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KAPITEL 2 Die Überempfindlichkeit der Sinne

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„Meine Frau ist eine Geruchskünstlerin“ – ein weiteres Beispiel aus der Beratung

Ein Ehepaar kommt in die Beratung. Beide sind über vierzig und haben zwei Kinder. Ihre Wohnung ist zu klein geworden. Sie suchen eine neue. Die Eheleute haben Probleme in ihrer Ehe. Ich frage die beiden nach dem Arbeitsauftrag. Der Mann beugt sich vor. Man spürt, dass etwas in ihm brodelt.

Er platzt los: „Meine Frau ist eine Geruchskünstlerin. Sie riecht jede Kleinigkeit. Sie riecht auch dort etwas, wo kein Mensch sonst was riecht.“

Die Ehefrau rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

„Mein Mann hat nicht Unrecht. Mein Gehör und mein Geruchssinn reagieren empfindlicher als bei anderen Menschen. Leider ist das so. Ich kann doch nicht dafür!“

Er sagt: „Wir haben zwei Töchter, die jüngste ist wie meine Frau, auch eine Geruchskünstlerin. Wenn wir zu Freunden gehen, irgendwo essen, wenn wir im Gottesdienst sitzen … die beiden ziehen ihre Nasen kraus. Sie riechen die feinsten Düfte und philosophieren darüber.“

Ich frage: „Sie sagten eben, Frau Müller (Name ist geändert), dass Sie auch geräuschempfindlich seien.“

Der Mann geht dazwischen: „Auch darin stimmen meine Frau und die jüngste Tochter überein. Am liebsten hätte ich gesagt, sie hören das Gras wachsen. Kaffeetrinken auf dem Balkon ist eine Strafe. Wenn ein Kind schreit, Autos um die Ecke biegen oder im Nachbarhaus Streit ist, gehen sie ins Wohnzimmer, alles ist ihnen zu laut. Das schöne Beisammensein hat dann ein Ende. Manchmal ersticke ich, weil die Fenster fest geschlossen bleiben müssen.“

Der Mann stöhnt, die Frau seufzt: „Lärm ist wie eine Bedrohung für uns. Darum suchen wir auch eine neue Wohnung. Mein Nervenkostüm ist dem Krach in der Stadt nicht gewachsen.“

„Wir suchen eine neue Wohnung? Nein, wir strampeln uns ab, eine neue Wohnung zu finden. Zehn Wohnungen haben wir uns schon angeschaut …“

„Du übertreibst mal wieder“, unterbricht die Frau, „es waren bisher sechs Wohnungen. Alle zu laut, oder es stank dort wie die Pest.“

Der Mann spricht gereizt:

„Es riecht für sie nach tausend Dingen: in der einen nach Öl, in der anderen nach Schimmel, in der dritten nach unreiner Luft. Sagen Sie mir mal, ist das noch normal?”

Ich lasse zunächst alle Beratungsstrategien beiseite. Hier geht es um Menschen, die hochsensibel reagieren. Geruchs- und Gehörsinn sind überproportional entwickelt. Den einen fehlt das Verständnis, die anderen fühlen sich nicht verstanden. Beide Parteien machen sich das Leben schwer.

Gerüche und Lärm beeinträchtigen

Gerüche und Lärm sind mit Gefühlen verbunden. Der Hochsensible erlebt sie intensiver und beeinträchtigender. Seine Konzentration wird gestört. Er fühlt sich mitgerissen, fühlt sich irritiert. Partner, Freunde und Begleiter sind verstört, weil sie die Übererregung nicht verstehen. Kinder und Jugendliche haben oft gehört: „Reiß dich doch einfach mal zusammen!“

Genau das können sie nicht. Die Überempfindlichkeit lässt das nicht zu. Der „Filter“ im Gehirn, Düfte und Lärm abzuschirmen, funktioniert offensichtlich schwächer. Gesunde und sehr Empfindsame reagieren nicht selten mit Ekelgefühlen. Die einen müssen sich übergeben, andere laufen entsetzt davon.

Und gleichzeitig ist diese Feinempfindsamkeit eine Gabe. Sie hören mehr, und sie riechen mehr. Alle Düfte und Gerüche draußen und in Zimmern werden unangenehmer empfunden. Dazu gehören:

 Zigarettenrauch,

 Teer,

 Ausdünstung von Teppichen,

 Dämpfe aller Art,

 Malerarbeiten.

Auch Farben und Formen werden intensiver wahrgenommen. Viele sind mit einem ästhetischen Gefühl ausgestattet. Feinste Unterschiede werden registriert.

„Den kann ich nicht riechen!“

Wir kennen alle die Redensart: „Den kann ich nicht riechen!“ Die Abneigung oder auch die Anziehung geschieht tatsächlich (auch) über Gerüche. Seit Jahren beschäftigt die Forscher dieses Thema. Offensichtlich haben Gerüche eine erstaunliche Wirkung auf unsere Seele.

Der Philosoph Richard David Precht schreibt in seinem Buch über „Liebe“,

 dass Pheromone, sexuelle Duftstoffe, eine enorme Anziehung beinhalten,

 dass sie im Androstenon, einem Umbauprodukt des Testosteron, und zwar im männlichen Schweiß, enthalten sind,

 dass Frauen für diesen Lockstoff besonders empfänglich sind.1

Auch der Pädagoge und Journalist Peter Rettinger vom „Institut für Lebensgestaltung“ in Österreich schreibt, dass die emotionale Bindung an einen anderen Menschen durch ein Oxytocin-Spray gefördert werden kann. Oxytocin gilt in Fachkreisen als „Liebeshormon“, wird auch als „Kuschelhormon“ bezeichnet.2

Oxytocin gilt als chemisches Wundermittel und spielt besonders in Liebesbeziehungen eine große Rolle.

Ablehnung und Anziehung von Menschen haben offensichtlich auch mit wenig bekannten Düften und Gerüchen zu tun. Die Redensart ist seit langem bekannt:

„Ich kann dich gut riechen“ bzw. „ich kann dich nicht riechen“.

Belastbarkeit, Schmerzen und Weltschmerz

Das Reizreaktionsschema ist bei allen Menschen unterschiedlich. Der russische Physiologe Ivan Pawlow experimentierte um die Jahrhundertwende mit der Empfindsamkeit von Menschen. Ihm lag daran, diese zu messen. Er wollte wissen, wann Menschen bei Überstimulation dichtmachen und abschalten.

Die Versuchspersonen setzte er einem extremen Lärm aus. Schnell wurde deutlich, dass es sensible und weniger sensible, lärmempfindliche und lärmunempfindliche gibt. Etwa 15 – 20 % aller Versuchspersonen gaben wesentlich schneller auf als andere. Er nannte diesen Punkt der Aufgabe „transmarginale Hemmung“. Pawlow ging davon aus, dass diese Anlage vererbt wird.

In diesen 15 – 20 % sah Pawlow die Hochsensiblen.

 Belastbarkeit und Schmerzempfindlichkeit sind gesteigert,

 Schmerzen werden schneller empfunden,

 Schmerzen lösen übertriebene Reaktionen aus.

Das können

 Kopfschmerzen,

 Halsschmerzen,

 Bauchschmerzen,

 Ohren- oder Herzschmerzen sein.

Tränen fließen häufiger, überschießende Reaktionen gehören zum Verhalten.

Viele Hochsensible sind schnell traurig gestimmt. Eine Art Weltschmerz erfasst sie. Meine Erfahrung ist, dass die Betroffenen oft eine zusätzliche depressive Stimmung widerspiegeln. Sie denken negativ, grübeln und fühlen sich zusätzlich in ihren negativen Gedanken gestärkt,

 ich bin ein Außenseiter,

 ich werde abgelehnt,

 ich werde nicht verstanden,

 ich bin schiefgewickelt.

Diese Gefühle treten besonders bei Erschöpfungszuständen, bei Überforderung, bei Übermüdung und Überanstrengung auf. Alle diese Erregungszustände kommen bei Hochsensiblen schneller zum Tragen.

Die Hochsensiblen sind überstimuliert

Der Ausdruck beinhaltet:

 Überstimulation ist eine Art Reizüberflutung,

 Überstimulation ist Dystress, negativer Stress,

 Überstimulation führt zum Rückzugsverhalten,

 Überstimulation kann zu Aggressionen führen,

 Überstimulation kann Erröten, Herzklopfen und Schweißausbrüche auslösen,

 Überstimulation kann zur Zittrigkeit und Verwirrtheit beitragen,

 Überstimulation lässt die Leistungen sinken,

 Überstimulation kann das klare Denken beeinflussen,

 Überstimulation ist auch eine Reaktion auf Ungerechtigkeit.

Ungerechtigkeit ist ein Verhalten, das von Hochsensiblen nur schwer zu ertragen ist. Sie wollen gerecht leben und handeln. Wieder eine ehrenvolle Gabe. Handelt es sich um Christen, die vieles ernster nehmen als der Durchschnitt, leiden sie auch mehr, wenn andere ungerecht denken und handeln.

Weil sie alles sehr ernst nehmen, weil sie im Allgemeinen tiefer und differenzierter denken, fühlen sie sich abgewertet und in Frage gestellt.

Die Übererregung kann alle Sinne betreffen. Und der ganze Organismus kann die Spannung widerspiegeln. Ratsuchende und Betroffene sagen,

 dass die Pupillen sich erweitern,

 dass die Schultern sich verspannen,

 dass die Stimmlage sich erhöht,

 dass Angstzustände und Panikattacken eintreten,

 dass Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein sie befallen.

Hochsensible befinden sich in einem Umfeld, das ihre Bedürfnisse nicht ernst nimmt. Sie werden von Reizen verschiedenster Art überflutet. Sie brauchen viel Zeit, um sich zu entspannen, um wieder aufzutanken.

Die Gesundheit ist angegriffen

 Wie wirkt sich Hochsensibilität auf die Gesundheit aus?

 Wo liegen die Gefahrenstellen?

 Wie lauten die Gefahrensignale?

Offensichtlich ist der gesamte Organismus gefährdet, weil hochempfindliche Menschen von allen Einflüssen, die von innen und außen kommen, stärker stimuliert werden.

Der Hochsensible ist stressgefährdeter. Wir unterscheiden positiven und negativen Stress. Der positive Stress ist lebensnotwendig. Er stärkt unsere

 Vitalität und unsere Begeisterungsfähigkeit,

 unseren Optimismus und unsere guten Erwartungen,

 körperliche Ausdauer und unsere Beziehungen,

 unsere Arbeitsproduktivität und unsere Kreativität.

Der negative Stress

 ruft Müdigkeit und Reizbarkeit hervor,

 Konzentrationsschwierigkeiten und Depressionen,

 Pessimismus und Krankheitsanfälligkeit,

 Unfälle und mangelnde Kommunikation,

 geringere Produktivität und Kreativität.

Stress ist die Reaktion des Menschen, um sich auf innere und äußere Belastungen einzustellen und an sie anzupassen. Da sein Nervenkostüm – simpel ausgedrückt – empfindlicher strukturiert ist, reagiert er

 im Zwischenmenschlichen gestresster,

 leidet mehr unter Lärm,

 leidet mehr unter Verunreinigungen,

 leidet mehr unter Temperatur und Ernährung,

 leidet mehr unter Ängsten und Belastungen,

 leidet mehr unter Erwartungen und Vorstellungen.

Was sind die Folgen negativer Stressreaktionen? Erhöhung der Herzfrequenz und des Blutdrucks, verstärkte Atmung, Muskelspannung, langsamere Verdauung, Ausschüttung von Zucker- und Fettstoffen in die Blutbahn.

Volkskrankheit Allergien – Abgrenzung und Wechselwirkung mit Hochsensibilität

Bei einer Allergie handelt es sich um eine Überreaktion auf körperfremde Stoffe.

Sie muss sachlich von der Hochsensibilität unterschieden werden. Aber viele Allergiker sind hochsensibel. Das Zusammenspiel ist ernst zu nehmen.

Der Sensible ist anfälliger und äußeren Einflüssen stärker ausgeliefert.

Die Allergiebereitschaft hat zugenommen. Das menschliche Leben besteht aus Stoffwechsel, Bewegung und Fortpflanzung. Es ist so organisiert, dass auch Menschen, gleich einer Pflanze, einen Durchsetzungskampf führen müssen. Das heißt Auseinandersetzung mit der Umwelt. Wer ausweicht, schädigt sich. Wer wie die Hochsensiblen ständig in der Familie, mit Nachbarn, mit Chefs an seine Grenzen stößt, steht in der Gefahr, sein Immunsystem zu überlasten. Stress und Reizüberflutung in der Welt von heute sind auch für die Zunahme von Allergien verantwortlich.

Viele Medikamente mit entsprechenden Nebenwirkungen wirken sich bei Hochsensiblen fühlbarer aus. Überreaktionen auf körperfremde Stoffe finden sich häufig. Allergiker und Hochsensible haben oft vieles gemeinsam. Es ist hilfreich, sich folgende Fragen zu stellen:

 Gegen wen oder was bin ich allergisch?

 Leugne ich meine eigene Kraft?

 Habe ich Angst und kann sie nicht äußern?

 Sehe ich mich in erster Linie als Opfer und scheue den Aufwand, gegenzusteuern?

Sind Hochsensible Hypochonder?

Der Begriff Hypochonder stammt aus dem Griechischen und meint = ein Schwermütiger, ein eingebildeter Kranker.

Wir müssen genau unterscheiden. Der Hypochonder zeigt eine Störung,

 er beschäftigt sich übermäßig mit der Vorstellung, eine ernsthafte Krankheit zu haben,

 er unterliegt einer Fehlinterpretation seiner körperlichen Symptome,

 Laborbefunde haben in der Regel die Befürchtungen nicht bestätigt,

 der Betroffene kann nicht anerkennen, dass er sich irrt,

 befürchtete Krankheiten sind sein ständiges Gesprächsthema,

 der Betroffene ist in Beziehungen und in der Arbeit eingeschränkt.

Da viele Hochsensible mit Hypochondern verwechselt werden, ist diese Unterscheidung erforderlich. Der Hochsensible mag in den Augen der anderen übertreiben, aber ist in Wahrheit kein eingebildeter Kranker. Seine Empfindsamkeit ist real.

Hochsensibel - und trotzdem stark!

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