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3.1 Internationale Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg
ОглавлениеSo alt wie die Menschheit ist der Krieg – eben so alt ist der Traum vom Frieden in der Welt. Diesen Traum zu verwirklichen könnte nur gelingen, wenn
als minimaler Konsens Grundsätze einer universalen Friedensethik gültig wären
und zugleich oder wenigstens alternativ
Friedenssicherung auch „realpolitisch“ verlässlich durchgesetzt werden könnte
sei es durch eine dauerhaft übergeordnete imperiale Macht, sei es durch ein verbindliches Regelsystem, das alle potentiellen Friedensstörer zum Wohlverhalten verpflichtet.
Konzepte und Vorschläge zur Sicherung von Frieden in Antike und Mittelalter hatten wenig Erfolg: Die Militärbündnisse der griechischen Stadtstaaten und das römische Imperium suchten den Krieg mit Kriegsbereitschaft zu kontrollieren („si vis pacem para bellum“); das mittelalterliche Reich unter der Führung von Papst und/oder Kaiser sollte auch als Garant von Frieden zumindest innerhalb der Christenheit verstanden werden, war es aber selten.
Manche Ideen waren aber originell und wohl überlegt: Der Mönch Engelbert von Admont hatte im frühen 14. Jh. schon das Konzept eines ausgleichenden „Weltstaates“ mit einer Eintracht erzwingenden einheitlichen „Weltregierung“; auch der Dichter Dante Alighieri dachte zu dieser Zeit über eine Gerechtigkeit schaffende Weltmonarchie nach; 1462 entwarf der böhmische König Georg von Podiebrad einen recht konkreten und anspruchsvollen Staatenbundplan, wonach eine europäische Friedenskonferenz ein Schiedsgericht zur Streitschlichtung einrichten und mit einer gemeinsamen Armee Frieden schaffen sollte.
In der Neuzeit wurden differenziertere Optionen durchdacht, denn mit der Etablierung der Nationalstaaten als exklusive Träger der unteilbaren Souveränität im modernen Staatensystem – historisch am Ende des Dreißigjährigen Krieges im Vertragswerk des „Westfälischen Friedens“ von 1648 zu greifen (siehe 2.4) – mussten sich alle Überlegungen zu einer Friedensordnung am neuen Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten orientieren: Nicht mehr denkbar waren nun alle zentralisierten und hierarchischen Herrschaftsformen, die eigenständige Regelungskompetenz statt der und über den nationalstaatlichen Regierungen hätten, also kein Reich/Imperium/Weltstaat mit einer zentralen supra-nationalen Zentralinstanz/Weltregierung – wohl aber freiwillige Staaten-Bünde und zwischen–staatliche = inter–nationale Institutionen.
Die unterschiedlichsten Überlegungen und Vorschläge für eine Organisation der internationalen Gemeinschaft wurden angeboten von Praktikern wie dem französischen König Heinrich IV. oder dem Herzog von Sully, doch vor allem durch Gelehrte: Hugo Grotius, Eméric Crucé, William Penn, Charles Irénée Castel (Abbé de Saint-Pierre), Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Jeremy Bentham. Einige skizzierten schon recht konkret Struktur und Funktionsweise der späteren internationalen Organisationen, Castel entwickelte gar schon den Gedanken eines Rechtes auf Einmischung in die Souveränität; der Jurist Hugo Grotius klärte erstmals die Grundsätze des internationalen Rechts („De jure belli et pacis“/„Über das Kriegs- und Friedensrecht“, 1652); der Philosoph Immanuel Kant gab eine Argumentations-Vorlage zu den Möglichkeiten internationaler Organisation („Zum ewigen Frieden“, 1795), mit der heute noch gerne gearbeitet wird.
Intellektuell angeregt von diesen friedenstheoretischen Werken, religiös und idealistisch vom Friedenswunsch inspiriert, aber auch ökonomisch gegen die Kosten von Krieg motiviert, entstanden seit dem 19. Jh. in den USA und Großbritannien und später in ganz Europa die unterschiedlichsten Friedensgesellschaften.
Abrüstung, internationale Schiedsgerichtsbarkeit, Kodifizierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts u.v.m. wurden auf diversen internationalen Friedenskongressen diskutiert und propagiert. Als weltfremd und naiv geschmäht hatten die Friedensbewegten gegen den in den meisten Ländern nationalistischen und militaristischen Zeitgeist überraschend großen Erfolg bis in die Tagesordnungen der internationalen Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907; der Kampf gegen das Wettrüsten ging verloren, aber wenigstens humanitäre Regeln für die Kriegführung konnten durchgesetzt werden.
Noch älter als der Völkerbund von 1919 und viel älter als die UNO von 1945 sind einzelne funktionsspezifische internationale Organisationen. Die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung zwang schon im 19. Jahrhundert die sich rasch industrialisierenden Nationalstaaten zu internationaler Kooperation, damit Fortschritte auch organisatorisch umgesetzt werden konnten. Dazu gab es unterschiedliche Wege der Entwicklung und dann der Kooperation mit den jüngeren universalen Organisationen Völkerbund und Vereinte Nationen.
Das Wetter – selbst im klassischen Zeitalter der Nationalstaaten naturgemäß ein übernationales Phänomen – regte die Meteorologie schon 1873 an, die Leiter der einzelnen Wetterdienste in einer internationalen nichtstaatlichen Organisation zusammenarbeiten zu lassen, die erst gut sieben Jahrzehnte später zur einer zwischenstaatlichen „Sonderorganisation“ der UNO (siehe 5.3) wurde. Auch die altehrwürdige internationale Postorganisation von 1874 wurde ebenso erst nach fast gleich langer Zeit durch Kooperationsverträge als Regierungsorganisation eine Sonderorganisation der UNO. Dagegen kam der grenzüberfahrende Zugverkehr überraschenderweise lange ohne eine fachspezifische internationale Organisation aus, bis dann 1922 ein internationaler Verband der Bahnen und Unternehmen, nicht der Staaten, gegründet wurde, der nie eine formelle Bindung zum UN-System einging. Neben den klassischen frühen Organisationen gab es einige internationale Gruppen und Zusammenschlüsse, meist auf Initiative von Wissenschaftlern und technischen Experten, aus denen sich mit der Zeit formelle internationale Organisationen entwickeln konnten – so z.B. 1945 die Welternährungsorganisation FAO aus dem „Internationalen Landwirtschaftsinstitut“ von 1905.
Die frühen internationalen Organisationen erfüllten meist unpolitische Aufgaben der grenzüberschreitenden Abstimmung und Zusammenarbeit, indem sie die nationalen Verwaltungen koordinierten und die Einhaltung der Verpflichtungen ihrer Mitglieder überwachten – allein schon diese sachbezogene internationale Praxis konnte von politischer Bedeutung sein. Der Ständige Schiedsgerichtshof (Permanent Court of Arbitration) zur Beilegung internationaler Streitigkeiten (Den Haag) hätte eine Sonderstellung gehabt; er war von der ersten Haager Friedenskonferenz von 1899 geschaffen worden, wurde dann allerdings wenig genutzt. Erst die Erschütterung der europäischen Staatenwelt durch den Ersten Weltkrieg politisierte die internationale Kooperation.
Denn die Erfahrung des Ersten Weltkrieges als epochale Katastrophe machte die Idee der internationalen Friedensorganisation realistisch. Die USA hatten 1917 mit ihrer entscheidenden Beteiligung am Krieg die weltpolitische Führungsrolle übernommen, was die meisten Europäer erst viel später bemerkten; ein elementares Kriegsziel von Präsident Woodrow Wilson (als letzter seiner „14 Punkte“ 1918) war die Gründung eines Völkerbundes als „eine allgemeine Vereinigung der Nationen […] zum Zwecke gegenseitiger Garantieleistungen für die politische Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der großen wie der kleinen Staaten.“
Der Völkerbund (League of Nations) war die erste internationale Organisation mit universalem Anspruch: Möglichst alle Staaten sollten neben der Hauptaufgabe der Friedenswahrung auch tendenziell das ganze Spektrum internationaler Probleme bearbeiten. Er war ein wesentliches und konstruktives Element der Nachkriegsordnung von 1919, wie sie auf der Pariser Friedenskonferenz als Versailler Vertrag ausverhandelt wurde. Die neuartige internationale Staaten-Organisation hatte 42 Gründungsmitglieder; ihr Sitz wurde Genf.
Gemäß der sachlich logischen Grundstruktur internationaler Organisationen, die fast allen gemeinsam ist, waren die Organe des Völkerbundes:
eine Versammlung aller seiner Mitgliedstaaten als Diskussionsforum und Entscheidungsgremium, die aber nicht ständig tagt: die Bundesversammlung, die nie mehr als 57 Staaten gleichzeitig umfasste;
ein Exekutiv-Ausschuss, der ständig bzw. auf kurzfristige Einladung tagt, leistet die eigentliche politische Arbeit, weil er wegen seiner geringen Mitgliederzahl ein arbeitsfähiges Gremium ist: der Völkerbundrat mit 4-5 ständigen und 4-11 nicht-ständigen Mitgliedern;
zur Erledigung von Verwaltungsaufgaben und zur Koordination der Arbeit ein ständiges Sekretariat mit nur der internationalen Organisation verpflichteten Mitarbeitern unter Leitung eines Generalsekretärs;
verschiedenartige Nebenorgane für besondere Aufgaben (Ständige Mandatskommission, Abrüstungsausschuss);
ein Gerichtshof als Schiedsstelle für Streitigkeiten unter den Mitgliedern: der Ständige Internationale Gerichtshof (Den Haag), dem Völkerbund seit 1920 zugeordnet aber formal autonom.
Als wichtigste Aufgabe sollte der Völkerbund Frieden durch allgemeine Abrüstung gewährleisten. Durch den internationalen Vertrag der Völkerbundssatzung waren seine Mitglieder zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten verpflichtet, hatten aber auch die Pflicht zum gegenseitigen Beistand bei Verstössen dagegen, um Aggressoren abzuschrecken im Sinne des Konzepts der kollektiven Sicherheit (siehe 4 und 8.1); die gegenseitige Schutzverpflichtung sollte es den Staaten überhaupt erst möglich machen, das Risiko von Abrüstung einzugehen. Generell sollte die Organisation Konflikte im internationalen Verhalten mildern oder gar ausräumen.
Weil aber einige wichtige Staaten nie oder zeitweise nicht Mitglieder des Völkerbundes waren, wurden Universalität und damit politische Verbindlichkeit nie erreicht. Das besiegte und gedemütigte Deutschland wurde mühsam erst 1926 aufgenommen und trat mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1934 wieder aus. Russland, durch die Revolution von 1917 lange mit sich selbst beschäftigt, trat erst 1934 bei. Katastrophal aber war, dass sich in den USA ungeachtet des Engagements der Wilson-Regierung politisch wieder die isolationistische Doktrin durchsetzen konnte, sich nicht in Streitigkeiten europäischer Mächte hineinziehen zu lassen; 1920 lehnte der amerikanische Senat den Versailler Friedensvertrag und damit den Eintritt der USA in den Völkerbund ab. Somit standen als liberal verfasste Großmächte nur Großbritannien und Frankreich gegen die erstarkenden totalitären Kräfte in Europa.
Zu einer angemessenen Einschätzung der historischen Leistung des Völkerbundes sind angemessene Kriterien nötig; die ihm vorgegebenen Bedingungen und die ihm von den Staaten zugestandenen Rechte sind realistisch einzuschätzen, um nicht leichtfertig der gängigen Rede von seinem „Scheitern“ zu folgen – denn der Völkerbund hatte schlicht nicht das ausreichende Instrumentarium, um seine Aufgaben erfüllen zu können: Er hatte generell zu wenig Kompetenzen; er hatte keine eigenen Streitkräfte und auch nicht die Autorität, Aufgaben an Streitkräfte der Mitgliedstaaten zu delegieren; er hatte faktisch keinerlei Sanktionsmacht gegen Staaten, auch wenn sie massiv gegen die Völkerbundssatzung verstießen.
In dieser Satzung fehlte ein wichtiges Element, das in der Charta der UNO dann zu finden ist und gerne harsch kritisiert wird: Vorrechte für Großmächte. Weil diese institutionell keinen besonderen Einfluss hatten, konnte der Völkerbund als politische Organisation so wenig Druck auf seine Mitgliedstaaten aufbauen. Denn Beschlüsse konnten im Völkerbundsrat nur einstimmig gefällt werden, also nur mit Zustimmung aller (vier bis fünf) ständigen (Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Deutschland 1926-1933 bzw. UdSSR 1934-1939) wie aller (vier bis elf) nicht-ständigen Mitglieder; nur direkt an einem Konflikt beteiligte Parteien hatten bei Abstimmungen dazu kein Stimmrecht. Da zumindest alle Mitglieder des Völkerbundsrates gleichermaßen jeden Beschluss verhindern konnten, hatten die Großmächte nicht das Privileg, die Kooperation zu verweigern – und also wenig Anreiz zur Mitarbeit. Ohnehin waren die Kompetenzen des Völkerbundsrats gegenüber der Versammlung nicht klar abgegrenzt oder er gar vorrangig berechtigt.
Der Völkerbund konnte folglich zwar in kleineren Konflikten erfolgreich vermitteln, aber wenn interessierte Mitgliedsregierungen die Kooperation verweigerten wie 1931 Japan (Mandschurei) und 1936/37 Italien (Abessinien), war sein Mechanismus unzureichend. Dies diskreditierte ihn selbst; er stellte seine Arbeit mit dem Zweiten Weltkrieg praktisch ein und wurde im April 1946 formal aufgelöst. Immerhin war sein kurzer Auftritt der erste Versuch, durch eine Staaten-Organisation verlässlich und dauerhaft internationale Sicherheit zu schaffen. Bisher sollte das Gleichgewicht der Mächte mit bilateraler Geheimdiplomatie austariert werden, was oft genug misslang; nun wäre in multilateralen Verhandlungen das Prinzip der kollektiven Sicherheit durch gegenseitige Kooperation durchzusetzen gewesen, was im ersten Anlauf aber auch noch nicht gelang. Zu erinnern ist daran, dass zur Zeit des Völkerbundes Krieg noch als ein taugliches Instrument der internationalen Politik galt und auch völkerrechtlich durchaus legitim war – egal ob Verteidigungs- oder Angriffskrieg, sofern er nur formell erklärt war. Die Staaten waren durch die Völkerbunds-Satzung lediglich an ein relatives Kriegsverbot gebunden: Nach einem ihnen nicht genehmen Schiedsspruch durch den Internationalen Gerichtshof sollten sie nicht vor Ablauf einer Frist von drei Monaten einen Krieg beginnen.
Mit dem Vorwurf des „Scheiterns“ dem Völkerbund die Verantwortung dafür zuzuschieben, dass zu seiner Zeit Krieg nicht gebannt und verhindert werden konnte, ist irreführend, denn die Unfähigkeit zum Frieden war in Gesellschaft, Politik und Militär seiner Mitgliedstaaten zu finden: Wie jede internationale Organisation konnte auch der Völkerbund nur so erfolgreich sein wie seine Mitglieder es zuließen. Zumal seiner vorrangigen Aufgabe einer allgemeinen Abrüstung boten die Staaten keine Chance zur Verwirklichung. Dennoch war der Völkerbund als Vorläufer der heutigen UNO ein lehrreiches Moment der unendlichen Geschichte der Zivilisierung der internationalen Politik.
Literaturverweis zu 3.1.: Internationale Organisation vor dem Zweiten Weltkrieg
Müller 1996; Ostrower 1996; Pfeil 1976; Ter Meulen 1917/1929/1940; Traz 1935; Valentin 1920; Weber 1987