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Die Einstellungsmuster der hochsensiblen Persönlichkeit (HSP)
ОглавлениеIch will raus aus der Isolation!
Eine Dame ruft mich an. Ihre Stimme klingt zaghaft, sie räuspert sich einige Male, macht sich offensichtlich Mut zu sprechen.
„Spreche ich mit Herrn Reinhold Ruthe?“
„Ja, der ist am Apparat!“
„Nach schrecklich langem Hin und Her habe ich mich überwunden. Ich muss aus meiner Einsamkeit raus. Wissen Sie, ich fühle mich in meinem Leben wie eingesperrt. Können Sie mir helfen?“
„Ich hoffe. Wenn Sie mich besuchen und wir einen Termin finden, suchen wir beide nach einer Lösung.“
Zum vereinbarten Termin erscheint an der Tür eine schlanke, unruhig und hektisch wirkende junge Frau. Im Flur wandern ihre Augen nach allen Seiten. Im eiligen Rundumblick erfasst sie alles, den Teppich auf dem Boden und die Bilder an den Wänden.
Blitzartig erscheint auf ihrem Gesicht ein Lächeln:
„Sie malen ja auch, Herr Ruthe!“
Eine Antwort wartet sie nicht ab.
„Darf ich noch mal eben zur Toilette?“ Ich nicke.
Das Zeichen an der Toilettentür hat sie längst gesehen.
Ich warte im Wohnzimmer, und wir gehen gemeinsam in mein Arbeitszimmer.
Meine Hand weist ihr einen Stuhl zu.
Schwer atmend lässt sie sich in den Sessel fallen.
„Komisch“, sagt sie, „lange vor Mittag bin ich schon mit meinen Kräften an der Grenze.“
Die Augendeckel gehen ein paarmal auf und zu, dann wandern ihre Blicke wieder an den Wänden entlang. Die Stirn kraust sich. Sie versucht, Buchdeckel oder sogar Titel zu entziffern.
„Sie möchten über Ihre Einsamkeit sprechen“, beginne ich das Gespräch, „können Sie den Arbeitsauftrag für uns beide noch einmal formulieren?“
Sie reißt ihre Augen herum, blickt intensiv nach innen und denkt angestrengt nach. Dann schaut sie mich lange an.
„Einige Male habe ich schon eine Partnerbeziehung gehabt. Jedes Mal waren wir hochgradig verliebt, dann ging die Beziehung auseinander. Ich war häufig eingeschnappt, ich war beleidigt. In den Augen der Männer reagierte ich zu empfindlich. Ich sei eine viel zu sensible Seele, ich sei komisch, sagten sie mir.“
„Und wie schätzen Sie sich selbst ein?“
„Ja, ich bin kritisch, ich reagiere anders als die meisten anderen. Darum habe ich mich auch zurückgezogen.“
Sie atmet tief durch und richtet sich im Sessel auf.
„Viele sehen in mir eine Außenseiterin, und das macht mich unglücklich.“
„Wenn Sie auf einer Skala von 1 – 10 Ihre Sensibilität, Ihre Empfindlichkeit, Ihre Feinfühligkeit darstellen sollten, welche Zahl würden Sie wählen? Die 1 bedeutet eine äußerst geringe Sensibilität, die 10 die höchste Stufe.“
Sie gestikuliert mit ihren Händen, zieht eine sehr krause Stirn und blickt nach innen:
„Mir scheint, ich muss die 10 wählen. Meine Art fällt aus dem Rahmen. Das merke ich auch im Büro als Arzthelferin.“
„Was fällt Ihnen da in der Beziehung zu anderen auf?“
„Ich leide bei allen Patienten unendlich mit. Alle Probleme nehme ich mir zu Herzen. Ich sehe, wie die Krankheiten ihnen zu schaffen machen. Ich kann das nicht einfach abschütteln.“
„In welchem Alter haben Sie das entdeckt?“
„Schon in der Schule. Man hielt mich überall für schwierig. Viele sonderten sich ab, und ich war allein. Auf dem Schulhof stand ich abseits. Ich litt unendlich. Und ich sehe und fühle die bösen Gedanken der anderen. Seelisch sind die meisten stärker als ich. Ich kann nicht mithalten.“
„Sie sagen, Sie sehen, wie die Patienten in Ihrer Praxis leiden! Offensichtlich haben Sie ein feineres Empfindungsvermögen als andere. Ist das richtig?“
Die Dame nickt auffallend.
„Die Chefs, meine Ärzte, sagen oft, ich hätte einen 6. Sinn, um Dinge wahrzunehmen, die anderen schlicht entgehen. Leider kostet diese zusätzliche Wahrnehmung Energie. Das spüre ich abends, ich bin erschöpft. Ich kann nicht mehr rausgehen. Und diese Erschöpfung verstärkt wiederum meine Einsamkeit.“
Sie lässt ihre Arme auf die Armlehnen fallen.
„Manchmal habe ich den Eindruck, wenn ich mich mit den zwei anderen Mitarbeiterinnen vergleiche, dass mich alles tiefer trifft, mich alles mehr berührt, alles stärker belastet. Die schütteln alles ab, bei mir bleibt alles hängen.“
Ich mache mir ein paar Notizen.
Im Flur vor meinem Arbeitszimmer steht hinter einem Vorhang ein Kühlschrank.
Plötzlich macht er ein leichtes, aber auffallendes Geräusch. Die junge Dame zuckt wie elektrisiert zusammen. Ich habe das Geräusch nur am Rande wahrgenommen. Die junge Dame schüttelt mitgenommen ihren Kopf.
„Das ist mein Problem, alles trifft mich schwerer. Viele andere Menschen sind dickfelliger und robuster. Die gehen über vieles einfach hinweg. Mir gelingt das nicht.“
Ich unterbreche hier den Bericht und versuche, an diesem Beispiel deutlich zu machen, was Hochsensibilität beinhaltet.
Die junge Dame verkörpert
in ihrem Verhalten,
in ihren Empfindungen,
in ihrem Erleben,
in ihren Wahrnehmungen, dass sie eine Hochsensible ist.
Welche skizzierten Anzeichen sprechen für Hochsensibilität?
Einsamkeit. Sie fühlt sich von vielen Menschen nicht verstanden, zieht sich zurück, verliert den Anschluss;
Erschöpfung – sie kommt im Alltag schnell an ihre Leistungsgrenze, alle Arbeiten und Planungen strengen sie mehr an als andere Menschen;
Außenseiter – sie fällt im Zusammenleben aus dem Rahmen, weil sie mehr hört, mehr sieht, mehr fühlt und intensiver deutet als andere;
Geräuschempfindlichkeit – da oft alle Sinne des Hochsensiblen feinfühliger reagieren, ist Geräuschempfindlichkeit ein auffälliges Charaktersymptom;
Empfindlichkeit – sie reagiert auf alles im Leben empfindlicher, belasteter und gekränkter;
Unsicherheit – die überstarke Sensibilität für alle Eindrücke des Sehens, Fühlens, Hörens und Denkens macht diese Menschen unsicher.
Aufgrund ihrer spezifischen Situation kamen bei dieser Dame die negativen Aspekte der Hochsensibilität stärker zum Vorschein. Hochsensibilität hat selbstverständlich auch positive Seiten. Darauf komme ich später zu sprechen.
Seit wann sprechen wir von Hochsensibilität?
Eine der Ersten, die eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung über dieses Thema geschrieben hat, war die Amerikanerin Elaine N. Aron. Sie ist Psychologin und spricht von sich selbst als einer hochsensiblen Persönlichkeit. In ihrem Buch „Sind sie hochsensibel?“1 präsentiert sie die Ergebnisse ihrer jahrelangen Arbeit zum Thema Hochsensibilität als Wissenschaftlerin, Universitätsprofessorin und Romanschriftstellerin. Sie spricht kurz und knapp von HSP, von highly sensitive persons = von hochsensitiven oder hochsensiblen Personen. Die Gleichsetzung von sensitiv und sensibel ist nicht ganz korrekt und wird an anderer Stelle erörtert.
Viele Eigenschaften sind bei Hochsensiblen gleich oder ähnlich, und doch unterscheiden sich alle voneinander. Die Hochsensibilität gibt es nicht. Viele Hochsensible sind begabt und gewissenhaft, geraten aber in existenzielle Krisen. Selbstzweifel und Unsicherheit gehören zu ihrem Leben, aber auch ihre Gaben sind beachtlich. Wo beruflich
eine differenzierte Wahrnehmung,
eine besondere Einfühlung,
eine gute Beobachtungsgabe,
eine hilfreiche Intuition und Kreativität
erforderlich sind, finden diese Menschen Anerkennung. Nicht zufällig sind darum viele Dichter, Maler Künstler, Denker und Forscher hochsensible Menschen.
Ein weiteres Buch mit diesem brisanten Thema hat in Deutschland von sich reden gemacht. Es wurde von dem Ehepaar Christa und Dirk Lüling geschrieben. Die beiden sind Gründer und Leiter der Familienarbeit TEAM F, neues Leben für Familien e. V.2
Christa Lüling kennzeichnet sich selbst als hochsensibel. Da sie zahlreiche Schwierigkeiten im Zwischenmenschlichen erlebte, empfand sie sich als „überspannt“ und als „Versagerin“. Ein Vortrag des amerikanischen Predigers John Sandford mit dem Thema „Heilung für verwundete Lastenträger“ brachte ihr Hilfe und Einsicht. Ihr gingen „mehrere Lichter auf“: Sie merkte, dass sie eben hochsensibel und „ein ausgeprägter Lastenträger“ war. Ihrem Buch, das sie mit ihrem Gatten geschrieben hat, gab sie dann den Titel: „Lastentragen, die verkannte Gabe – Hochsensible Menschen als emotionale Lastenträger“. Das Ehepaar legt Wert darauf, von einer „speziellen Begabung“ zu sprechen.
Nach Meinung vieler Forscher wird übrigens auch bei Tieren das Phänomen der Hochsensibilität beobachtet. Die Prozentzahl gleicht der bei Menschen.
Zwei Bücher habe ich herausgegriffen. Selbstverständlich gibt es inzwischen mehrere Veröffentlichungen. Aber in Seelsorge und Beratung wird dieses Thema bis heute stiefmütterlich behandelt, zum Nachteil vieler Betroffener.
Zunahme von seelischen Störungen
Sensible und Hochsensible hat es immer geben. Während ich mit diesem Kapitel beschäftigt bin, lese ich zwischendurch die Tageszeitung. Einige Male in der Woche werden Leserfragen beantwortet, die nach der Herkunft von Sprichwörtern und Redewendungen fragen. Heute fragt ein Leser: „Woher stammt der Begriff ‚Die Flöhe husten hören’?“ Eine Redewendung, die punktgenau beschreibt, was Menschen mit Hochsensibilität umtreibt. Die Antwort der Redaktion: „Die Redewendung steht für frühzeitig informiert und sensibel für Neuigkeiten sein oder auch kleine Veränderungen wahrnehmen und Sachverhalte erahnen können. Spöttisch steht sie auch für eine Einbildung, die gar nicht existiert. Die Redensart ist seit dem 16. Jahrhundert belegt. Sie verwendet das Bild des überscharfen Gehörsinns.“3
Seit Jahrhunderten hat man gewusst:
Es gibt Menschen, die sensibel auf alles Neue reagieren,
die kleinste Veränderungen wahrnehmen,
die Sachverhalte erahnen,
die einen überscharfen Gehörsinn haben,
die spöttisch als Eingebildete kritisiert werden.
Eine weitere Redewendung drückt es ähnlich aus: „Sie hören das Gras wachsen.“ Immer hat es Menschen gegeben, die mehr gehört, mehr gesehen und mehr wahrgenommen haben.
Was erleben wir auf dem Gesundheits- und Krankheitssektor? Die Gesetzlichen Krankenversicherungen sprechen von einer Zunahme von seelischen Störungen seit 1990. Heute verbringen Menschen mit seelischen Störungen und Krankheiten mehr Tage in Kliniken als Herz-Kreislauf-Kranke. Durch gute Präventionsmaßnahmen – sportliches Training und bessere Ernährung – haben sich die Aufenthalte von Herz-Kreislauf-Kranken um 41 % verringert.
Die Zahl der seelisch Gestörten dagegen ist erheblich angestiegen.
Ein Grund: Für diese Menschen wird vorbeugend zu wenig getan. Ein zweiter Grund: Der soziale Wandel und die globalisierte Industriegesellschaft, die Hektik, Stress und Ängste fördern, belasten den Menschen zunehmend.
Sind diese Menschen zusätzlich hochsensibel,
fühlen sie sich leichter überfordert,
fühlen sie sich von Geräuschen und visuellen Eindrücken bombardiert,
erleben sie stärker als andere eine Überreizung und Übererregung.
Der Chefredakteur von „Psychologie heute“ schrieb in seinem Editorial,
dass von den Berufstätigen in Deutschland offenbar 63 % unfähig seien, sich richtig zu erholen,
dass nur jeder Zehnte wisse, was ihm wirklich guttäte,
dass es den meisten Deutschen schlecht gelänge, abzuschalten, runterzukommen oder auszuspannen,
dass Erschöpfung das Leitsymptom der Moderne sei,
dass auch die Freizeit zur Stressfalle würde.
„Was Erholung überhaupt bedeutet und wie sich etwa die überstimulierte Psyche am besten regeneriert, das muss neu durchdacht werden.“4
Viele Hochsensible gehören zu den „schnell Erschöpften“. Es sind die, deren Psyche „überstimuliert“ reagiert. Genau das ist der Ausdruck, der treffend widerspiegelt, was Hochsensible empfinden.
In anderen Kapiteln wird darüber nachgedacht, was besonders Hochsensible bedenken müssen, um sich zu schützen, sich zu entspannen und sich neu zu orientieren.
Was heißt Hochsensibilität?
Zunächst steckt in dem Begriff das Wort sensibel. Das französische Wort heißt sensible, das lateinische Wort sensus = Gefühl, Empfindung. In der Umgangssprache gleichbedeutend mit feinfühlig, empfindsam, reizempfindlich.
Das Wort sensibel hat bei vielen Menschen einen negativen Beigeschmack.
Es wird mit empfindlich, reizbar und nervenschwach in Verbindung gebracht.
Das Wort sensitiv meint alle Sinne. Und genau da liegt das Problem. Das Gehör, das Auge, der Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn sind bei Hochsensiblen nervlich stärker ausgeformt. Sie sind wacher und feiner, sie reagieren empfindsamer. Das Nervenkostüm dieser Menschen ist empfindsamer gestrickt.
Überall werden solche Menschen gesucht und gebraucht. Psychologen, Berater und Seelsorger müssen sensibel sein. Von Tänzern, Schauspielern, Fotografen und Designern ganz zu schweigen.
Hochsensibel meint, wenn wir die sprachlichen Unterschiede weglassen, der Mensch reagiert übersteigert, überempfindlich, überstimuliert.
Der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Dr. Samuel Pfeifer hat die positiven und die negativen Aspekte der Sensibilität gegenübergestellt.
Auch Hochsensibilität kann gute Eigenschaften beinhalten. Sie ist in erster Linie eine Gabe und ein Geschenk. Aber ein paar Schraubendrehungen weiter sind wir im negativen, im kritischen, im überempfindlichen Bereich.
Unterschiede zwischen sensiblen und empfindlichen Menschen5
Positive Aspekte:
feinfühlig,
intensives Empfinden,
tiefes Wahrnehmen und Erleben,
angesprochen von der Schönheit in Natur, Kunst, Musik und Dichtung,
intuitive Wahrnehmung,
wird berührt vom Leid anderer Menschen,
empfänglich für alles Übernatürliche.
Negative Aspekte:
überempfindlich,
verletzlich (vulnerabel),
liest und spürt zwischen den Zeilen,
denkt zu viel nach,
introvertiert und schüchtern,
ängstlich,
nicht belastbar, keine Reserven,
kommt schnell an seine Grenzen,
ihm kommt alles zu nah,
kann sich nicht wehren,
ist oft so überwältigt, dass er nichts sagen kann,
neigt zur Überreaktion,
rasch gereizt, verstimmt,
Gefühle schlagen ihm oft schnell auf den Magen.
Wenn Sie sich schon jetzt einen schnellen und groben Überblick über Ihre seelische Beschaffenheit, über Sensibilität und Hochsensibilität verschaffen wollen, streichen Sie in der obigen Auflistung bitte die Aussagen an, die Sie berühren. Geben Sie den Aussagen Noten.
Note 1 = wenig,
Note 2 = mittelmäßig,
Note 3 = stark.
Notieren Sie für sich Ihre Ergebnisse.