierungsmehrheit. Erwartungsgemäß hatte die FDP erhebliche Stimmenverluste, doch es reichte noch, nicht an der 5-Prozent-Hürde zu scheitern. Noch höhere Verluste erlitt die SPD, weil viele ihrer potentiellen Wähler zu den Grünen übergeschwenkt waren. Die „Öko-Partei“ mit Petra Kelly und Otto Schily an der Spitze hatte es geschafft, mit 5,6 Prozent der Stimmen erstmals in den Bundestag einzuziehen. Nach Helmut Schmidt zog sich jetzt auch Herbert Wehner aus der Politik zurück, der die SPD seit Beginn der Bundesrepublik im Bundestag vertreten hatte und zuletzt Fraktionsvorsitzender seiner Partei war. Der unterlegene Kanzlerkandidat Hans-Jochen Vogel wurde sein Nachfolger in diesem Amt.
Die Bundesrepublik hatte seit März 1983 eine neue Regierung, aber eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation war nicht wirklich spürbar. Die Arbeitslosenzahl stieg im Laufe des Jahres auf 2,25 Millionen an, aber die CDU-Wähler waren davon überzeugt, dass es mit dem neuen Bundeskanzler Helmut Kohl aufwärts gehen würde. Viele von ihnen sahen sich bestätigt durch den Song „Bruttosozialprodukt“ der Pop-Gruppe „Geier Sturzflug“, die in ihrem Song scheinbar die ersehnte Aufbruch-Stimmung zu einem wirtschaftlichen Wachstum charakterisiert hatte. „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Brutto-Sozialprodukt“ hieß es schließlich im Text, doch die Mitglieder der aus Bochum stammenden Musikgruppe distanzierten sich umgehend von der konstruierten Verbindung ihres Songs mit der politischen Wende in Bonn. Sie hatten dieses Lied bereits im Jahr 1979 ohne jeglichen politischen Hintergedanken aufgenommen, aber erst vier Jahre später stellte sich der Erfolg ein. Grund hierfür war eine neue Musikrichtung, die seit Beginn der 80-er Jahre von der bundesdeutschen Jugend begeistert aufgenommen wurde, die „Neue Deutsche Welle“. Es war plötzlich populär, Lieder in deutscher Sprache zu präsentieren, so wie es Udo Lindenberg schon seit zehn Jahren tat. Der Unterschied zu den deutschen Schlagern der vergangenen Jahrzehnte bestand darin, dass die Texte nicht mehr von „Herz und Schmerz“ geprägt waren und vor Schmalz zerflossen, sondern überwiegend humorvolle und häufig auch sozialkritische Texte hatten. Viele der Künstler im Rahmen der „Neuen Deutschen Welle“ wurden mit einem Hit bekannt und verschwanden anschließend so schnell, wie sie gekommen waren. Die Band „Geier Sturzflug“ gehörte jedoch zu den Interpreten, die noch Jahre später die Konzertsäle füllten und die Zuschauer begeistern sollten, genauso wie unter anderem die österreichische Band „Erste Allgemeine Verunsicherung“ oder der ebenfalls aus Österreich stammende „Falco“, die Gruppe „Münchner Freiheit“, Nena – die nicht nur 99 Luftballons steigen lassen hatte, sowie Peter Schilling, der mit seinem Hit „Major Tom“ über Wochen an der Spitze der Charts in etlichen europäischen Ländern stand.
Dazu gehörte natürlich auch die Gruppe „Trio“ um Stephan Remmler, die es geschafft hatte, mit minimalen musikalischen Mitteln und vielsagenden Texten wie „Da da da“ an die Spitze der Charts zu gelangen und dies sogar in Großbritannien. Die drei jungen Musiker lebten zu jener Zeit in dem kleinen niedersächsischen Ort Großenkneten in der Nähe von Oldenburg. Dort wohnte seinerzeit auch meine älteste Schwester, zusammen mit ihrem Ehemann und ihren Söhnen. Als ich seinerzeit meine Familienangehörigen besuchte, habe ich zu meinem Bedauern weder Stephan Remmler noch andere Mitglieder seiner Band getroffen. Im Garten meiner Schwester und meines Schwagers versammelten sich zu jener Zeit regelmäßig zahlreiche Kinder, um mit meinen Neffen zu spielen. Viele Jahre später erzählte meine Schwester mir, dass ein Junge sich von den übrigen Kindern abhob, weil er schon damals unglaublich ausgeglichen wirkte. Dieser Schulfreund meines Neffen Thomas war der ebenfalls in Großenkneten aufgewachsene Hans-Jörg Butt, der Jahre später Bundesliga-Torwart des Hamburger SV, bei Bayer Leverkusen und schließlich sogar beim großen FC Bayern München werden sollte, drei Spiele in der deutschen Nationalmannschaft bestritt und wahrscheinlich niemals übertroffen wird, als Torwart mit den meisten geschossenen und verwandelten Strafstößen.
Im Jahr 1983 aber konnte der damals 9-jährige Hans-Jörg Butt höchstens von einer Profikarriere träumen und er hat sich in jener Zeit sicherlich nicht ernsthaft vorstellen können, einmal dem Verein als Stammtorwart anzugehören, der sich zu jener Zeit aufmachte, die europäische Spitze zu erklimmen. Der österreichische Trainer Ernst Happel hatte es geschafft, aus einer sehr guten Mannschaft ein absolutes Spitzenteam zu formen. Als der HSV im Bremer Weserstadion am 29. Januar 1983 mit 2:3 gegen Werder verlor, war es die erste Niederlage nach einem Jahr und 36 nicht verlorenen Spielen in der Fußball-Bundesliga. Doch dies war nur ein Ausrutscher, hinterher ging die Erfolgsserie weiter. Auch im Europapokal der Landesmeister zeigten die Hamburger ihre Klasse. In der ersten Runde kam es zum deutsch-deutschen Duell mit dem DDR-Meister Dynamo Ostberlin. Der „Vorzeigeclub“ aus dem anderen Teil Deutschlands wurde von Erich Mielke und seiner „Stasi“ unterstützt, die dafür sorgten, dass die besten Spieler des Landes bei Dynamo kickten. Nachdem das Hinspiel in Berlin 1:1 geendet hatte, gewann der HSV das Rückspiel im Volksparkstadion mit 2:0. Ich habe dabei allerdings auch eine gute Mannschaft aus Ostberlin gesehen. Im Hinspiel des Achtelfinales gab es nur einen knappen 1:0-Sieg gegen Olympiakos Piräus im Hamburger Volksparkstadion. Der junge Thomas von Heesen erzielte den einzigen Treffer des Spiels, kurz nachdem er eingewechselt worden war. Ganze 17.000 Zuschauer wollten diese Europapokal-Begegnung im eigenen Stadion miterleben. Dies ist aus heutiger Sicht unvorstellbar. Ein Achtelfinale im Europapokal der Landesmeister mit einer so überragenden Hamburger Mannschaft – die Arena der Hanseaten wäre heute mit Sicherheit bis auf den letzten Platz ausverkauft, auch wenn es sich „nur“ um das Achtelfinale handeln und egal welcher Gegner antreten würde. Das Rückspiel in der griechischen Hafenstadt gewann der HSV dann souverän mit 4:0. Im Viertelfinale mussten die Hamburger im März 1983 in die georgische Stadt Tiflis reisen, wo der sowjetische Meister Dynamo Kiew aufgrund der Witterungsbedingungen sein Heimspiel austragen musste. Der HSV gewann diese Begegnung mit einer souveränen Leistung 3:0. Nicht Oleg Blochin, der Superstar aus Kiew, war dabei der herausragende Akteur auf dem Platz, sondern der dänische Außenstürmer des HSV, Lars Bastrup, der alle drei Tore erzielte. Das Rückspiel ließen die Hanseaten dann im heimischen Volksparkstadion vor wieder nur 30.000 Zuschauern angesichts des deutlichen Hinspiel-Sieges allzu lässig angehen und verloren mit 1:2. Aber diese Niederlage tat nicht weiter weh. Zum dritten Mal nahm der Hamburger SV am Europapokal der Landesmeister teil und jedes Mal wurde das Halbfinale erreicht, welch eine außergewöhnliche Bilanz. Es gibt nur wenige europäische Mannschaften, die auf eine vergleichbare Serie zurück blicken können. Erneut war eine spanische Mannschaft Kontrahent im Semifinale. 1961 scheiterte der HSV unglücklich am FC Barcelona, 1980 wurde das Endspiel nach dem grandiosen 5:1-Sieg gegen Real Madrid erreicht und diesmal hieß der Gegner Real San Sebastian. Durch ein 1:1-Unentschieden in der baskischen Metropole konnten sich die Hamburger nach Toren von Wolfgang Rolff und Gajate in eine günstige Ausgangsposition für das Rückspiel bringen. Zusammen mit diesmal 51.000 Zuschauern sah ich eine spannende Partie, die erst kurz vor Spielende entschieden wurde. Vorstopper Dietmar Jacobs erzielte in der 76. die umjubelte 1:0-Führung, die allerdings schon drei Minuten später durch Alvarez egalisiert wurde. Das Entsetzen der Hamburger Zuschauer hielt jedoch nicht lange an, denn in der 84. Minute schoss Thomas von Heesen den Siegtreffer zum 2:1. Einmal mehr hatte das eingewechselte Nachwuchstalent des HSV ein enorm wichtiges Tor geschossen und dies war mit Sicherheit das bedeutendste.
Drei Jahre nach der unglücklichen Niederlage gegen Nottingham Forrest hatte der Hamburger SV erneut das Finale um den Europapokal der Landesmeister erreicht. Einen Sieg im Finale von Athen am 25. Mai 1983 erwarteten allerdings selbst die größten Hamburger Optimisten nicht, zu groß war die Favoritenstellung von Juventus Turin. Im Team des italienischen Meisters standen sechs Spieler, die knapp ein Jahr zuvor mit der National-Mannschaft Italiens im Endspiel gegen Deutschland Weltmeister geworden waren, unter anderem der legendäre Torwart Dino Zoff, der eisenharte Verteidiger Claudio Gentile, Paolo Rossi, der den ersten Treffer im WM-Endspiel erzielt hatte und Torschützenkönig der Endrunde wurde, sowie Marco Tardelli, ebenfalls Torschütze im WM-Finale. Hinzu kamen die beiden Weltklassespieler Michel Platini aus Frankreich und der Pole Zbigniew Boniek. Nicht zu vergessen Linksaußen Roberto Bettega, der seit 1970 Stammspieler bei Juventus war, mit seiner Mannschaft siebenmal italienischer Meister wurde und 42 Länderspiele für die Nationalmannschaft Italiens bestritten hatte. Mit einem Sieg in diesem Europapokal-Endspiel wollte er seine zu Ende gehende großartige Profikarriere krönen. Auch der HSV hatte überragende Spieler in seinen Reihen, doch bei diesem Überangebot an Weltklasse-spielern beim Gegner, konnte man schon ein bisschen Angst um die Mannschaft des deutschen Meisters bekommen. Ich hatte vier befreundete Kollegen eingeladen, um das Endspiel zusammen mit ihnen in meiner Wohnung am Fernsehschirm zu verfolgen. Es war genügend Platz in dem durchaus geräumigen Wohnzimmer für die Gäste vorhanden, auch wenn Kater Olga keine Bereitschaft zeigte, den Sessel, auf dem er Platz genommen hatte, zur Verfügung zu stellen. Scheinbar mit größtem Interesse schaute auch er zum TV-Gerät, um die Vorberichte zum gleich beginnenden Finale zu verfolgen.
Bevor die Berichterstattung im Fernsehen begann, hatten sich die Akteure beider Teams auf das Spielfeld begeben, um sich mit der Atmosphäre im Stadion vertraut zu machen und die Beschaffenheit des Rasens zu begutachten. In dieser Phase waren die Superstars des italienischen Meisters ein wenig irritiert, denn kein Spieler der gegnerischen Mannschaft schaute ehrfürchtig oder gar ängstlich zu ihnen hinüber. Stattdessen standen die Spieler, Trainer und Betreuer des Hamburger SV in einem Pulk zusammen und es schien so, als ob sie sich auf den Kölner Rosenmontagsumzug vorbereiten würden und nicht auf das Endspiel um den Europapokal der Landesmeister. Was die Spieler von Juventus nicht wissen konnten war, dass Trainer Ernst Happel in die tiefe Psychologie-Trickkiste gegriffen hatte. Dass Juventus Turin über eine hervorragende Mannschaft mit zahlreichen Weltklassespielern verfügte, wussten die Hamburger Spieler schon lange und dass sie dennoch eine Chance haben würden, hatte ihr Trainer ihnen in den Tagen zuvor in den knappen aber präzisen taktischen Besprechungen eingebläut. Als sie jetzt kurz vor Beginn des Endspiels auf dem Rasen des Athener Olympiastadions standen, sprach Ernst Happel nicht mehr über Stärken und Schwächen des Gegners, sondern hielt seine Truppe nur noch mit aufmunternden Sprüchen und Witzen in Stimmung. Das mulmige Gefühl in der Magengrube und die Unsicherheit wichen fast unbemerkt von den Spielern des HSV, als ihr Gelächter zu den Juventus- Akteuren herüber schallte. Hiervon wussten wir natürlich nichts, als wir vor dem Fernsehschirm auf den Anpfiff warteten.
Schon kurz nach Spielbeginn rieben sich alle Anwesenden in meiner Wohnung, mit Ausnahme von Kater Olga, verwundert die Augen, denn nicht der große Favorit aus Italien, sondern die Spieler des deutschen Meisters hatten die Initiative in dieser Begegnung übernommen. Selbstbewusst ließen sie den Ball in ihren Reihen laufen und zeigten keinerlei Nervosität. Die entspannende Vorbereitung durch ihren Trainer hatte offensichtlich die erhoffte Wirkung erzielt. Es waren gerade acht Minuten gespielt, als Felix Magath auf halb-linker Position in Ballbesitz gekommen war. Da ihn kein Gegenspieler attackierte, konnte Hamburgs überragender Spielmacher noch einige Schritte mit dem Ball am Fuß laufen, um ihn dann mit seinem starken linken Fuß in Richtung Juventus- Gehäuse zu schießen. Über Torwart Dino Zoff hinweg flog der Ball wie an der Schnur gezogen ins obere linke Eck des Tores. Unfassbar, der krasse Außenseiter führte mit 1:0. Meine Freunde und ich sprangen mit erhobenen Armen von unseren Sitzen auf und jubelten. Dies war der Zeitpunkt, als es Kater Olga zu hektisch wurde und er sich entschloss, sich ins Schlafzimmer zurück zu ziehen. Auf dem Weg dorthin drehte er sich kurz vor der Wohnzimmertür noch einmal um, schaute uns an und hatte einen Blick, als wollte er sagen: „Euch Menschen zu verstehen, ist nicht so einfach. Auf der einen Seite ist es bewundernswert, dass es Euch gelingt, Dosen zu öffnen, um Katzenfutter heraus zu holen. Andererseits muss man sich schon wundern, dass ihr in Hysterie verfallt, nur weil ein kugelrunder Gegenstand in einem Dreieck landet.“ Ich habe Olga erst wieder gesehen, nachdem sich meine Gäste verabschiedet hatten.
Wir aber verfolgten voller Spannung das Europapokal-Endspiel und waren erstaunt darüber, dass Juventus natürlich versuchte, den Ausgleich zu erzielen, man aber niemals den Eindruck hatte, dass der HSV dem Druck nicht standhalten könne. Dies lag auch daran, dass Wolfgang Rolff, der Shooting-Star der Hamburger in dieser Saison, den Turiner Spielmacher Michel Platini weitgehend ausschalten konnte und auch Vorstopper Dietmar Jacobs den WM-Torschützenkönig Paolo Rossi nicht zur Entfaltung kommen ließ. Insgesamt war es jedoch wohl das Ergebnis einer geschlossenen Mannschaftsleistung der Hamburger, in der jeder einzelne Spieler seine Leistungsgrenze im richtigen Moment erreicht hatte, dass der Hamburger SV am Ende tatsächlich dieses Finale mit 1:0 gewinnen konnte. Die Superstars von Juventus Turin standen nach dem Schlusspfiff des rumänischen Schiedsrichters Rainea völlig ungläubig und konsterniert auf dem Spielfeld, als dem Mannschaftskapitän des HSV, Horst Hrubesch, der Pokal übergeben wurde, bevor sich die Hamburger Spieler auf die umjubelte Ehrenrunde begaben. Sie hatten den größten Triumph erreicht, der für eine europäische Vereinsmannschaft möglich ist. Ein wesentlicher Schlüssel des Erfolges war sicherlich, dass Ernst Happel seine Mannschaft, ob in der Bundesliga oder im Europapokal, nur selten änderte und wenn, dann nur auf einzelnen Positionen. So konnten die Spieler jederzeit das taktische Konzept ihres Trainers umsetzen, weil sie in Perfektion aufeinander abgestimmt waren. Von Doppelbelastung war trotz des läuferisch aufwendigen Spiels durch das permanente „Pressing“ nie die Rede und ich denke, dass Ernst Happel äußerst sarkastisch reagiert hätte, wenn ihm damals jemand empfohlen hätte, über eine Rotation nachzudenken, mit der in späteren Zeiten ebenfalls große Trainer mehr oder weniger großen Erfolg haben sollten.
Zwei Tage nach dem unvergesslichen Endspiel startete ich, immer noch beseelt von dem großen Triumph des Hamburger SV, in den Urlaub. So wie sieben Jahre zuvor, ging es zusammen mit zwei jungen Frauen in das spanische Fischerstädtchen Palamos an der Costa Brava, diesmal nicht mit einem Käfer, sondern mit einem VW-Golf. Die Halterin des Fahrzeugs war die gleiche wie seinerzeit, aber eine andere Freundin begleitete mich und zum Glück wurde die Reise diesmal nicht von einer Verlobung abhängig gemacht. Am Samstagmittag erreichten wir den Campingplatz an der Costa Brava, rechtzeitig um die Zelte aufzubauen bevor ich mich umschauen konnte, wo ich die Möglichkeit haben würde, die Übertragung des letzten Spieltags der Bundesligasaison 1982/ 83 im Radio verfolgen zu können. Die Suche gestaltete sich einfacher, als ich es mir vorgestellt hatte. In unmittelbarer Nähe zu unseren Zelten saß ein junger Mann am Campingtisch, mit einem Radiogerät neben sich, aus dem unverkennbar deutsche Stimmen erklangen. Eine blaue Fahne mit schwarz-weißer Raute, die neben ihm im Rasen steckte, ließ nur unschwer erahnen, dass es sich um einen HSV-Fan handelte. Er willigte sofort ein, als ich ihn gefragt hatte, ob ich mit ihm zusammen die Berichterstattung im Radio verfolgen dürfe und war erfreut, nicht alleine das Bundesligafinale verfolgen zu müssen. Dass der junge Mann aus Hamburg-Horn kam war nebensächlich, genauso die Frage, welchen deutschen Radiosender er gefunden hatte, mit dem auf einem Campingplatz an der Costa Brava fast störungsfrei die Übertragung des letzten Spieltags der Bundesliga verfolgt werden konnte. Wichtig für uns war, live miterleben zu können, wie diese Saison zu Ende gehen würde.
Nach dem Wiederaufstieg in die 1. Fußball-Bundesliga in der Vorsaison, hatte sich Werder Bremen unter dem neuen Trainer Otto Rehhagel sofort zu einem Spitzenteam entwickelt. In der Saison 1982/ 83 hatte sich ein spannender Zweikampf zwischen den beiden Nordrivalen aus Hamburg und Bremen entwickelt. Dabei war es Werder schließlich gelungen, dem HSV die erste Niederlage in der Bundesliga nach mehr als einem Jahr beizubringen und ihr neuer Mittelstürmer Rudi Völler, der zu Saisonbeginn von 1860 München an die Weser gewechselt war, wurde mit 23 Treffern auf Anhieb Torschützenkönig der Bundesligasaison. Als der Hamburger SV den Europapokal in die Hansestadt Hamburg gebracht hatte, versprach Kapitän Horst Hrubesch: „Jetzt holen wir uns gegen Schalke 04 noch den Deckel für den Pott.“ Gemeint war natürlich die Meisterschale, doch dieses Ziel zu erreichen, war leichter gesagt, als getan. Als ich mit meinem neuen Kumpel auf dem Campingplatz an der Costa Brava auf den Beginn der Radioreportage wartete, lagen der HSV und Werder punktgleich an der Tabellenspitze. Die Hamburger hatten allerdings das um acht Tore bessere Torverhältnis. So spannend, wie sich die gesamte Saison gestaltet hatte, verlief dann auch der letzte Spieltag. Der SV Werder erfüllte seine Pflichtaufgabe und besiegte den VfL Bochum im eigenen Stadion mit 3:2. Im Gelsenkirchener Parkstadion hätte zwischenzeitlich ausgerechnet Wolfram Wuttke, der in der nächsten Saison für den HSV stürmen sollte, mit seinem Tor beinahe die Hamburger Suppe versalzen, doch der 2:1 Siegtreffer durch Wolfgang Rolff ließ nicht nur zwei HSV-Fans auf einem Campingplatz in Palamos jubeln. Nach Borussia Mönchengladbach und dem FC Bayern München hatte es jetzt auch der Hamburger SV geschafft, den Meistertitel in der Bundesliga zu verteidigen. Auf dem Rückflug nach Hamburg flog der Kapitän der Chartermaschine auf Wunsch von Trainer Ernst Happel eine Ehrenrunde über dem Bremer Weserstadion, als Gruß an den Vizemeister. Fußball – die schönste Nebensache der Welt.
Schon vor der Niederlage gegen den HSV im letzten Saisonspiel stand fest, dass Schalke 04 in die Relegation gegen den Drittplazierten der 2. Liga gehen musste. Die ruhmreichen „Königsblauen“ blamierten sich mit einer 1:3-Niederlage und einem 1:1-Unentschieden gegen Bayer 05 Uerdingen und mussten sich zusammen mit zwei weiteren Traditionsclubs, dem Karlsruher SC und Hertha BSC Berlin in die Zweitklassigkeit verabschieden. Die Bundesligasaison 1982/ 83 hatte davon abgesehen äußerst kurios begonnen. Der FC Bayern München war mit der Leistung seines Torwarts Walter Junghans, mit dem er 1980 und 1981 immerhin Deutscher Meister geworden war, offensichtlich nicht mehr zufrieden und verpflichtete den belgischen Weltklasse-Torwart Jean-Marie Pfaff, der 1980 im Tor der Belgier beim Europameisterschafts-Endspiel gestanden hatte, als Horst Hrubesch mit seinen beiden Toren Deutschland zum Europameister machen konnte. Gleich im ersten Spiel der Saison musste der FC Bayern beim späteren Vizemeister Werder Bremen antreten. Kurz vor dem Halbzeitpfiff im Weserstadion hatte ein Münchener Abwehrspieler den Ball in der eigenen Hälfte über die Seitenauslinie befördert. Etwa 35 Meter vom eigenen Tor entfernt ist dies eigentlich keine bedrohliche Situation. In diesem Fall nahm sich Bremens Außenstürmer Uwe Reinders den Ball, um ihn kurz darauf in den Strafraum zu werfen. Der Bayern-Torwart unterschätzte die Flugrichtung und berührte den Ball nur knapp mit den Fingerspitzen, bevor er ins Tornetz segelte. Ein Einwurf hatte somit für den 1:0-Sieg der Bremer gegen Bayern München gesorgt und dieser Treffer hätte keine Anerkennung gefunden, wenn Jean-Marie Pfaff ihn nicht noch berührt hätte. Zur Ehrenrettung des belgischen Nationaltorwarts sei gesagt, dass er in der Folgezeit überragende Leistungen im Tor der Bayern zeigte.
Ein anderer Torwart trug in dieser Saison ebenfalls zu einem kuriosen Ereignis bei und auch dieses Torhüter-Missgeschick ereignete sich im Bremer Weserstadion. Es waren gerade drei Minuten gespielt in dem Bundesligaspiel zwischen Werder Bremen und Eintracht Frankfurt am 04. Dezember 1982, als Eintracht-Schlussmann Jürgen Pahl den Ball in den Händen hielt. Er sah seinen jungen Mitspieler Ralf Falkenmayer frei stehen und wollte ihm den Ball wie ein Diskuswerfer zuwerfen. Doch als der Torwart schon ausgeholt hatte, wendete sich Falkenmeier plötzlich ab. Pahl versuchte noch, die Wurfbewegung abzufangen und drehte sich, doch der Schwung war zu groß und der nasse Ball rutschte ihm aus der Hand. Ungläubig verfolgten seine Mannschaftskameraden die Szene und sahen, wie der Ball in den eigenen Kasten kullerte. Die 0:3-Niederlage der Eintracht gegen Werder Bremen war damit eingeleitet worden. Jürgen Pahl kommt ursprünglich aus Halle und gehörte Mitte der 70-er Jahre zu den hoffnungsvollen Nachwuchstalenten des DDR-Fußballs. Im Rahmen eines U-21-Länderspiels der DDR-Auswahl in der Türkei setzte er sich 1976 zusammen mit dem späteren Bayern-Profi Norbert Nachtweih ab. Nach 16-monatiger Sperre debütierte der damals 22-Jährige Torwart im Januar 1979 in der Bundesliga. In neun Jahren als Profi bei Eintracht Frankfurt brachte er es auf 152 Bundesligaeinsätze, wurde UEFA-Cup- und DFB-Pokalsieger. Das von Jürgen Pahl erzielte Eigentor war äußerst ungewöhnlich, kurios war aber auch, dass sein Flucht-Kumpan Norbert Nachtweih nur einen Tag später, beim 2:1-Sieg der Bayern gegen Schalke 04, ebenfalls ein Eigentor fabrizierte.
Auch Lutz Eigendorf war ein hoffnungsvolles Talent des DDR-Fußballs, war Stammspieler des Eliteklubs BFC Dynamo Berlin und hatte schon einige Spiele für die DDR-Auswahl bestritten, bevor er im März 1979 ein Freundschaftsspiel seines Vereins in Kaiserslautern nutzte, um sich in den Westen abzusetzen. Nach seiner Sperre spielte er 53 Mal für den 1. FC Kaiserslautern, bevor er zu Beginn der Saison 1982/ 83 zu Eintracht Braunschweig wechselte. Am 05. März 1983 verstarb Eigendorf, nachdem er mit der Fahrerseite seines Alfa Romeo gegen einen Baum geprallt war. Er hatte zwar 2,3 Promille im Blut, doch bis heute ist die Unfallursache nicht wirklich geklärt und hartnäckig hält sich der Verdacht, dass es sich um einen Racheakt gehandelt habe. Nicht nur die Witwe Josephine Eigendorf ist bis heute davon überzeugt, dass die Stasi für den Tod ihres Mannes verantwortlich war, weil er sich von Erich Mielkes Lieblingsclub und aus der DDR entfernt hatte. Fußball – die schönste Nebensache der Welt.
Meine neue Freundin war neun Jahre jünger als ich, doch sie hatte die gleiche Einstellung zu politischen, gesellschaftlichen und ethischen Fragen, wie ich und sie hatte schon in ihrem jugendlichen Alter den „Stern“ abonniert, die Zeitschrift, die auch ich seit Jahren regelmäßig gelesen habe. Im April 1983 wartete der „Stern“ mit einer sensationellen Nachricht auf. Es war kaum zu glauben, aber Tagebücher Adolf Hitlers waren aufgetaucht. Stern-Reporter Gerd Heidemann war über die Verbindung zu einem Industriellen schon im Januar 1980 in Kontakt zu Konrad Kujau gekommen, der behauptet hatte, im Besitz der Tagebücher Hitlers zu sein. Die Darstellung Kujaus, wie er die Aufzeichnungen des ehemaligen „Führers“ gefunden haben wollte, konnte Heidemann nachvollziehen und war anschließend davon überzeugt, dass er einem sensationellen Fund auf die Spur gekommen war. In der Chefredaktion des „Stern“ und bei einigen eingeschalteten Institutionen bestanden erhebliche Bedenken gegen die Echtheit der Tagebücher, doch es gab ein Gutachten aus der Schweiz, das belegte, dass es sich um keine Fälschungen gehandelt habe. So wurden die ersten beiden Tagebücher veröffentlicht und am 25. April 1983 kam es im Verlagshaus zu einer weltweit beachteten Pressekonferenz, an der zahlreiche Fernsehanstalten und hunderte Zeitungsreporter teilnahmen. In der bereits abgedruckten ersten Ausgabe der Tagebücher verkündete der Chefredakteur des „Stern“, dass große Teile der deutschen Geschichte neu geschrieben werden müssen. Soweit sollte es jedoch nicht kommen, denn bereits eine Woche später konnte das Bundeskriminalamt nachweisen, dass bei den „Hitler-Tagebüchern“ Materialien verwendet worden waren, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg hergestellt worden sind. Kujau und Heidemann standen im Jahr 1985 in Hamburg vor Gericht. Kujau wurde vom Landgericht wegen Betruges zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, nachdem er gestanden hatte, dass er selbst die 62 Bände der angeblichen Hitler-Tagebücher geschrieben habe. In Bezug auf Heidemann sah es das Landgericht als erwiesen an, dass dieser von dem Geld, das der „Stern“ für die Beschaffung der „Tagebücher“ zur Verfügung gestellt hatte, einen Betrag in Millionenhöhe nicht an Kujau weiter geleitet, sondern unterschlagen habe und verurteilte ihn zu vier Jahren und acht Monaten Haft.
Das „Auffinden der Hitler-Tagebücher“ hatte für weltweites Aufsehen gesorgt und eignete sich natürlich für eine Verfilmung. In der fünfteiligen TV-Komödie mit Uwe Ochsenknecht in der Rolle des Tagebuchfälschers, die 1992 im deutschen Fernsehen lief, wurden die Zusammenhänge in äußerst humorvoller Art und Weise aufgearbeitet. So witzig fanden die Verantwortlichen des „Stern“ die Blamage ihres Verlages allerdings nicht, nachdem bekannt geworden war, dass es sich bei den Tagebüchern doch um Fälschungen gehandelt hatte. Nachdem sich die Chefredaktion bei der Öffentlichkeit entschuldigt hatte, trat sie zurück und die Auflagen des „Stern“ gingen für einige Monate dramatisch zurück. Henri Nannen aber, Herausgeber der erfolgreichen Zeitschrift, übernahm die Verantwortung für die, wie er öffentlich hervorhob „Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht“ und zog sich gänzlich aus dem Verlag zurück. Anlässlich seines 70. Geburtstags am 25. Dezember 1983 schenkte der passionierte Kunstsammler seiner Heimatstadt Emden seine bedeutende Kunstsammlung im Rahmen einer Stiftung. Die Kunsthalle in Emden, die daraufhin erbaut und 1986 eingeweiht wurde, konnte mit dem Vermögen Nannens finanziert werden, das er hierfür zur Verfügung gestellt hatte.
1983 wurde Lech Walesa mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnet. Da er fürchtete nach dieser Ehrung nicht in sein Heimatland zurück kehren zu dürfen, nahm seine Ehefrau den Preis in Oslo entgegen. Das Preisgeld stiftete Walesa der von ihm gegründeten Gewerkschaft „Solidarnosc“, die zu jener Zeit ihr Hauptquartier im Brüsseler Exil hatte. Erst am Ende des Jahrzehnts sollte wirklich deutlich werden, welchen Wert sein mutiges Auftreten gegen das totalitäre Regime seines Landes im Jahr 1980 im Rahmen der Streiks und der Besetzung der Danziger Werft haben sollte.
Derweil gingen die Demonstrationen mit dem Protest gegen das Wettrüsten weiter. Die von der Friedensbewegung arrangierten Sternmärsche, Kundgebungen, Diskussionen und Lesungen, an denen sich zahlreiche Politiker, intellektuelle, die Kirche und große Teile der Bevölkerung beteiligten, fanden am 22. Oktober 1983 ihren Höhepunkt in einer bundesweiten Großdemonstration, an der weit über eine Millionen Menschen teilnahmen. Alleine bei der Kundgebung auf der Bonner Hofgartenwiese hatten sich Hunderttausende versammelt. Die Demonstranten hatten einen alten Spruch der „68er“ hervorgekramt und riefen: „Bürger, lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht Euch ein.“ Die Bürger reichten Schnittchen und Mineralwasser, viele liefen auch mit den Demonstranten mit. Die Stimmung war friedlich, von Haschwölkchen begleitet und irgendwie unwirklich. Auf dem Podium vor dem Universitäts-Gebäude trat ein alter Mann an das Rednerpult und ergriff das Wort, wobei er Wort für Wort aus seinem Manuskript ablas. Es war Altkanzler Willy Brandt, der kunstvoll die geplante Aufstellung von Atomraketen kritisierte, ohne dabei die NATO verbal anzugreifen. Er hatte seine Rede sorgsam vorbereitet, denn er wollte nichts Falsches sagen, die eigenen Leute nicht vor den Kopf stoßen, wohl wissend, dass seine eigene Partei unter Führung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, den NATO-Doppelbeschluss maßgeblich voran getrieben hatte. Die Friedensbewegung fand großen Anklang in der Bevölkerung und lieferte reichlich Diskussionsstoff, doch verhindern konnte sie es nicht, dass die NATO-Länder nach den gescheiterten Abrüstungsgesprächen in Genf und Wien geschlossen der Stationierung von neuen US-Mittelstreckenraketen auf europäischem Boden zustimmten. Mit der Mehrheit von CDU/ CSU und FDP stimmte der Deutsche Bundestag dem Beschluss am 22. November 1983 zu. Zahlreiche Abgeordnete der SPD und die gesamte Fraktion der Grünen verweigerten indes ihre Zustimmung, was natürlich keinen Einfluss auf die geplante Umsetzung hatte. Der Kalte Krieg hatte einen neuen Höhepunkt erreicht.
Mit Raketen hatte auch Ulf Merbold zu tun, allerdings mit keinen, die eine Bedrohung für die Bevölkerung auf der Erde darstellten, sondern mit solchen, die in den Himmel geschossen werden, um das Weltall näher zu erforschen. Der Stuttgarter war der erste deutsche Astronaut, der mit Amerikanern ins All fliegen durfte. 1983 war er mit an Bord der Raumfähre „Columbia“ und konnte in zehn Tagen zwanzig wissenschaftliche Experimente durchführen.
Im Schatten des sich zuspitzenden Ost-West-Konfliktes stand ein anderes Drama, das aber nicht weniger schlimm war. Das Nord-Südgefälle hatte zum Teil zu katastrophalen Lebensbedingungen in der Dritten Welt geführt. Einige Länder standen 1983 vor dem Bankrott und die bei der UNCTAD-Konferenz im Juli 1983 eingeleiteten Umschuldungs-aktionen stellten nur eine vorübergehende Hilfe dar. In zahlreichen Ländern der Dritten Welt entstanden neue Konflikte, die bereits bestehenden setzten sich unvermindert fort. Es gab blutige Rassenauseinandersetzungen in Sri Lanka, religiöse Kämpfe im nordindischen Assam, Militärputsche und Bürgerkriege sowohl in Obervolta, wie auch im Tschad. Die Bürgerproteste gegen das Marcos-Regime auf den Philippinen und gegen die Militärregierung in Chile wuchsen an und spitzten sich zu. Die direkte oder indirekte Einmischung der Großmächte, die sich durch militärisches Eingreifen oder Lieferungen von Technologie ihren Einfluss in wirtschaftlich oder strategisch wichtigen Staaten der Dritten Welt sichern wollten, führte zu keiner Verbesserung der jeweiligen Situation, sondern zur Verschärfung der Konflikte.
Ich habe es nie wirklich nachvollziehen können, dass eine so dümmliche Serie wie „Dallas“ einen solch großen Erfolg beim deutschen Fernsehpublikum haben konnte. Als dann im Jahr 1983 mit „Denver“ aber auch noch eine weitere Serie, mit noch geringerem Niveau – was eigentlich kaum denkbar erschien – von den Zuschauern ebenfalls begeistert gefeiert wurde, war ich einfach nur noch erschüttert. Derweil hatte die Aerobic-Welle aus den USA auch die Bundesrepublik erreicht. Die Filmstars Jane Fonda und Sydne Rome waren die Vorreiter dieser Bewegung, der insbesondere zahlreiche junge Frauen mit Begeisterung gefolgt sind. Eine neue Ära war eingeleitet worden, nämlich dass sich viele junge Frauen darauf besannen, ihren Körper fit zu halten, um damit auch positiven Einfluss auf ihre Figur zu nehmen. Bei den Männern, sofern sie sich nicht ohnehin schon sportlich betätigt hatten, war dieses Körperbewusstsein zu jener Zeit noch nicht in diesem Maße ausgeprägt. Bei ihnen wurde erst durch die Verbreitung der Fitness-Studios etliche Jahre später die Bereitschaft gefördert, aktiv etwas für den Körper zu tun. Ich hatte mit damals 30 Jahren weder Probleme mit dem Gewicht noch konditionelle Schwierigkeiten, obwohl ich den aktiven Sport mittlerweile beendet hatte. Ich war aber regelmäßig mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs. Die positive Wirkung dieser tagtäglichen und regelmäßigen Bewegung, ohne ständig die „Bequemlichkeit“ eines Autos in Anspruch zu nehmen, wird noch heute häufig unterschätzt.
Mit meinem Gewicht hatte ich aufgrund der ständigen Bewegung keine Probleme und auch sonst musste ich nicht über irgendwelche körperliche Gebrechen klagen. Stattdessen sollte im Frühjahr des Jahres 1983 eine bedeutende Weiche in meinem Berufsleben gestellt werden. Drei wichtige Positionen mussten in unserer Krankenkasse neu vergeben werden und ich gehörte zu den Kandidaten, die für die Vergabe einer dieser Stellen in Betracht kamen. Mein Chef, dem ich es letztlich zu verdanken hatte, dass ich vierzehn Jahre zuvor einen Lehrvertrag bei der Krankenkasse erhalten hatte, war ausgesprochener Nichtraucher, aber unheilbar an Lungenkrebs erkrankt. Er ließ es sich aber nicht nehmen, sich aus dem Krankenhaus heraus noch einmal in sein Büro fahren zu lassen, um die drei wichtigen Posten an seine Mitarbeiter zu vergeben. Da ich mit allen Abteilungsleitern gut befreundet war, wusste ich bereits, wie sich die Führungsspitze des Unternehmens hinsichtlich der Besetzung der zu vergebenden Stellen entschieden hatte, aber trotzdem war es ein äußerst beklemmendes Gefühl, dem todkranken Chef gegenüber zu sitzen, wohl wissend, dass es wahrscheinlich das letzte Mal sein würde. Er war als Geschäftsführer bei den meisten Kollegen nicht wirklich beliebt, bei vielen eher gefürchtet. Auch ich hatte Konfliktsituationen mit ihm zu überstehen, aber dies hielt sich im Vergleich zu älteren Kollegen in Grenzen, doch als ich ihm jetzt gegenüber saß, habe ich ihn irgendwie bewundert, denn eigentlich konnte es ihm doch gleichgültig sein, wer in Zukunft bestimmte Positionen im Unternehmen einnehmen würde. Jetzt sprach mein Chef nicht von seiner todbringenden Erkrankung, sondern erklärte mir die Wichtigkeit der Posten, die er in seiner letzten Amtshandlung vergeben wollte.
Zunächst fragte er mich, ob ich es mir vorstellen könne, in Zukunft die Position des Innenrevisors im Unternehmen zu übernehmen. Wohl wissend, dass für diesen Posten ein befreundeter Kollege vorgesehen war, gab ich zu verstehen, dass mir hierfür wohl noch die erforderliche Berufserfahrung fehle. Das sah auch mein Chef so, der daraufhin von mir wissen wollte, ob ich Interesse daran hätte, die neu etablierte Marketingabteilung zu leiten, obwohl er sicherlich davon ausgegangen war, dass ich auch dies verneinen würde. Dies war wirklich nicht mein Metier. Unabhängig davon war mir bekannt, dass für diesen Posten der Sohn des Geschäftsführers vorgesehen war, der seit geraumer Zeit in dem Unternehmen tätig war. So verkündete der Chef abschließend das, worauf ich die ganze Zeit gewartet hatte, nämlich dass er sich zusammen mit seinem Stellvertreter und allen Abteilungsleitern darauf verständigt hatte, dass ich zukünftig den Vertragsbereich der Krankenkasse leiten solle. Dieses Angebot nahm ich dankend an, denn dieser Posten reizte mich wirklich. Dies hatte zur Folge, dass ich es von diesem Zeitpunkt an mit Ärzten, Zahnärzten, Apothekern, Augenoptikern, Physiotherapeuten, Pflegediensten und anderen Vertragspartnern zu hatte. Meinen damaligen Chef habe ich bei diesem für mich so bedeutsamen Gespräch tatsächlich zum letzten Mal gesehen. Wenige Tage später ist er an den Folgen seiner schweren Errankung verstorben. Sein bisheriger Stellvertreter wurde Nachfolger auf dem Posten des Geschäftsführers. Er war einer der beiden Kollegen, mit denen ich 1977 zusammen in Amsterdam war, als der Hamburger SV den Europapokal der Pokalsieger gewonnen hatte. Es war seinerzeit sicherlich kein Nachteil für mich, mit dem Geschäftsführer befreundet zu sein, da ich aufgrund meiner Tätigkeit sehr häufig mit ihm Angelegenheiten aus dem Vertragsbereich zu besprechen hatte.