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1.1 Was ist „die UNO“?
ОглавлениеWas ist „die UNO“ – und was nicht? Erst einmal muss diese Frage geklärt werden.
Dabei helfen kann eine klassische Antwort auf die verwandte Frage: Wozu gibt es denn die Vereinten Nationen – in diesem Buch meist nur „UNO“ genannt – überhaupt?
This organization is created to prevent you from going to hell.
It isn’t created to take you to heaven.
Diese Organisation wurde geschaffen, um Euch davor zu bewahren, zur Hölle zu fahren.
Sie wurde nicht gemacht, um Euch in den Himmel zu bringen.
Henry Cabot Lodge Jr., amerikanischer Politiker und 1953-1960
Ständiger Vertreter der USA bei den Vereinten Nationen
Der Bezug auf Himmel und Hölle ist so abwegig nicht, wenn es um die Vereinten Nationen geht. Keine große politische Institution außer der katholischen Kirche wurde je mit so vielen Heilshoffnungen und Verwünschungen bedacht wie diese erste funktionierende „Weltorganisation“. Schon ihr erfolgloser Vorgänger, der Völkerbund, war an seinen realen Möglichkeiten und Machtmitteln gemessen völlig überfrachtet worden mit Erwartungen, die er von vornherein nicht erfüllen konnte.
Der Völkerbund war ein Produkt des Ersten Weltkrieges, die Vereinten Nationen sind im Zweiten Weltkrieg aus ihm heraus entstanden. Aus der verstörenden Erfahrung dieses Krieges wuchsen ihr früh als Garantin des Weltfriedens und Agentin des allgemeinen Fortschritts der Menschheit symbolpolitische Funktionen zu, die mehr zu einem Bittgottesdienst passen als zu einem kontrollierten Mechanismus zum Ausgleich nationaler Interessen oder zur zwischenstaatlichen Konfliktaustragung. Das mag zum einen in naiv idealistischer Friedenssehnsucht gründen oder zum andern scheinheilig zu frommen Ersatzhandlungen und zu zynischer Manipulation funktionalisiert worden sein – immer noch glauben viel mehr Menschen – auch Journalisten und Politiker – über die UNO als dass sie wissen.
Die gängigen Vorstellungen über „die UNO“ in der Öffentlichkeit schwanken zwischen
der vagen, aber zählebigen Idee oder kontra-faktischen Meinung, sie sei eine Art „Weltregierung“, und
der abgeklärt-skeptischen Einsicht, sie sei lediglich eine institutionalisierte „permanente Botschafterkonferenz“.
Oft werden überzogene Erwartungen an „die UNO“ zumindest implizit gehegt und gepflegt: Sie soll jedes irgendwie denkbare politische, soziale und kulturelle Problem erkennen, klären, aufgreifen und lösen. Weil das fast so oft nicht so recht funktioniert, erhebt sich leicht enttäuschte Pauschalkritik – und über das „Versagen der UNO“ wird in der Medien-Öffentlichkeit meist sehr undifferenziert und weit entfernt von der Materie schwadroniert und geleitartikelt; zum Beispiel
wird „der UNO“ gerne vorgeworfen, sie sei untätig, unfähig und ineffizient – und das auch von denselben Leuten, die ungeachtet möglichen besseren Wissens irreale Erwartungen geschürt haben;
ist häufig in den USA, aber auch bei uns der pauschale Vorwurf zu hören, „die UNO“ sei zu teuer und letztlich Verschwendung – dagegen hilft auch der Hinweis wenig, dass pro Kopf der Weltbevölkerung für das ganze UN-System jährlich weniger als 2 US-Dollar aufgewendet werden, für Rüstung aber weit über 150 US-Dollar;
beschwören meinungsstarke Gegner multilateraler Politik, wieder besonders in den USA, gerne die Gefahren, die von „der UNO“ als einer Weltverschwörung oder gar einer sich Allmacht anmaßenden „Weltregierung“ ausgingen;
versteht die bei uns gängigere weniger absurde Variante „die UNO“ als hoffnungsvolles Weltregierungs-Projekt, was aber als solches dann versagt und enttäuscht.
„Die UNO“ muss entmystifziert werden gemäß der banalen Einsicht, dass sie weder himmlisch noch höllisch, sondern einfach weltlich, d.h. politisch funktioniert. Man muss unterscheiden – und sich entscheiden – zwischen
der wohlfeilen Unart, ohne hemmende Rücksicht auf Sachverhalte über „die UNO“ zu reden, um Weltsichten und Projektionen auszudrücken, die mit der konkreten internationalen Organisation nichts oder nicht viel zu tun haben, und
dem anspruchsvollen Versuch, die UNO als komplexes Phänomen und vielschichtigen Prozess zu betrachten und zu verstehen.
Beispiele von Missverständnissen: „Die UNO“ als Welt-Instanz oder Sündenbock?
Süddeutsche Zeitung vom 13.09.1999, Leserbrief zur Kirchensteuer (Hervorhebungen R.W.):
„Diese Situation ist so, als gäbe es für einige Bürger nicht die Gleichheit vor dem Gesetz und als existiere nicht die Rechtsschutzpflicht des Staates. Diese ist unter anderem auch in der UN-Charta festgelegt und damit höher im Rang als die entsprechenden Kirchenartikel des Grundgesetzes.“
Ein Kämpfer gegen die Kirchenmacht ruft die Autorität der Charta der höheren Instanz UNO an.
Süddeutsche Zeitung vom 22.02.2018, Kommentar zum Syrien-Krieg:
Unter der Überschrift „Das brutale Versagen der Vereinten Nationen“ im Text: „Während Menschen von Bomben zerrissen werden, blockiert die Vetomacht Russland den UN-Sicherheitsrat. Doch die Weltgemeinschaft ist nicht so ohnmächtig wie sie tut.“
Das passt nicht zusammen: der Vorwurf des „brutalen Versagen“ und die Feststellung der Verweigerung einer „Vetomacht“, die ja gerade dadurch definiert ist, dass sie „die UNO“ blockieren kann; die angesprochene nicht ohnmächtige Handlungsalternative ist fiktiv.
Was also ist die UNO?
Die UNO ist historisch gesehen ein mühsam und nur dank vieler fragwürdiger Kompromisse ausgehandeltes Kriegsergebnis; die schlimmsten Massenmörder des 20. Jahrhunderts waren auf ihre Weise Paten der Vereinten Nationen: Hitler als Kriegsfeind ihrer Allianz, Stalin als Alliierter und Mitgründer.
Der politische Prozess der Ausarbeitung und Aushandlung der Charta der Vereinten Nationen
verarbeiteten die Erfahrungen mit dem machtlosen Völkerbund,
spiegelten die internationale Machtstruktur der Zeit des endenden Krieges und deren Widersprüche wider,
reagierten aber auch schon auf die sich herausbildende Machtkonstellation der Ost-West-Konfrontation („Kalter Krieg“).
Viele der heute auffälligen Eigentümlichkeiten der UNO werden aus widersprüchlichen Zwangslagen zur Zeit ihrer Gründung verständlicher, etwa das „Veto-Recht“ einiger wichtiger Staaten (siehe 3.2).
Die Struktur der modernen Staatenwelt seit dem 17. Jahrhundert produzierte weitere Zwänge wie den fundamentalen Widerspruch zwischen dem Prinzip der unantastbaren Souveränität des Staates und dem immer stärker gewordenen Anspruch auf ein Recht der „Staatengemeinschaft“ (oder gar der „Völkerfamilie“) auf Intervention in die politischen Verhältnisse eines Mitgliedstaates.
Von der Geschichte belehrt wird darzustellen sein,
dass es „die [eine] UNO“ nicht gibt, sondern allenfalls ein komplex differenziertes und vielschichtig verflochtenes, aber auch widersprüchliches „System“ der Vereinten Nationen auf der Grundlage der vielfach veralteten, aber auf ihre Weise gut funktionierenden Charta der Vereinten Nationen;
wer denn wer ist in dieser undurchsichtigen UNO und wer was zu sagen hat, also wer die in ihr und durch sie handelnden Akteure und welche die von ausschlaggebender Bedeutung sind – und wer allenfalls am Rande mitspielt oder lediglich als schmückendes Beiwerk dienen darf;
was die UNO im Gegensatz zu manchen landläufigen Meinungen nicht sein darf und nicht leisten kann;
als was sie jedoch analytisch zu konzipieren wie sie zu verstehen ist,
was daraufhin zu Recht und realistisch von ihr zu erwarten ist
und welche Arbeitsweise(n) und Methoden in der UNO konkret genutzt werden.
„Die UNO“ ist konkret vorhanden und aktiv immer nur jeweils als ein Gremium von Vertretern von Regierungen von Staaten – was nicht in jedem Fall gleichbedeutend ist mit Vertretern von Ländern und Völkern. Gegen zu blauäugigen Idealismus ist daran zu erinnern, dass in den meisten Mitgliedstaaten Politiker und Diplomaten nur erfolgreich Karriere machen, wenn sie persönliche Qualitäten wie Konfliktbereitschaft, Machtbewusstsein, Skrupellosigkeit oder gar Brutalität nutzen können – wieso sollten sie sich friedlich und hilfsbereit zeigen, nur weil sie für ihr Land in der UNO sitzen?
Ungeachtet der allgegenwärtigen „Globalisierung“ ist die UNO keine globale politische Institution, denn es gibt dafür keine tragende globale politische Struktur (eines Weltstaates?) oder gar eine globale Legitimation (durch eine Weltvolksversammlung?); aber die inter-gouvernementale UNO ist eine multilateral-universale Institution (siehe 2.2), da nun nahezu alle Staaten der Erde in ihr mitarbeiten.
Wenn die Charta der Vereinten Nationen nicht eine Verfassung eines Weltstaates, die Generalversammlung nicht ein Weltparlament, der Sicherheitsrat nicht eine Weltregierung oder der Generalsekretär nicht ein Weltpräsident ist, dann passiert in der UNO auch nicht eine Welt-Gesetzgebung: Keine weltverfassungsgebende Versammlung von Vertretern eines Weltvolkes, kein Weltparlament oder ein anderer legitimer Gesetzgeber sind irgendwo in Sicht, nicht einmal als virtuelles Netzwerk der Zivilgesellschaft zur Fundierung ihrer „global governance“. Weder „die UNO“ noch eines ihrer Organe hat die Legitimation für Legislativfunktionen; diese bleiben den (mehr oder weniger) legitimen Gesetzgebungs-Instanzen in den Mitgliedsländern vorbehalten.
Einer spezifischen Ausnahme könnte künftig größere Bedeutung zuwachsen: In bestimmten Situationen kann der UNO-Sicherheitsrat für die Regierungen aller Mitgliedstaaten rechtlich verbindliche Entscheidungen für den jeweiligen Einzelfall treffen; nach den Anschlägen vom 11.September 2001 hat er dies erstmals nicht nur auf einen Einzelfall beschränkt ausgeübt, sondern beansprucht, in einer Resolution abstrakte Normen als verbindlich zu formulieren (S/RES/1373 (2001)). Ob sich auf diese höchst indirekte Weise eine legitime globale Regelungskompetenz konstruieren lässt, ist stark zu bezweifeln – aber ein Ansatzpunkt scheint gegeben.
Sicherlich ist die UNO keine Ausgeburt des Weltgeistes mit ordnungsstiftendem Auftrag, aber wie wäre sie denn griffig zu charakterisieren? Sinnvoller als die Alternative Weltregierung versus Botschafterkonferenz ist eine Einordnung nach den möglichen Funktionen von internationalen Organisationen (vgl. 2.3); von der UNO wäre zu erwarten, dass sie
als politisches Instrument der Interessendurchsetzung von Hegemonialmächten dient,
das Gesprächs-Forum oder die Kampf-Arena für ein international-multilaterales Verhandlungssystem für die kooperative Bearbeitung globaler Probleme bietet,
als ein entstehender welt(bundes)staatlicher Akteur der Souveränität der alten Nationalstaaten immer engere Grenzen zu setzt, um sie letztlich aufzulösen.
Diese Leistungen sind sinnvollerweise als emergent aufeinander aufbauende Schichten, nicht als sich ausschließende Alternativen zu verstehen.
Die erste Möglichkeit ist unbefriedigend für Nicht-Supermächte, die dritte größtenteils schlechte Political-Science-Fiction; die interessante mittlere Schicht der Funktion des Verhandlungssystems kann noch differenziert werden: Internationale Organisationen
besorgen und bewerten Informationen und beobachten und analysieren Entwicklungen,
bündeln Einzelinteressen zu denen von Gruppen oder gar zum Gemeininteresse,
verschaffen schwächeren Akteuren mehr Einfluss und stärkeren mehr Legitimität,
organisieren Meinungsaustausch, Verhandlungen und Entscheidungen,
entwickeln Standards, Regeln und Normen und damit das Völkerrecht fort,
schaffen und mobilisieren Öffentlichkeit.